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Christiania 1890 Mein erster Staatsbesuch

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Ein Raunen ging durchs Publikum. »Da ist er, da ist er.« Dann folgten schallende Hurrarufe und Lebehochs. Die Damen winkten und die Herren schwenkten ihre Hüte.

»Morgenbladet« über den Kaiserbesuch, Juli 1890

Onkel sollte recht behalten. Es war eine abenteuerliche Reise, die mich ergriff und der Macht noch näher kommen ließ. Ich bleibe sitzen, blättere in meinen Tagebüchern und erinnere mich an das, was ich in jugendlichem Übermut »meinen ersten Staatsbesuch« nannte.

SMS »Kaiser« / Christiania, Dienstagabend 1. Juli 1890

Jetzt bin ich auf Staatsbesuch! Ich habe einen Platz auf dem eigenen Schiff des Kaisers, der »Kaiser«, bekommen. Seine Majestät will, dass in dem Buch auch über Christiania berichtet wird.

Die Norweger wissen den Kaiser zu schätzen, sie haben uns einen herrlichen Empfang bereitet. Schon die Einfahrt heute Morgen war wie ein Triumphzug, überall winkten uns die Leute von ihren Booten und Badehäusern zu.

Der Christianiafjord beginnt, wo Norwegen und Schweden in Form von zwei Halbinseln aufeinanderstoßen, und schneidet sich 44 Seemeilen ins Landesinnere. Im Süden ist der Fjord fünf bis acht Seemeilen breit, dann zweigt ein schmaler Fjordarm in Richtung der Stadt Drammen ab, der den Namen Drammensfjorden trägt. Der Hauptarm verengt sich bei dem Dorf Drøbak zu einem schmalen Kanal und breitet sich dann wieder zu einem halbmondförmigen Gewässer auf beiden Seiten der Halbinsel Nesodden aus. Am oberen Ende der Bucht liegt Christiania. Von dort erstreckt sich der Fjord auf der anderen Seite von Nesodden zehn Seemeilen nach Süden und ändert seinen Namen in Bunnefjorden.

Welch ein Anblick! Von Kiel war die kaiserliche Flotte in einfacher Kiellinie ausgefahren: »Kaiser«, »Deutschland«, »Friedrich der Große«, »Preußen«, »Baden«, »Oldenburg«, »Württemberg« und »Bayern«. Auf offener See wechselte die Formation in eine doppelte Kiellinie. Vorne rechts die »Kaiser«, links von ihr die »Baden«. 400 Meter zwischen jedem Schiff. Als ich abends vorm Schlafengehen über das Meer blickte, sah ich die ganze Formation. Präzis wie ein Uhrwerk hielten die Schiffe dieselbe Geschwindigkeit und denselben Abstand. Am nächsten Morgen genau dasselbe Bild, Schiff für Schiff. Imponierende Präzision. Mächtig. Und ich gehöre zur unbesiegbaren Kaiserflotte!

Christiania ist die dritte Großstadt, die ich in meinem Leben besuche, nach Riga und Berlin. (Die vierte, wenn ich mein geliebtes Königsberg mitrechne.) Aber Christiania ist etwas Besonderes. Überall wird hier geredet und diskutiert, und überall wird gebaut. Die ganze Stadt ist eine einzige Baustelle. Sie soll doppelt so schnell wie Kopenhagen wachsen und bald Stockholm überholen. Wenn das so weitergeht, wird Christiania zur Metropole des Nordens. Aber wo kommen all die Menschen her? Obwohl so viele nach Amerika ausgewandert sind, müssen dort oben zwischen den Bergen immer noch genug Leute wohnen.

In den Straßen sehe ich große Vielfalt. Die selbstbewusste Bürgerschaft promeniert die Hauptstraße, Carl Johans gate, oder den Drammensveien unterhalb des königlichen Schlosses auf und ab. Auf den Baustellen wimmelt es von Arbeitern – Zimmerleute, Maurer, Maler, Stuckateure, Handlanger. Neugierige Zugezogene laufen mit großen Augen durch die Stadt und saugen Eindrücke auf. An der Kleidung kann man deutlich erkennen, welchen Platz in der Hierarchie die Menschen haben: Elegante Stadtbürger – und Damen! Ich war noch nie in Paris, aber ich glaube, die Frauen Christianias können sich ohne weiteres mit den Pariserinnen messen. Stolze Industriearbeiter auf dem Heimweg von der Arbeit – einige davon auf Fahrrädern! Hier muss man Geld verdienen können. Die Maurer mit ihren Melonen – der Adel unter den Handwerkern. Und andere Bauarbeiter, von Kopf bis Fuß mit Putz, Gipsstaub oder Kalk bedeckt.

Das Hafengebiet Christianias ist schön und gut gepflegt. Ich spazierte die stattliche Sjøgata bis zum Westbahnhof entlang, wo ich mich vor den Pferdestraßenbahnen in Acht nehmen musste. Alle haben es eilig hier. Ich ging aufs Geratewohl den Bryggegangen hinein und dann durch die kleinen Straßen zwischen Hafen und Tivoli. Dort bekam ich andere Damen als die eleganten auf der Carl Johans gate zu sehen. Schamlos standen sie da und boten sich an. Offenbar hatten sie zum Flottenbesuch ein paar Brocken Deutsch gelernt: »Herzlich willkommen!« Ich ging schnell vorbei – sie sollten nicht denken, dass alle Deutschen gleich sind.

Dann ging ich dem Drammensveien hinauf. Ich werde nicht alle Straßen beim Namen nennen, auf denen ich ziellos durch Christiania schweifte, aber ein Erlebnis will ich aufschreiben, solange mein Eindruck noch frisch ist, denn hier traf ich lebendige Menschen aus einem anderen Land mit anderen Sitten.

Mit dem einzigen Ziel, mich umzuschauen, spazierte ich am Schlosspark entlang und bog nach links in die Hansteens gate ab. Vor einem Hauseingang saßen ein paar Männer zwischen dreißig und vierzig auf einer Bank und diskutierten lauthals. Ich blieb wie zufällig stehen und wühlte in den Taschen, als suchte ich etwas. Ich glaube, es war ihr munterer, ausgelassener Ton, der mich aufhorchen ließ. Einer von ihnen las mit künstlichem Pathos aus einer Zeitung vor. Ich glaube, es ging um den Kaiserbesuch, denn ich schnappte Namen wie »Wilhelm« und »Oskar« auf.

»Komm her und setz dich, junger Mann!«, rief einer von ihnen auf Deutsch – man sah mir wohl von weitem an, dass ich von der Kaiserflotte kam. Aber obwohl sie grölten und spotteten, waren sie sehr freundlich. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich im Dienst des Kaisers stand.

»Wir sind Schriftsteller«, sagte der eine.

»Und Zeitungsleute«, sagte der andere.

»Und Anarchisten!«, sagte der dritte.

Dann stellten sie sich in derselben Reihenfolge mit Namen vor:

»Arne Garborg, Schriftsteller.«

»Er ist gerade in Deutschland gewesen und hat euch studiert. Arne ist einer der größten Dichter Europas«, fügte einer der anderen hinzu.

»Rasmus Steinsvik, Redakteur.«

»Chefredakteur von Gottes und unseren Gnaden«, unterbrach einer der anderen. »Er hat gerade die Fedraheimen von Arne übernommen. In dieser Zeitung huldigen wir dem Volk, nicht dem Kaiser.«

»Ivar Mortensson-Egnund, Schriftsteller, Redakteur und Anarchist.«

»Unser Pastor«, rief einer der anderen. »Faltet die Hände vor dem Herrn und ballt die Fäuste vor dem Kaiser. Unser Lehrmeister des Anarchismus. Er gibt Gott, was Gott gebührt, aber der Kaiser bekommt nichts! Sprachbegabt und hochgelehrt. Schreibt Russisch und Französisch mit der einen und Altnordisch und Hebräisch mit der anderen Hand.«

Ich wäre beinahe umgefallen. Pastor und Anarchist! Völlig undenkbar daheim in Königsberg.

Ein vierter Mann stand neben ihnen und hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Auch er streckte mir die Hand zur Begrüßung entgegen, kam aber gar nicht dazu, sich selbst vorzustellen, denn die drei Wortführer waren schneller:

»Der Hausmeister der Hansteens gate und seine Tochter. Er passt auf, dass die Bürger ruhig schlafen können. Solange wir solche wie ihn haben, brauchen wir keinen Kaiser. Wir Anarchisten sagen nämlich: Jeder soll sein eigener Kaiser sein! Und im Keller hat er kühles Bier!«

Soweit ich verstand, wohnten die drei Wortführer in einem einsamen Tal nordöstlich von Christiania, eine Tagesreise von der Hauptstadt entfernt, und wenn sie auf Stadttour waren, übernachteten sie bei dem Hausmeister.

Nach einer Weile gab der Erste, der sich Arne nannte, Zeichen zum Aufbruch. »Ja, ja, Jungs. In guter Gesellschaft fliegt die Zeit. Ich muss jetzt rein, meine Tasche packen. Muss daheim sein, wenn meine Hulda zurückkommt.«

Wieder haute es mich fast um. Hatten hier etwa die Frauen das Sagen?

Der zweite, Rasmus, zog seine Taschenuhr hervor. »Kinder, wie die Zeit vergeht! Grüß den Wilhelm vom alten Rasmus und richte ihm aus, er soll abdanken, bevor das Volk ihn zum Teufel jagt.«

Der Sprachgelehrte tat wie die beiden anderen. »Ja, ja, Freunde. Wenn der Arne heim zur Hulda muss, muss ich mich wohl auch auf den Weg machen. Grüß den Wilhelm von uns im Norden und sag, dass er ohne Titel jederzeit willkommen ist.«

Die Tür fiel hinter den fünfen zu und ich war allein.

Vielleicht war es dort in der Hansteens gate, dass ich zum ersten Mal zweifelte. Ich war kaum 20 und saugte neue Eindrücke in mich auf. Zum ersten Mal traf ich Menschen, die anders lebten und dachten. Die Eindrücke blieben in meinem Bewusstsein wie eine mahnende Unterstimme: Es gibt immer andere Sichtweisen als die »normale«. Diese Unterstimme sollte sich zu einem aufmüpfigen Doppelgänger entwickeln, der mir über die Schulter schaute und sagte: »Mein guter Major, bist du dir ganz sicher?«

Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen

wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere

Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.

Ludwig Wittgenstein

Der Adjutant

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