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Königsberg, Oktober 1888

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»Lass die Jacke an«, sagte Mutter und führte mich in die kalte Halle. Die Halle war nicht geheizt, wir benutzten sie nur zu Empfängen, an Weihnachten und runden Geburtstagen. Mutter und Vater verschwendeten kein Feuerholz. Ich hatte eine leise Ahnung, was mich erwartete, denn ich hatte aus sicherem Abstand miterlebt, wie Mutter meine drei älteren Geschwister zur Seite genommen hatte, als sie hinaus in die Welt sollten. Jetzt war ich an der Reihe: Ich sollte hinaus in die Welt.

Indem sie mich in die kalte Halle führte, sagte sie indirekt: »Jetzt, mein lieber Sohn, betrittst du ein anderes Zimmer in deinem Leben. Du nimmst Abschied von der Sicherheit und Wärme und trittst in einen größeren Raum ein, wo du auch Kälte erleben wirst, deshalb musst du dich warm anziehen. Gleichzeitig bist du nie allein, die Blicke deiner Eltern weilen auf dir, als Ansporn und Ermahnung.«

Mutter wickelte den Schal um den Hals, ich schlug die Jacke enger um den Oberkörper. Die Wärme war aus den Wänden verschwunden. Wir suchten eine Stelle, wo das Sonnenlicht in den Raum fiel und uns etwas wärmte.

»Vater und ich glauben, dass Gott für jeden von euch einen Plan hat, der euren Fähigkeiten entspricht. Jetzt bist du an der Reihe, in die Welt hinauszugehen und Gottes Plan zu verwirklichen. Als Christen haben wir Verantwortung für die Welt. Denk an Jesu Gleichnis von den anvertrauten Talenten: Der Herr gab seinen Dienern Talente zur Verwaltung, jedem nach seinen Fähigkeiten. ›Wer über wenigem getreu ist, wird über viel gesetzt werden.‹

Du bist jung und wirst vielen Versuchungen begegnen. Nicht nur Versuchungen des Fleisches, sondern auch der Macht und Habgier. Halte deinen Weg rein! Luther und Melanchthon haben uns den Weg zum wahren christlichen Lebenswandel gezeigt. Selbst wenn alle um dich herum ein leichtlebiges Dasein führen, als sei es das einzig normale, so gilt dies nicht für uns. Wir haben unsere eigenen Maßstäbe.«

Sie nickte beiläufig zu der Porträtreihe an der Wand. »Wir«, das waren unsere Ahnen. Pastoren und Offiziere auf der väterlichen Seite, Kaufleute auf der mütterlichen Seite. Pastoren, Offiziere und Kaufleute rund um die ganze Halle. Pflicht, Aufopferung, Verantwortung.

Mutter machte eine Pause, damit ich mir ihre Worte einprägen konnte. Dann schwenkte sie von meinem Leben auf das Leben des Staates um.

»Unsere Lebenshaltung besagt, dass ich, selbst wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, heute in den Garten gehen und einen Apfelbaum pflanzen würde. Wir evangelischlutherischen Christen lassen uns nie durch das Böse überraschen, wir erkennen nüchtern, dass wir von Todeskräften umgeben sind. Gleichzeitig sagt uns der Glaube an Christus, dass das Leben weitergeht, dass wir niemals aufgeben und uns nie vom Bösen brechen lassen sollen. Darin teilen wir Sisyphos’ Schicksal.«

Ich war nicht sicher, worauf sie hinauswollte, wusste aber, dass sie irgendetwas begründen wollte.

»Luther hat den guten Fürsten zum Oberhaupt unserer Kirche gemacht. Selbst der gute Fürst hat die Pflicht, das Schwert zu erheben, um unsere gefallene Natur zu züchtigen, damit wir in Ordnung und Frieden miteinander leben können. Unsere Familie hat das Schwert nie zum Spaß erhoben. Krieg ist uns als letztes Mittel gegeben, um noch größeres Unrecht zu verhindern. Der Fürst, der das Schwert nicht mit Verantwortung vor dem dreieinigen Gott führt, hat keinen Anspruch auf unsere Treue.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Mein lieber Sohn, du bist alt genug, um klare Worte zu hören. Weder dein Vater noch ich freuen sich besonders über die politische Entwicklung im Kaiserreich. Unser Hoffnungskaiser, Friedrich, starb, wie du weißt, nach nur drei Monaten auf dem Thron. Die Krankheit hatte ihn zerstört, lange bevor er an die Macht kam. Mit ihm und Königin Victoria hätten wir eine frische Brise englischen Liberalismus ins Kaiserreich bekommen können. Aber was kann ein kranker Mann in drei Monaten ausrichten? Sein Sohn Wilhelm ist nicht unsere Wahl. Hier in Königsberg haben wir eine lange aufklärerische Tradition. Sowohl dein Vater als auch ich haben offen die Vorteile einer Republik wie in Frankreich oder einer konstitutionellen Monarchie mit Gewaltenteilung wie in Skandinavien diskutiert. Da kommen keine Lackaffen auf den Thron. Wir können nur hoffen, dass der Herr demjenigen, dem er ein Amt gibt, auch ein wenig Verstand mitgibt.

Aber wir leben nicht von frommen Wünschen. Wir glauben, dass Gott mit jedem von euch Kindern einen Plan hat. Die drei ältesten haben schon gelernt, ihre Talente zum Nutzen ihrer Nächsten einzusetzen. Jetzt bist du an der Reihe. Wir glauben, dass du Führungskraft besitzt. Du bist ein kluger Kopf und kannst gut mit Menschen umgehen. Du konntest immer am besten Streit zwischen euch Geschwistern schlichten. Die Macht ist uns von Gott gegeben. Die Macht, die nicht von Gott gegeben ist, ist Machtmissbrauch. Durch dich können wir dazu beitragen, dass die Macht nicht missbraucht wird. Bilde dich, sei fleißig, erfülle deine Pflicht und sei kritisch. Mit deiner preußischen Abstammung, deiner Kenntnis und deinem Pflichtgefühl wirst du, wenn die Zeit reif ist, der Macht so nahe kommen, dass du sie nach Gottes Willen und zum Wohle deiner Nächsten ausüben kannst. Und wenn die Macht auf Abwegen ist, wirst du ihr nahe genug sein, um sie in Zaum zu halten.«

Sie hatte recht, ich kam der Macht sehr nah, aber konnte ich sie in Zaum halten?

Ich blättere mich bis zu dem Brief durch, den ich damals wie im Rausch von der »Hohenzollern« schrieb, in jenem Sommer, als ich den Auftrag des Kaisers und die unerwartet scharfe Antwort von Mutter bekam.

»Hohenzollern«, medio Juli 1889

Liebe Mutter und alle daheim.

Wie ich in meinem vorigen Brief geschrieben habe, ist »der Junge aus Königsberg« dabei, ein wichtiger Mann an Bord zu werden. Es wird bestimmt ein schönes Buch werden. Es ist eine große Aufgabe, dem Deutschen Reich zu dienen, und Deutschland kann stolz darauf sein, einen solchen Kaiser zu haben. Er redet mit allen und ist ein humorvoller Mann. Nicht nur humorvoll, ein wahrer Schalk ist er. Lasst mich erzählen, was gestern geschah.

Wir waren auf einem Empfang an Land gewesen. Überall, wo wir hinkommen, wollen die Leute den Kaiser sehen, und solche Empfänge sind häufig. Alle Konsuln und Staatsbeamten, Bürgermeister und Pastoren, die wichtigsten Männer der Städte trifft man dort.

»Endlich wieder an Bord«, sagte der Kaiser. »Es ist ja schön, unter den Urgermanen zu weilen, aber warum müssen die Norweger so lange und langweilige Reden halten? Und warum bekommen wir überall dasselbe norwegische Essen? Nein, Jungens, jetzt wollen wir uns amüsieren! Acht Uhr im Rauchsalon!«

Wer zum engen Kreis des Kaisers gehört, weiß, dass er um acht Uhr zu erscheinen hat. Neulinge wie ich gehören natürlich nicht zum engen Kreis, auch wenn ich den hohen Auftrag bekommen habe, also konnte ich mich zurückziehen und tun, was ich wollte.

Herr Güssmann schrieb einen Brief nach Hause. Er hat Frau und Kinder in Hamburg. Auch er gehört nicht zum engen Kreis. Mit Mimik und Brummen gab er mir zu verstehen, dass er allein sein wollte, deshalb nahm ich mein Zeichenzeug und ging eine Runde an Deck.

Als ich am Salon vorbeikam, hörte ich laute Unterhaltungsmusik. Ein Kellner mit einem Tablett voll Erfrischungen eilte auf den Salon zu. Ohne nachzudenken sprang ich herbei und hielt ihm die Tür auf. Als sie aufging, sah ich den Kaiser und die älteren Herren zusammen spielen wie kleine Jungen.

»Wau, wau!«, hörte ich. Einer der Grafen an Bord, einer mit »von« im Namen, lief als Pudel verkleidet auf allen vieren durch den Salon. Er trug ein enges Trikot mit aufgenähtem weißem Wollfell, Hängeohren und Schwanz. Ich musste mich beherrschen, nicht laut zu lachen. Diskret stellte ich mich in den Schatten und beobachtete das Schauspiel. Seine Exzellenz alias Schiffspudel hüpfte auf allen Vieren umher und bellte. Er stellte sich auf die »Hinterbeine«, heulte den Kronleuchter an und tanzte wild im Takt der Musik. Plötzlich zog er eine Pistole aus dem weißen Pudelpelz und feuerte an die Decke. Der Kaiser krümmte sich vor Lachen, er bekam kaum noch Luft. Zum Schluss standen ihm Tränen in den Augen, und er musste sich setzen.

Jemand rief: »Prost, auf den Hundegraf!« »Sekt für den Hund, der Schiffspudel will Sekt!«, rief ein anderer. Ein Dritter ließ den Korken knallen und flößte dem bellenden Pudel direkt aus der Flasche ein. Ich wusste nicht, dass Erwachsene so viel Spaß haben können!

Letzte Nacht bestätigte sich noch einmal, was für ein Spaßvogel der Kaiser ist. Ich wurde von Lärm auf dem Korridor geweckt und erkannte das grölende Lachen und die bellende Stimme des Kaisers. Vorsichtig spähte ich durch den Türspalt: In wildem Galopp jagte der Kaiser die alten, ehrwürdigen Exzellenzen des Reiches ins Bett. Ich erkannte einen Baron und zwei Generäle. Sie schienen es nicht besonders zu mögen, aber sie spielten mit.

Jeden Morgen lässt der Kaiser alle Gäste zur Morgengymnastik an Bord antreten. Die ehrwürdigen Alten werden zu Kniebeugen gezwungen, während der Kaiser zuschaut und vor Lachen wiehert. Manchmal schubst er die alten Herren, dass sie die Balance verlieren. Gestern schlich er sich von hinten an eine der Exzellenzen an, zog sein Taschenmesser und schnitt ihr die Hosenträger durch, so dass der Mann in einer ziemlich unwürdigen Stellung die Hose verlor. Der Kaiser brüllte vor Lachen und klatschte in die Hände. Ich selbst musste mich vor Lachen setzen.

Ja, so geht es hier an Bord zu. Zu mir ist der Kaiser immer höflich, fast wie ein Onkel. Bestimmt möchte er, dass mein Buch so gut wie möglich wird.

Grüße an alle zu Hause

Der »Junge aus Königsberg«, der im Dienste des Kaisers steht!

Mutters Antwort war wie eine Gewehrsalve, eine kalte Dusche. Als hätte man ein Luftschiff angestochen. Ich musste ihren Brief zweimal lesen – wollte sie, dass ich das Schiff verließ? Was hatte sie dagegen, dass erwachsene Männer spielten?

Königsberg ultimo Juli 1889

Mein lieber Sohn!

Danke für Deinen Brief. Ich freue mich mit Dir über Gottes schöne Natur, die Du im Norden erleben darfst, und über die große Verantwortung, die der Kaiser Dir gegeben hat.

Was Du über die Verhältnisse an Bord berichtest, hat Deinen Vater und mich sehr betrübt. Einige mögen sagen: »Lass den Kaiser privat so kindlich und boshaft sein, wie er will, solange er ein guter Kaiser ist.« Aber leider ist diese Trennung nicht angebracht. Wilhelm war nie unsere Wahl gewesen. Bestenfalls hatten wir gehofft, dass der Herr demjenigen, dem er ein Amt gibt, auch Verstand dazu mitgibt. Nach Deinem Bericht zu urteilen, war diese Hoffnung vergeblich. Vielleicht ist Wilhelm doch nicht die Wahl des Herrn? Wenn wir glauben, dass der Mensch einen freien Willen besitzt, müssen wir damit rechnen, dass auch Menschen, die nicht den Weg des Herrn beschreiten, an die Macht gelangen.

Die persönliche Monarchie stellt unmenschliche Ansprüche an den Fürsten. Sie sind so hoch, dass kein sterblicher Sünder sie erfüllen kann. Deshalb ist die persönliche Monarchie ein Fehler. Wer etwas anderes glaubt, betrügt sich selbst. Die Monarchie ist ein Widerspruch in sich: Der Sünder wird für vollkommen erklärt! Der einzig mögliche Schluss aus diesem Widerspruch heißt: Republik! Der allein herrschende Fürst hat kein äußeres Korrektiv, weshalb das Korrektiv von innen kommen muss. Die persönliche Monarchie setzt die Vollkommenheit eines Menschen voraus, aber nur einer ist vollkommen: Christus. So zu tun, als sei man vollkommen, ist Blasphemie – die allergrößte Sünde. Eine Republik kann besser mit uns, wie wir sind, existieren. Sie baut auf einem realistischen Menschenbild auf, nämlich dass wir alle Sünder sind. Deswegen gibt es in einer Republik Gewaltenteilung und die Kontrolle der Macht. Taugt ein Minister nichts, kann das Parlament ihn absetzen. Ist der Präsident ein schlechter Mensch, kann das Volk einen neuen wählen. Die Gerichte können jeden Menschen freisprechen, auch wenn der Präsident ihn verurteilen möchte. Es herrscht Gewaltenteilung und Machtkontrolle. Anders in der persönlichen Monarchie. Dort ist der Fürst alles. Aber wenn wir erst einmal einen Fürsten haben, müssen wir ihn in Zaum halten.

Dein Vater und ich erkennen die Gefahren eines Lebens dicht an der Macht, aber gleichzeitig sehen wir, wie richtig es ist, dass Du ein Leben im Dienste des Staates gewählt hast. Der Staat braucht Diener mit einer Lebensweise, die vor dem höchsten Gericht standhält. Staat und Kriegsmacht brauchen Diener.

Wer dem Staat dienen will, sollte sich gut überlegen, ob er jeden Sommer Zeit hat, seinen Pflichten so lange fernzubleiben. Der Kaiser reist allzu viel. Im Heer dagegen warten große Aufgaben. Dein Onkel hat kürzlich sehr begeistert vom Bau der großen Eisenbahnlinien erzählt. Er will Dich in Wilhelmshaven treffen, wenn Du zurückkommst. Er wird Dir erzählen, welche Herausforderungen und Freuden die neue Zeit uns bringt.

Gestern wurde Dein Vater ans Sterbebett des alten Emanuel gerufen, der uns jeden Winter mit dem Holz geholfen hat. Der treue Alte hat wohl zum letzten Mal die Axt geschwungen. Marion ist für ein paar Tage von der Schule nach Hause geschickt worden, sie war frech zur Lehrerin – das geht bestimmt vorüber. Ansonsten geht es Deinen kleinen Geschwistern gut. Ich hoffe, der Kaiser kann Dich entbehren, damit Du uns bald besuchen kommst!

Dein Vater und alle Deine Geschwister lassen Dich grüßen. Du bist jeden Tag in unseren Gebeten.

Liebe Grüße, Mutter

Wie eine Gewehrsalve. Was sollte ich davon halten? Musste ich auf den Auftrag verzichten? War dies das Ende meiner Sommer auf der »Hohenzollern«?

Der Adjutant

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