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Hylla und das Glück, ein Dach über dem Kopf zu haben

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Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

Welch ein Glück, auf dem alten Berghof zu wohnen! Die vordere Giebelseite des Wohnhauses steht auf einer zwei Mann hohen Mauer. Am Boden mehrere hundert Kilo schwere Felsbrocken, aber auch in Kopfhöhe Steine, für die man mindestens vier Mann benötigt, um sie an Ort und Stelle zu hieven. Vor der Mauer ein zwei Meter breiter Absatz, auf dem sich der Pfad ins Tal vorbeischlängelt. Die hintere Giebelseite steht auf festem Boden – welch ein Höhenunterschied! Wie ein Adlerhorst, hätten meine Landsleute gesagt, romantisch wie sie sind. Das Wohnhaus ist so weit wie möglich nach vorne gezogen, um den Platz auf dem kleinen Gesims auszunutzen. Von dem Vorsprung hat der Hof seinen Namen, Hylla. Stall, Scheune, Küchenhaus, Schmiede und Altenteil liegen ein Stück weiter oben. Sechs kleine Häuser auf einen Haufen. Zwischen ihnen verlaufen schmale Pfade, und in der Mitte ist ein kleiner Hofplatz. Dort stehen ein Steintisch und eine Bank aus einem gespaltenen Baumstamm. Als Rückenlehne dient die Scheunenwand. Auf der Talseite mündet der Abhang in einen kleinen ebenen Absatz. »Garten« nenne ich den schmalen Streifen, die sonnigste Stelle auf dem Hof. Am Hang wachsen rote und schwarze Johannisbeeren, und auf dem kleinen Plateau steht ein Birnbaum, der jedes Jahr Früchte trägt. Es gibt nichts Schöneres als seine Blüten! Als ich hierher zog, stand auch ein Apfelbaum dort, aber eines Tages hat ihn der Blitz getroffen. Ich hätte einen neuen pflanzen sollen, aber das fügt sich in die lange Reihe ungetaner Dinge ein. Die Außengebäude sind aus groben Stämmen gezimmert, die auf wunderliche Weise hier hinaufgebracht wurden. Das Wohnhaus ist mit horizontalen Brettern verkleidet, typisch für Westnorwegen mit seinem feuchten Klima. Wenn die Feuchtigkeit vom Fundament hochzieht, muss man nur die unteren Bretter und nicht gleich die ganze Wand austauschen. Die Dächer sind mit Torf und Rinde gedeckt, bis auf das Küchenhaus. Dort habe ich mich der Modernität gebeugt und das Dach mit Wellblech ausgebessert.

Ein typisch westnorwegischer Hof also, mit vielen kleinen Gebäuden um einen Hofplatz. So muss man sich die Höfe im Mittelalter vorstellen. Meiner war ein guter Hof. Die Steuerschätzung von 1667 verzeichnet 14 Kühe und ein Pferd. 1869 gehörten 1,15 Hektar Ackerfläche zum Hof, und es wurden Getreide und Kartoffeln angebaut. Die Heuernte betrug 1050 våg von den Hofwiesen und 700 von den Bergwiesen, das entspricht 18 und 12 Tonnen. Wahrscheinlich war der Hof schon vor der Pest erbaut worden, aber der Schwarze Tod verwüstete ihn im Spätmittelalter. Ungefähr 1600 wurde er wieder bewirtschaftet, bis er 1922 verlassen wurde – um mit leeren Häusern auf mich zu warten.

Warum ließen sich die Menschen hier oben in den Felsen nieder? Sonne und Regen. Sie siedelten dort, wo die Erde am besten war, und hier, auf den ebenen Absätzen, beschirmt von hohen Bergen, wächst es wie am Mittelmeer. Mildes, feuchtes Küstenklima, reichlich Regen, lange Sonnentage im Sommer und milde Winter. Und das wichtigste: Hylla ist der lawinensicherste Ort im Bezirk Sogn og Fjordane. Lawinen kosten in diesem kargen Bergland viele Menschenleben, und um mich herum sind Stein- und Schneelawinen so gewiss wie die Jahreszeiten. Aber hier! Wie von einer unsichtbaren Hand werden alle Lawinen an Hylla vorbeigeleitet. Während der Schneeschmelze rumpelt und dröhnt es in allen Wänden, aber ich sitze ruhig über meinen Kladden und kann sicher sein, dass ich auch diesmal davonkomme. Im Herbst, wenn die Sturmböen von den Bergen herab heulen, gehe ich ans Fenster, schaue in die aufgewühlte Luft und denke: Wie gut, dass ich ein Dach über dem Kopf habe!

Manche Dinge sehe ich klarer, seit ich hier oben wohne. Der hiesige Dialekt kann gnadenlos sein. Hier und da schnappe ich neue Wörter auf, zum Beispiel bygdetulling. Wir würden es wohl mit »Dorftrottel« übersetzen. Wer so genannt wird, ist nicht unbedingt im klinischen Verstand verrückt, es reicht, anders zu sein. In der Regel sind solche Originale harmlos, sie dienen uns »Normalen« als Witzfiguren. Aber was geschieht, wenn die Worte einer solchen Figur Gesetz werden? Jetzt, mit Abstand, sehe ich, dass genau dies in meinem geliebten Deutschland geschehen war, als Wilhelm 11. den Thron bestieg. Der Mann, dem ich in meine besten Jahre geopfert habe.

Der Adjutant

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