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Die Sünden der Söhne die uns Alten keinen Frieden lassen

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Am Vormittag habe ich einen Spaziergang zum Wasserfall gemacht. Habe schlecht geschlafen und bin spät aufgestanden, weshalb ich den Tag langsam angehe. Es ist einer dieser klaren Frühlingstage – und warm! Man kann den Schlipsknoten lockern und die Jacke über den Arm hängen, wie an einem Sommertag. Ich laufe wie ein Gutsbesitzer umher und sehe nach, ob alles den Winter gut überstanden hat. Eigentlich sollte ich mich freuen, es ist Frühling und ich habe ein Haus zum Wohnen. Die helle, grüne Jahreszeit bedeutet Besuch von Menschen, die es gut mit mir meinen. Warum dann diese Unruhe? Ist es die Gewissheit, dass der Obstgärtner bald auftauchen wird, der den schlafenden Hunden keine Ruhe lässt?

Aber Zweifel und Unruhe sollen mir nicht die Freude am Frühling verderben. Ich inspiziere die Brücke, tausche einen Pfahl im Schizaun aus, hänge das Bettzeug zum Lüften aus. Man darf die Alltagsroutine und die nahen Dinge nicht vernachlässigen. Sie geben unserem Leben Ordnung und Struktur. Obwohl ich nur Mieter bin, sind die Häuser und Dinge hier oben wie meine eigenen geworden, ich fühle mich eins mit ihnen und der Landschaft.

Das Wort »Glück« nehme ich selten in den Mund, aber ich habe mich nie so leicht gefühlt wie an jenem Sommertag 1941, als ich in Hylla einzog. Ich packte Kisten und Rucksäcke aus, stellte Bücher in die Regale und hängte Kleider in den Schrank. Endlich war ich für mich. Hier, so weit fort wie möglich, am Ende der Welt, konnte mich keiner finden!

In diesem Dorfe steht das letzte Haus

so einsam wie das letzte Haus der Welt.

Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält,

geht langsam weiter in die Nacht hinaus.

Das kleine Dorf ist nur ein Übergang

zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang,

ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs.

Und die das Dorf verlassen, wandern lang,

und viele sterben vielleicht unterwegs.

Der Tag hat seinen Rhythmus. Ich beginne ihn mit einem Bibelvers. Heute aus dem 79. Psalm:

Gedenke nicht unsrer vorigen Missetaten;

erbarme dich unser bald,

denn wir sind sehr dünn geworden.

Dann frühstücke ich mit Rilke. Wer allein lebt, braucht Routine. Zum Abschluss lege ich eine Schallplatte auf, setze mich in den Sessel und schaue über den Fjord. Beethoven, Mendelssohn, Schubert. Wie eine sorglose Rückkehr in die Wilhelminische Zeit. Jeden Tag war Kaiserwetter. Wo der Kaiser war, war immer Sonntag. La belle époque! Alles ging vorwärts. Der Fortschritt siegte, die Vernunft siegte, der Wohlstand stieg in allen Schichten. Und es war Frieden. Krieg war ein Ding der Unmöglichkeit. Vor meinem inneren Auge sehe ich den Kaiser zu Pferd Unter den Linden. Auf dem Bürgersteig winkt ein Herr mit seinem Hut: »Wir danken Euch!« Ich sehe den Kaiser mit Fabrikarbeitern ins Gespräch vertieft, zu Besuch in einer Schiffswerft, bei der Einweihung einer neuen Bahnstrecke, den Kaiser, der Fürsten aus fremden Ländern empfängt und Reden hält. Steuermann, Vater der Nation, Lehrmeister des Volkes, oberster Kriegsherr des Landes, Oberhaupt der evangelischen Kirche. Der Kaiser war überall. Wo er ging, war Würde, Fest, Leben. Das Juwel des Reiches. Immer die rechten Worte zur rechten Zeit. In den Parks gab es Springbrunnen, die Frauen waren schön und das Wetter strahlend. Und abends waren die Konzertsäle voll: Beethoven, Mendelssohn, Schubert ...

Später am Tag, wenn ich es ertragen kann, konfrontiere ich das Moderne, den Schrecken. Vorsichtig schalte ich den neuen, batteriebetriebenen Plattenspieler ein und lege Schostakowitschs 13. Sinfonie »Babi Jar« auf. Seit einer Woche höre ich sie einmal täglich.

Waren meine Leute auch dabei?

Babi Jar, eine Schlucht nordwestlich von Kiew. Innerhalb von zwei Tagen wurden dort 33771 Juden an den Rand der Kluft getrieben und erschossen. Ich habe meine Informationen:

Während ich mich hier oben in Hylla einrichtete, rollte das Unternehmen Barbarossa über die osteuropäische Ebene. Kurz nachdem das 19. Armeekorps, ein Teil der 6. Armee, am 19. September 1941 Kiew eingenommen hatte, wurden mehrere Gebäude, die das deutsche Heer requiriert hatte, in die Luft gesprengt. Heute wissen wir, dass der sowjetische Sicherheitsdienst NKWD hinter den Anschlägen stand.

Am 26. September traf sich eine Gruppe höherer ss-Offiziere beim Stadtkommandanten von Kiew, General Eberhard, um Vergeltungsmaßnahmen zu beraten. Dabei waren: Friedrich Jeckeln, ss-General und Polizeichef, Otto Rasch, Generalmajor der ss und der Polizei mit Kommando über die Einsatzgruppe C, und Paul Blobel, ss-Oberst und Befehlshaber des Spezialkommandos 4a. Als Sündenböcke mussten wie immer die Juden herhalten, schließlich war der Feldzug im Osten gegen den »jüdischen Bolschewismus« gerichtet. Das Spezialkommando 4a bekam den Auftrag, alle Kiewer Juden zu ermorden. Diese Truppe bestand aus Männern des Sicherheitsdienstes, der 3. Kompanie des »Waffen-ss-Bataillons zur besonderen Verfügung« und einer Einheit des 9. Polizeibataillons. Verstärkt wurde sie durch Kommandos des Polizeiregiments Süd sowie einige ukrainische Hilfstruppen.

Am 28. September wurden in der ganzen Stadt Plakate aufgehängt. Alle Juden der Stadt wurden aufgefordert, sich am nächsten Morgen um 08.00 Uhr an der Ecke Melnikova- und Dokhturova-Straße zu versammeln. Zweck: Umsiedlung. Der Text war von der Propagandakompanie 637 verfasst, die Plakate in der Druckerei der 6. Armee gedruckt.

Tausende von Juden folgten dem Befehl. Sie wurden über die Melnikova-Straße zum jüdischen Friedhof in der Nähe von Babi Jar getrieben. Das Gebiet war mit Stacheldraht abgesperrt und von bewaffneten Wächtern umstellt. Als die Juden sich Babi Jar näherten, wurden sie gezwungen, alle Wertsachen abzulegen und sich zu entkleiden. In Zehnergruppen wurden sie an den Rand der Schlucht getrieben und mit Maschinengewehren niedergemäht. Die Exekutionstrupps schossen in Schichten und lösten einander nach mehreren Stunden ab. Am Abend wurden die Leichen mit einer dünnen Schicht Sand bedeckt. Nach Angaben der Einsatzgruppe C wurden innerhalb von zwei Tagen 33771 Juden ermordet.

Waren meine Leute dabei?

In den darauffolgenden Monaten wurden Tausende weiterer Juden gefangen, nach Babi Jar geführt und erschossen. Die Schlucht diente auch als Hinrichtungsstätte für Zigeuner und sowjetische Kriegsgefangene. Sowjetischen Quellen zufolge wurden 100000 Menschen in Babi Jar ermordet.

Während des Tauwetters unter Chruschtschow wurde der Ruf nach einer Gedenkstätte laut. Sowjetische Künstler engagierten sich, unter anderem der Dichter Jewgeni Jewtuschenko:

Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal.

Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.

Mir ist angst.

Hier sitze ich und höre Schostakowitschs Vertonung des Gedichtes. Aber es gibt immer noch keinen Grabstein – weder für die Trauernden noch für uns, die sühnen wollen.

In »meinem Krieg« haben wir so etwas nicht getan. Juden kämpften Seite an Seite mit uns Christen, ob in deutscher, französischer oder russischer Uniform. Aber warum fühle ich mich trotzdem schuldig? Ein solches Verbrechen kann nur begehen, wer Juden als Schädlinge und die Völker des Ostens als minderwertig betrachtet. Aber so dachten wir nicht! Trotzdem. Was war in den dazwischenliegenden 25 Jahren geschehen, dass so etwas möglich war? Hatte ich mitgeholfen? Hatten wir Kräfte freigesetzt, die wir nicht kontrollieren konnten? Hatten wir den Geist aus der Flasche befreit und konnten ihn nicht wieder einfangen? Auch wenn ich friedlich hier in Hylla gesessen hatte, weit weg von Mord und Brand, waren es trotzdem meine Männer?

Der Adjutant

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