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Helga und das Leben, das nie aufgibt

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Heute war es wieder hier, das gesegnete Kind. Helga kommt ungefähr einmal pro Woche vorbei. Wie eine Bergziege steigt sie den steilen Pfad hinauf. Ihr Haar ist wie immer voll feiner Tropfen von der Unterquerung des Wasserfalls. Sorglos und fröhlich sieht sie aus, ihre Wangen rot von der anstrengenden Tour. Wenn sie kommt, spüre ich den Atem der Welt da draußen. Wie eine Offenbarung. Eine wandelnde Erinnerung an das Leben, das nie aufgibt.

Es gehört zu den guten Mysterien des Lebens, dass im Schatten von Krieg und Verrohung eine neue Generation heranwächst und die Welt wie selbstverständlich wieder in Gebrauch nimmt. Die Kriege, die mich innerlich aufreiben, sind für sie ferne Kriege, von denen sie in der Schule lernen. Es kommt vor, dass sie den Ersten Weltkrieg mit den napoleonischen oder punischen Kriegen verwechseln. Und das ist gut so.

»Guten Tag. Ich bin ein Mädchen«, begrüßte sie mich auf Deutsch. Was wollte sie damit sagen? Ich besann mich und antwortete auf gleiche Weise:

»Guten Tag, ich bin ein alter Mann.«

Wie sich herausstellte, hatte sie begonnen, Deutsch zu lernen. Im letzten Herbst war sie auf die Realschule gekommen und hatte den Winter über ein paar deutsche Sätze einstudiert. Nun wollte sie unbedingt mit mir üben. Durch, für, gegen, ohne, um, um zu. An, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor, zwischen. Aus, außer, bei, binnen, mit, nach, seit, von, zu. Sie unterhielt mich mit grammatischen Regeln, bis wir uns vor Lachen bogen. So hatte ich nicht Deutsch gelernt.

»Bald kann ich dir den Spiegel auf Deutsch vorlesen«, sagte sie und zog die drei letzten Ausgaben aus dem Rucksack. Ihr Vater, der intellektuelle Obstgärtner mit den vielen Ideen im Kopf, hatte sie ihr mitgegeben. Ich freute mich darauf, mich in Ruhe hinzusetzen und zu lesen, was von meinem alten Vaterland übrig war. Fürs Erste blätterte ich nur rasch durch die letzten Neuigkeiten. Es tut sich etwas, die Geschichte ist in Bewegung. Willy Brandt – der rote Aristokrat ... Vielleicht gibt es Hoffnung für Deutschland und Europa?

»Vater hat gesagt, wir sollten dich ein bisschen aufpäppeln nach dem langen Winter, du bist so dünn. Hast du den ganzen Winter nichts gegessen?« Ohne die Antwort abzuwarten, holte sie frisches Plundergebäck aus dem Rucksack. Sie kennt meine Leidenschaft für Süßes.

»Genau die richtigen Vitamine für einen alten Knacker! Jetzt gibt’s Kaffee! Du weißt doch, wer allein lebt, braucht viel Kaffee und Tabak.«

»Guck mal«, sagte sie, als wir am Kaffeetisch saßen. Aus einer kleinen Tasche im Rucksack zauberte sie ein Kuvert mit Fahrkarten und Postkarten hervor. Eine Fahrkarte der Holmenkollbahn, eine der Osloer Verkehrsbetriebe, eine Eintrittskarte für Ein Puppenheim am Norwegischen Theater, eine Bahnfahrkarte von Myrdal nach Oslo, eine Postkarte mit dem königlichen Schloss und eine mit dem norwegischen Parlament.

»Warst du in der großen, weiten Welt?«, fragte ich.

»Klassenfahrt nach Oslo. Im Spätherbst, deshalb konnte ich es dir nicht mehr erzählen.«

Sie war auf Bildungsreise in Oslo gewesen. Hatte in der Karl Johans gate gestanden und der Parade zur Eröffnung des Parlaments zugeschaut. Hatte bei König Olavs Thronrede auf den Zuschauerplätzen des Storting gesessen. Dort wurden die Radiostimmen und Zeitungsbilder plötzlich zu lebendigen Menschen, ein Finn Gustavsen, ein Tryggve Bratteli, ein Bent Røiseland, ein Jon Leirfall.

»Aber eins verstehe ich nicht«, sagte sie. »Es sind ungefähr dreihundert Meter zwischen Schloss und Storting, ungefähr wie von hier bis zum Wasserfall oder von uns daheim bis zur Post. Warum fährt der König dann im offenen Auto? Kann er nicht selber gehen? Er ist doch gar nicht so alt.«

»Tja«, sagte ich, »vielleicht damit die Leute ihn besser sehen können.«

»Warum sollen wir ihn sehen? Wir wissen doch, wie er aussieht. Und wenn das so wichtig ist, dann sollte er unbedingt zu Fuß gehen. Dann könnte er unterwegs stehen bleiben und mit den Leuten reden.«

Dagegen hatte ich kein Argument. Stattdessen fragte ich: »Was würdest du denn tun, wenn du Königin wärst?«

»Ich will keine Königin werden. Aber vielleicht Präsidentin. Dann würde ich im Sommer mit dem Fahrrad und im Winter mit dem Tretschlitten zum Storting hinunterfahren.«

»Dann bist du also Republikanerin?«, rutschte es mir heraus. Ich hatte vergessen, dass ich mit einem Kind redete.

»Republikanerin und Sozialistin«, war die Antwort.

Man sollte Kinder nie über ihre Eltern ausfragen, aber hier gab es keinen Zweifel: Ohne direkt etwas zu sagen, hatte sie viel über ihren Vater verraten. Ich sah die beiden vor mir, wie sie dort unten lebten. Der Esstisch mit Zeitungen übersät. Abends läuft das Radio. Es gab immer etwas zu diskutieren. Während andere Mädchen davon träumten, Prinzessin zu werden, war dieses Mädchen nüchtern wie ein Preuße und träumte davon, Präsidentin zu werden!

»Diskutierst du gerne?«

»Ja, Vater und ich diskutieren jeden Tag. Er ist Sozialist, hält Reden und schreibt alles Mögliche für die Lokalzeitung. Über Lawinengefahr und die Öffnungszeiten der Post, aber auch über NATO und Tschechoslowakei und so. Außerdem ist er Mitglied im Kleinbauernverband. ›Wir müssen die Demokratie benutzen‹, sagt er immer. Es macht ihm nichts aus, Obstgärtner zu sein, er hätte nur gern mehr Bildung gehabt. Aber Großvater starb, als er gerade mit der Mittelschule fertig war, und da musste er den Hof übernehmen.«

Wir redeten über Gott und die Welt. In meinen jungen Jahren hätte ich darüber den Kopf geschüttelt. Man konnte doch nicht einfach herumsitzen und nichts tun! Aber nun genieße ich es, nichts zu tun, und dennoch fühle ich mich am Abend reich. Reicher als früher nach manchen Arbeitstagen, als ich »wichtige« Arbeit im Dienst des Staates leistete.

»Vater kommt morgen vorbei«, sagte sie zum Abschied. »Er will zum Aussichtspunkt, Kreuzfahrtschiffe angucken.«

Bevor die kleine Familie aus dem Fährort in mein Leben trat, war ich wirklich Einsiedler. Ich war Deutscher und kam 1941, die Leute hatten also guten Grund, mich zu meiden. Der Vater des Obstgärtners – der sich übrigens lieber Obstbauer nannte – war ein so aufrechter Widerstandsmann, dass er an mich vermieten konnte, ohne dass die Leute über ihn lästerten. Der Hof stand leer, und Häuser brauchen Menschen, sagte er. Er wusste, was er tat, es gehörte zu seiner Strategie. Durch den Kontakt zu mir befreite er sich von jedem Verdacht seitens der Gestapo und der NS-Leute, die hier wie überall herumschlichen. Es war wie ein stillschweigender Vertrag zwischen uns. Er gab mir ein Dach über dem Kopf, ich gab ihm ein Alibi. Als preußischer Offizier des alten Kaiserheeres hatte ich auch keinerlei Interesse, dem Nazipöbel zu helfen. Mein heutiger Vermieter hat mich also sozusagen geerbt. In den ersten Jahren bezahlte ich die Miete jeweils für ein halbes Jahr beim Landpostboten, weshalb wir wenig Kontakt miteinander hatten.

Ich hatte nicht viel Gepäck damals, es war nicht die Zeit für große Umzugslasten. Als Offizier war ich es gewohnt, auf bürgerliche Sicherheiten zu verzichten und ständig unterwegs zu sein. Viele in meiner Generation gewöhnen sich nie an die bürgerliche Ordnung, auch wenn die äußere Unruhe vorbei ist. Mein finnischer Waffenbruder General Mannerheim schlief auch als späterer Präsident noch in seinem Feldbett. Vielleicht hing ich auch dem romantischen Traum an, mit wenig zurechtzukommen. Wir Deutschen sehen das »einfache Leben« hier im Norden ja gern durch die romantische Brille. Eine Truhe mit Tagebüchern und alten Schriftstücken, ein Rucksack, ein Koffer, eine Kiste mit Gemälden und Fotografien, das war die gesamte Ausrüstung für meine Reise nach Norden. Nach dem Tod des Kaisers dauerte es eine Weile, bis ich alle notwendigen Papiere zusammen hatte, um mich hier oben niederzulassen. Es war Krieg und es gab keine Normalität. Aber die Offiziere der Wehrmacht halfen mir, so gut es ging. Alles, was mit Kaiserkult zu tun hatte, war unter dem nationalsozialistischen Pöbel verboten, aber im Offizierskorps hielt man die Erinnerung an den Kaiser wach. Sie behandelten mich mit großem Respekt, wie einen älteren, weisen Kollegen. Ich bekam Platz auf einem Marineschiff von Rotterdam bis Bergen, und von dort ging es mit dem regulären Küstendampfer weiter nach Norden und in den engen, tiefen Sognefjord.

Ich hatte mitbekommen, dass das Leben auf dem Hof im Tal nicht mehr dasselbe war, nachdem das kleine Mädchen im November 1952 zur Welt gekommen war. Ihre Mutter war im Kindbett gestorben, und seitdem lebte der junge Mann allein mit seiner Tochter. Es dauerte drei Jahre, bis er sich gefasst hatte und die Lebensfreude wiederfand. Er macht einen offenherzigen Eindruck, aber seine Zunge kann sehr scharf sein. In der Regel jedoch hält er sie unter Kontrolle. Mir gegenüber ist er stets freundlich und neugierig gewesen, aber erst in den letzten Jahren haben wir näheren Kontakt aufgenommen. Eigentlich seltsam, denn der Mann ist von Natur aus offen und gastfreundlich. Wahrscheinlich waren seine Tage mit Obstbau und Kindeserziehung so ausgefüllt, dass er keine Zeit und Kraft für andere hatte.

Aber jetzt hat er plötzlich Zeit, mitten in der hektischen Frühjahrsbestellung will er zu mir hinauf, um Kreuzfahrtschiffe zu beobachten!

Der Adjutant

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