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Die Aussicht und die Phantasiereisen des Obstgärtners

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Während ich auf den Obstgärtner warte, vertreibe ich mir die Zeit mit häuslichen Dingen und decke den Kaffeetisch. Wer den langen Weg hier hinaufkommt, soll Kaffee haben.

Dann höre ich das Gattertor quietschen. Endlich, da kommt er.

»Was für ein herrlicher Frühlingstag! So einen schönen Vorsommer haben wir noch nie gehabt. Bei dem Wetter kann ich unmöglich daheim bleiben. Ich dachte, ich sehe mal nach, ob die Häuser den Winter überstanden haben.«

Jedes Mal dasselbe. Er macht immer Umwege, ist höflich und umständlich. Er überlässt anderen die Initiative, damit sie glauben, dass sie das Gespräch leiten. Aber in Wirklichkeit leitet er es mit seinen geschickten Fragen.

»Setz dich«, sage ich, »du musst dich ein wenig ausruhen, bevor wir zum Aussichtspunkt gehen. Helga hat mir gesagt, dass du Kreuzfahrtschiffe von oben betrachten willst.«

»Ja, warum nicht, wenn ich einmal hier oben bin?«

Nach dem Kaffee machen wir uns für den halbstündigen Weg zum Aussichtspunkt fertig.

»Schaffst du es noch? Nicht schlecht für einen Mann in deinem Alter.«

»Es geht nicht ganz so schnell wie früher, aber mit 95 darf man sich nicht beklagen.«

Der Obstgärtner bewegt sich leicht und sportlich. Er ist ungefähr einen Meter siebzig groß, geht auf die Vierzig zu und hat eine Halbglatze. Das macht sein Alter schwer bestimmbar, jugendliche und reife Züge vereinen sich in ein und demselben Mann. Wenn er gesund bleibt, sehe ich ihn mit siebzig noch genauso vor mir.

Wir sind angekommen. Volle Aussicht über den Hauptarm und zwei Seitenarme des Sognefjord.

»Was fasziniert dich so an Kreuzfahrtschiffen?«, frage ich. »Es sind doch bloß schwimmende Hotels für übersättigte Amerikaner und Westeuropäer, die ein bisschen Zeit totschlagen wollen, während sie auf den Tod warten.«

»So kann man es auch sehen.«

Er greift sich an den Kopf. »Dieser Kopf ist – wenn ich das so sagen darf – überdurchschnittlich gut ausgerüstet.« Dann hebt er die Hände und schaut sie an. »Und diese Hände stecken auf einem Obsthof in Sogn og Fjordane in der Erde fest. Was meinst du, wie oft ich mich schon fortgesehnt habe? Mein Leben ist reich genug, das kann ich nicht anders sagen. Ich habe eine wunderbare Tochter, versorge uns ausreichend und mache dabei noch anderen eine Freude, die keinen Obstgarten haben – aber wenn ich nur ein einziges Mal ein anderes Leben erfahren dürfte! Durch europäische Städte wandern. Rom, London, Paris ... Mit den Kreuzfahrtschiffen träume ich mich davon. Wenn ich die Passagiere durchs Fernglas betrachte, phantasiere ich: Der da ist emeritierter Archäologie-Professor in Mailand, der andere Kunstsammler in Paris, mit einem Laden direkt gegenüber von Notre Dame. Die mit den Halsketten hat sich in New York reich geheiratet, und die sportlich gekleidete Dame mit den Büchern unterm Arm ist Verlegerin in München und gibt dort wichtige Bücher heraus. Dann stelle ich mir vor, wie sie es zu Hause haben, was sie zum Frühstück essen und was sie in ihrer Freizeit tun. So leicht bin ich zu erfreuen! Ich reise in der Phantasie und überschreite geographische und soziale Grenzen.«

»Mein guter Gärtner, ich dachte du seist Sozialist? Da schickt es sich aber nicht, die Reichen zu bewundern.«

»Wer sagt denn, dass Sozialisten das Schöne und Gute nicht schätzen? Archäologie, Kunst, Schmuck und Bücher brauchen doch alle, egal in welchem Gesellschaftssystem?«

»Ich meinte den Luxus an Bord.«

»Sei nicht so streng. Die Passagiere da unten sind auch nur einfache, kleine Menschen, vielleicht brauchen sie ein bisschen Luxus. Vielleicht hat die deutsche Verlagsfrau letztes Jahr auf ihren Urlaub verzichtet, um sich die Kreuzfahrt leisten zu können?«

Es fasziniert und ärgert mich gleichzeitig, wie souverän er sich in Haltungen und Lebensweisen hineinversetzt, die er selbst nicht vertritt. Seine Harmonisierung von Gegensätzen provoziert mich.

»Ja, aber was treibt Menschen in ihren besten Arbeitsjahren zu einer mehrwöchigen Seereise? Reicht ihnen die Arbeit nicht aus, um dem Leben einen Sinn zu geben?«

»Je nach Geldbeutel dürfen die Leute mit ihrer Freizeit tun, was sie wollen. Was hast du früher in den Ferien gemacht?«

»Ich hatte nie Ferien! Ferien waren ein Fremdwort für alle, die dem Deutschen Reich dienten. Ferien sind etwas für Arbeiter und andere, die nur fort von ihrer Arbeit wollen! Und gereist bin ich im Staatsdienst so viel, dass ich nur meine Ruhe will. Hier oben in Hylla hole ich alle Ferien nach, die ich nicht hatte.«

»Hört sich an, als hättest du einem strengen Herren gedient.«

Dass muss man ihm lassen, dem Obstgärtner, er hält höflichen Abstand. Anstatt mit der Tür ins Haus zu fallen, schweigt er und hebt das Fernglas vor die Augen. Er stützt es auf einen Ast, damit ich es ruhig halten kann, und überlässt es mir. Mein Blick fängt die gesamte Traumgalerie des Obstgärtners ein: den Professor, den Kunstsammler, die reich verheiratete Frau und die fleißige Verlegerin. Bald wurden die Menschen an Bord zu kleinen Punkten. Auf einem der Fjordarme näherte sich ein neues Kreuzfahrtschiff, diesmal ein britisches.

Wie setzen uns auf zwei Steine und schauen über den Fjord.

»Du hast den Luxus an Bord erwähnt. Ihr Deutschen habt als Erste aus teuren Kreuzfahrten Ferien fürs Volk gemacht – allerdings mit fragwürdigem Beigeschmack. Ich meine die ›Kraft durch Freude‹-Reisen der Nazis, als Hitlers treue Wähler hier in den Fjorden auf Deck tanzten.«

»Ja, diese Geschichte finde ich nur peinlich. Das war nicht mein Staat, der diese Reisen organisiert hat, es waren Reisen vom Pöbel für den Pöbel. Während sie hier auf Deck tanzten, verrotteten Juden und Kommunisten, bürgerliche und adlige Oppositionelle in den Konzentrationslagern.«

»Lass mich eine Geschichte von meinem Vater erzählen. Er liebte es genauso, die Schiffe von hier oben zu betrachten, wahrscheinlich habe ich es von ihm. Eines Tages, im Spätsommer 1939, kam er ganz aufgeregt von Hylla zurück. Sonst war er immer gut gelaunt, wenn er von dort kam, und erzählte uns Geschichten über die Leute und Schiffe, die er durchs Fernglas gesehen hatte. Diesmal hatte er ein KdF-Schiff im Visier gehabt. Es war die ›Wilhelm Gustloff‹, das Juwel der Kreuzfahrtflotte. Sie glitt langsam in den Fjord, die Passagiere standen mit Ferngläsern und Fotoapparaten an Deck, ein paar Paare tanzten. Der Wind stand so günstig, dass er Gelächter und Musik hören konnte. Plötzlich ging der Alarm los. ›Achtung! Achtung!‹ Die Musik hörte auf, alle liefen ratlos umher. Das Schiff drehte landeinwärts nach Steuerbord ab und begann einen Wendebogen. Als es die Fahrrinne wieder erreicht hatte, blieb es eine Weile liegen, als müsse es nachdenken, dann wurden die Maschinen auf volle Fahrt gestellt und es fuhr dorthin zurück, wo es hergekommen war. Sie waren umgekehrt! Mein Vater war gut informiert, wir hatten Zeitungen und Radio, er wusste von der Entwicklung in Deutschland und der polnischen Krise. Aber er war auch ein Mystiker, fast als hätte er prophetische Fähigkeiten. ›Jetzt gibt es Krieg‹, sagte er. Ich erinnere mich genau an seine Worte: ›Wenn Kreuzfahrtschiffe der Großmächte umkehren, ist Gefahr im Verzug.‹ Die Leute im Fährort respektierten ihn als Obstbauern, aber nicht als Propheten. ›Krieg?‹, sagten sie und lachten. ›Im letzten Augenblick wird es Verhandlungen geben, genau wie bei der Tschechoslowakei, und dann können wir normal weiterleben. Die Gustloff hat bestimmt nur einen Motorschaden und muss runter nach Haugesund zur Reparatur, dann kommt sie wieder.‹ Aber mein Vater behielt recht. Sechs Tage später brach der Krieg aus.«

Manchmal ist er seltsam, der Obstgärtner. Mitten im Gespräch hört er auf, packt das Fernglas ein und sagt: »Ja, jetzt muss ich nach Hause.«

Doch jetzt bin ich es, der ihn nicht loslassen will. Die schlafenden Hunde sind geweckt: Wenn Kreuzfahrtschiffe der Großmächte umkehren, ist Gefahr im Verzug. Wenn er wüsste, wie recht er hat. Ich habe es ja selbst erlebt, 1914! Jetzt, wo ich die Hunde nicht mehr beruhigen kann, kann ich genauso gut reden und ihn in einen Teil meines Lebens einweihen.

»Ja, aber es ist noch lange hell«, sage ich. »Wenn wir wieder in Hylla sind, musst du dich kurz ausruhen. Ich habe noch eine Flasche Obstwein vom letzten Jahr.«

Wir gehen den steilen Pfad hinab. Ich stütze mich auf den Stock, mein Hauswirt springt geschmeidig wie ein Luchs. Auf halbem Weg verschnaufen wir auf einem der flachen Felsen, die man hier »Sitzsteine« nennt.

»Sag, mein Vater hat einmal erwähnt, dass du selbst als eine Art Kreuzfahrttourist hierher kamst ...?«

Er weiß also mehr, als er zugibt. Aber es gibt keinen Grund, es zu verheimlichen, ich habe nichts getan.

»Das kann man wohl sagen. Aber es war nicht ganz dasselbe. Sagt dir der Name ›Hohenzollern‹ etwas?«

»Das Geschlecht der deutschen Kaiserfamilie – und das Lustschiff, mit dem er hier in den Fjorden herumfuhr.«

»Ja, das stimmt. Kaiser Wilhelm aus dem Geschlecht der Hohenzollern kam mit der Yacht ›Hohenzollern‹, und ich war dabei.«

»Was hast du hier gemacht?«

»Ich war Gast an Bord. War kaum trocken hinter den Ohren und trotzdem Gast beim mächtigsten Mann der Welt.«

»Wie bist du dort gelandet?«

»Das monarchische Prinzip«, sage ich und lache. »Paradoxerweise aufgrund der willkürlichen Machtausübung des Kaisers. Der Sonnenkönig hatte eine Idee. Mein Onkel war Kaufmann in Christiania, er exportierte Holz und importierte Maschinen. Auf einem Empfang in Berlin kam er mit dem Kaiser ins Gespräch. Als der Kaiser hörte, dass er in Christiania wohnte, nahm er meinen Onkel zur Seite. Liebe macht blind, und der Kaiser war in Norwegen verliebt. Er wollte unbedingt mit meinem Onkel über die Verhältnisse dort oben reden. Nicht über Politik. Von der skandinavischen Krise oder den ungezogenen Norwegern, die aus der Doppelmonarchie mit Schweden ausbrechen wollten, wollte er nichts hören. Nein, er wollte über das Licht reden, über den Himmel und die Farben! Stimmte es, dass man dort oben nachts ohne Brille lesen konnte? Dass der Himmel viel blauer als hier unten war? Und Blauwale – diese herrlichen Tiere. Ob mein Onkel wohl eine Waljagd arrangieren könne? Und das Nordlicht! Erzählen Sie!

Damals plante der Kaiser seine erste Sommerreise nach Norwegen. Mein Onkel erwähnte nebenbei, dass er einen Neffen im Heer hatte, einen jungen Mann, der sein Leben mit aller Kraft Deutschland und dem Kaiser widmen wollte. ›Gut!‹, sagte der Kaiser, ›aber der Junge braucht Seeluft! Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser. Schicken Sie ihn mit nach Norwegen!‹

So landete ich an Bord der ›Hohenzollern‹. Was für ein Privileg! Stell dir vor, ein Junge, der mit dem Kaiser reisen darf!«

»Ich rieche einen fetten Braten«, sagt der Gärtner. »Bis jetzt habe ich mich nie gefragt, warum die Leute dich den ›Adjutanten‹ nennen. Hattest du persönlichen Kontakt zum Kaiser?«

»Kontakt, ja, aber keine Macht. Ich war ja bloß ein Junge. Aber viele Mächtige konnten nur davon träumen, dem Kaiser so nahe zu kommen wie ich. Wenn wir unten sind, zeige ich dir etwas.«

In Hylla gehe ich zu dem Regal, in dem meine Tagebücher stehen. »Hier ist die Quellensammlung«, sage ich, zeige auf die Reihen von Kladden und ziehe eine heraus. Auf dem Rücken steht in zierlicher Schrift: 1889. Ich lese laut auf Deutsch:

»Hohenzollern«, ultimo Juni / primo Juli 1889

Sonntag 30. Juni

Seine Majestät der Kaiser fährt von Potsdam nach Spandau.

Um 23.45 Uhr bricht das Gefolge Richtung Kiel auf.

Montag 1. Juli

1 8.00 Ankunft in Kiel.

2 10.45 Die »Hohenzollern« wird beladen.

3 12.00 Regatta.

4 17.00 Abreise von Kiel.

Dienstag 2. Juli

Um 6 Uhr morgens passieren wir Kopenhagen.

Weiterfahrt durch Kattegat und Skagerrak.

Mittwoch 3. Juli

Die norwegische Küste kommt in Sicht.

Abendessen in Stavanger.

Abends Einfahrt in den Hardangerfjord.

Der Kaiser promeniert an Deck und grüßt mich!

»Hast du ihn kennengelernt? Wie war er? War er wirklich verrückt, oder hat das bloß die Nachwelt erfunden?«

Diesmal ziehe ich mich zurück. Es reicht für heute, also sage ich: »Verrückt im eigentlichen Sinne war er wohl nicht. Aber ziemlich exzentrisch, sogar für einen Adligen. Er war schließlich Kaiser. Viele sind aus wesentlich geringerem Anlass größenwahnsinnig geworden. Aber wenn man die Lebensweise des Adels generell als Wahnsinn betrachtet, dann war er der Verrückteste unter seinesgleichen.«

»Einen ganz fetten Braten«, wiederholte der Obstgärtner.

Kaiser Wilhelms Lustyacht »Hohenzollern«

Drei Generationen Schiffe haben den Namen »Hohenzollern« getragen. S.M.Y. »Hohenzollern« (I) war die Staatsyacht des Kaisers und wurde auf den ersten fünf Nordlandreisen benutzt. 1876–1878 in Kiel gebaut, 1892 umgetauft in »Kaiseradler« und 1912 abgewrackt. Das Schiff galt als veraltet. S.M.Y. »Hohenzollern« (II) wurde 1892 nach dem Geschmack und den Bedürfnissen des Kaisers gebaut. S.M.Y. »Hohenzollern« (III), 1914 in Stettin gebaut, wurde aufgrund des Krieges nie in Gebrauch genommen.

S.M.Y. »Hohenzollern« (II)

Gebaut 1891 in Stettin.

Länge: 120 m, Breite: 14 m.

Motorenleistung: 9000 PS, verteilt auf zwei große Dreifachexpansions-Dampfmaschinen.

Brennstoffvorrat: 500 Tonnen Kohle.

Besatzung: 350 Matrosen und Marineoffiziere. Bedingungen: Gutes Aussehen, Umgänglichkeit, Beherrschung mindestens eines Instrumentes, um ein eigenes Sinfonieorchester, Blasmusik und ein Tanzorchester zu gewährleisten.

Kapazität: ausgerüstet für die Unterbringung und Bewirtung von 80 Gästen.

Kaiser Wilhelms 25 Nordlandreisen

Von 1889 bis 1914 bereiste der Kaiser in 25 Sommern die norwegischen Fjorde. Er nannte diese Fahrten »Nordlandreisen«. Es waren immer ca. 80 Gäste an Bord, ca. 40 »Ästheten« und 40 Militärs. Die »Ästheten« waren Wissenschaftler, Künstler und Ärzte. Alle Gäste trugen dunkelblaue Matrosenanzüge. Keine Frauen an Bord.

Tagesrhythmus auf den Nordlandreisen

8.00 Uhr Hissen der Flagge mit Blasmusik.

Nach dem Hissen Turnen an Deck.

Frühstück, das oft zwei Stunden dauerte.

Nach dem Frühstück promenierte der Kaiser mit seinen engsten Ratgebern auf Deck.

Jeden Sonntag um 10.00 Uhr hielt der Kaiser evangelisch-lutherischen Gottesdienst, las selbst die Texte und schloss mit dem Vaterunser und dem Segen ab.

Der Adjutant

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