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15. Mai 1967 Das Leben, das so viel Unruhe bringt

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Der Obstgärtner weiß, worüber er redet. Gestern Abend sagte er zum Abschied: »Ja, bald kommen die Kreuzfahrtschiffe. Dann ist wieder Leben in den Fjorden!« Er und seine halbwüchsige Tochter hatten mich zum ersten Mal besucht, seit der Winter den Griff gelockert hatte und die Pfade trocken genug waren, um hier hinaufzugelangen. Endlich lebende Menschen zum Reden! Von November bis Mai allein. Es ist jedes Mal, als müsste ich von neuem sprechen lernen. Wenn mein Hauswirt und seine Tochter auftauchen, komme ich ins Leben zurück.

Aber das Leben bringt auch Unruhe, denn mein Wirt hat die Gewohnheit, bohrende Fragen zu stellen. Der Obstgärtner weckt schlafende Hunde! Warum, frage ich mich. Warum erst jetzt, wo er doch zwanzig Jahre Zeit hatte? Vielleicht ist die Antwort einfach, vielleicht ist ihm klar geworden, dass ich alt und vergänglich bin. Es ist wie mit archäologischen Ausgrabungen: Man muss die Vergangenheit schnell freilegen, bevor einem Grabräuber, Bagger oder Stauseen zuvorkommen und das große Vergessen alles zudeckt.

Aber glaubt bloß nicht, dass ich das, was geschehen ist, auf die leichte Schulter nehme.

Auch nach fünfzig Jahren verfolgt es mich noch. In all den Jahren habe ich zu verstehen versucht, warum es so weit gekommen war. Jeden Stein habe ich umgedreht, aber immer, wenn ich glaube, ich sei fertig, tauchen neue Dinge auf. Zum Reden bin ich nicht viel gekommen – es gehört sich auch nicht für einen preußischen Offizier, sich Gott und der Welt anzuvertrauen –, so dass mein Tagebuch zum unsichtbaren Gesprächspartner wurde.

Ohne die Tagebücher hätte ich die Jahre hier oben nicht ausgehalten. Die kleinen Kladden stehen in Reih und Glied, Jahr und Monat auf den Buchrücken. Ich mag Ordnung. Ganz oben links steht in zierlicher Schuljungenschrift Königsberg 1885. Als Vierzehnjähriger begann ich mit täppischen Notizen. Überspannt und romantisch, wie es sich für das Tagebuch eines Jungen gehört. Ich gehe drei Jahre weiter, ziehe eine Kladde heraus und blättere vorsichtig in den spröden Seiten von 1888:

Königsberg, Freitag 15. Juni 1888

Unser Hoffnungskaiser ist tot! Nur neunundneunzig Tage.

Klare Meinungen. Und doch ich, wenn auch roh und unveredelt. Das Tagebuch eines jungen Prinzen. Schon damals war mir bewusst, dass ich auserwählt war. Ich sprach von »uns« und »ihnen«. »Wir«, das war unser Geschlecht, zum Herrschen vorbestimmt. »Sie«, das war das diffuse »Volk«, das eine starke Hand brauchte. Aber »wir« waren ein fürsorgliches »Wir«. Adel verpflichtet! Verantwortung, Respekt, Ehre. Verantwortung vor Gott, der Tradition und naturgegebenen Prinzipien. Respekt für diejenigen, über die wir herrschten. Auch ihr einfaches Leben war unantastbar! Ehrfurcht gegenüber meinen Vorgängern: Ahnen, Geschlecht und Familie. Und damit auch Ehrfurcht, Respekt und Verantwortung für das christliche Europa.

Aber erst an Bord der »Hohenzollern« begann ich systematisch Tagebuch zu führen. Was ich dort erlebte, musste ich einfach niederschreiben. Vielleicht wurde mir langsam klar, dass es eines Tages nicht mehr selbstverständlich sein würde. Ich schien zu ahnen, dass es nicht so bleiben konnte. Vielleicht motivierte mich auch mein innerer Zwiespalt zum Schreiben, denn ein Teil von mir sagte, dass es nicht so bleiben sollte. Doch nicht einmal der exaltierteste Dichter hätte den Untergang so abgrundtief brutal zeichnen können, wie er werden sollte. Dantes Inferno war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was uns bevorstand.

Meine Tagebücher! Heute geschieht so wenig, dass ein Tag kaum eine Zeile füllt. Mehr scheine ich nicht zu ertragen. Ich sollte ja schon längst tot sein! Geboren 1871, und jetzt schreiben wir 1967. Alle meine Altersgenossen sind tot, ich verstehe nichts von dem, was die jungen Leute heute tun. Stattdessen sitze ich hier und erinnere mich an die Vergangenheit. Ich muss mir eingestehen: Es gibt nichts mehr aufzuschreiben. Was nicht gedacht und geschrieben ist, soll ungedacht und ungeschrieben bleiben. Die Zeit, die mir bleibt, werde ich mit Lesen verbringen. Ich muss überprüfen, ob die Tagebücher den Blick desjenigen ertragen, der hier einmal aufräumen wird.

Aber ganz kann ich es nicht sein lassen, denn an dem Tag, an dem ich zu schreiben aufhöre, ist es vorbei. Und wenn es nur eine Zeile pro Tag ist. Es gibt ja immer noch das Wetter. Darüber könnte ich viel schreiben, denn nirgends ist es so wechselhaft wie hier am Sognefjord. Und die Aussicht! Manchmal habe ich einen klaren Blick bis nach draußen, wo die Fjordarme sich vereinen. Am Tag darauf schaue ich über ein Nebelmeer wie eine schneeweiße Hochebene. Auch damit könnte ich viele Seiten füllen. Wetter, Aussicht und die ewigen Berge haben manches Dichterleben hier im Norden erfüllt. Außerdem könnte ich berichten, ob ich gut oder schlecht geschlafen habe. In meinem Alter ist jede durchgeschlafene Nacht ein Segen. Und die Vögel! Jahresvögel und Zugvögel. Wie oft habe ich mich mit ihnen fortgeträumt. In weiten Kreisen über unserer Winzigkeit zu schweben. Aber die Tagebücher sind mehr. Sie sind mein Versuch einer Erklärung. Und wo es keine Erklärung gibt, helfen sie mir verstehen. Und wo es unmöglich ist, zu verstehen, sage ich nur: Vergib uns unsere Schuld.

Der Adjutant

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