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Bertholds Blutwurstgrätsche

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Unsere Zeit, die vor sich hin gurgelnde Gegenwart, gibt einem ja ohne Unterlaß Anlaß genug, schon nach dem Aufwachen derart grandios gelaunt zu sein, daß man die Abwicklung der Existenzpflichten mal wieder einen Tag lang lieber bleibenlassen möchte. Wenn einen dann obendrein aus dem zwecks Ablenkung von den Verwehungen in der eigenen verkarsteten Rübe eingeschalteten Frühstücksfänseh, dieser grausamsten aller zivilen Foltermaschinen, irgendein brillanter Bundesligamanager anquakt oder irgendeine akute Trainertristessevisage anrempelt, ist bereits um 8.37 Uhr endgültig alles zu spät. Da hilft im Grunde nur noch der Nottrunk, dem man sich geflissentlich nicht anheimgibt, oder die durchlauchtige Depression.

Aber dann passieren manchmal seltsam schöne Dinge, ja wenden dieselben sich zum Besten, an Abenden etwa, an denen man mit den Kollegen Stefan Gärtner von der Titanic und Martin Maria Schwarz vom gelobten Kulturkanal des Hessischen Rundfunks in der Frankfurter High-End-Apfelweinwirtschaft Klabunt auf dem kleinsten Lesepodium der Welt hockt und stundenlang forciert unsinnig über Fußball babbelt – unter Zuhilfenahme allermodernster und simultan -marodester Videoprojektions- und CD-Einspielungstechnologie sowie in Begleitung allerfeinster Stargäste.

Soviel Selbstbehudelung muß hier leider sein: Die »Blutwurstgrätsche«, wie die unregelmäßig organisierte, traditionell mit einem Sack schlechter Offenbach-Witze gespickte und im Auftrag der Robert-Hoyzer-Stiftung runtergerobbte Veranstaltung heißt, ist mir zum Labsal geworden. Bislang waren u. a. Rudi Brückner, Horst Tomayer, Dragoslav Stepanović und Nia Künzer zu Gast, und neulich beehrte uns Weltmeister Thomas Berthold, der Hanau-Frankfurter Bub, der als technisch hochbeschlagener, gleichwohl allzeit splitterholzunerbittlicher Verteidiger an drei WM-Endrunden teilnahm, in dreihundertzweiunddreißig Bundesligapartien immerhin zweiundzwanzig Tore schoß und ungezählte Rekorde im Einstreichen von Roten Karten aufstellte.

Seinen berühmtesten, ja eindrucksvollsten Platzverweis fuhr er im WM-Viertelfinale gegen Mexiko am 21. Juni 1986 in Monterrey ein, nachdem er seinen widerspenstigen Widersacher nach einem Laufduell mit der Manschette, die seinen wahrscheinlich vom Bierkrugstemmen lädierten rechten Arm zierte, im Fallen niedergestreckt hatte. Berthold kommentierte die Szene bei uns ausgelassen selbstironisch und heiter und setzte im Verlauf des ausufernden Geplauders eine gelungene Pointe nach der anderen. Der ehemals zum arroganten Stinkstiefel par excellence erkorene Weltklassemanndecker, der bei der Eintracht, bei Hellas Verona, beim AS Rom, bei Bayern München und beim VfB Stuttgart diente, ist ein Erzähl- und Unterhaltungsnaturtalent, das sich nicht scheut, vor Publikum in Anspielung auf seine FCB- und Bernhard-Langer-Tribünensaison 1992/93 Minigolf mit einem Kochlöffel und einem Ball aus Aluminiumfolie zu spielen, die furchtbaren WM-Songs von 1986 (»Mexico mi amor«), 1990 (»Wir sind schon auf dem Brenner«) und 1994 (»Far Away In America«) über sich ergehen zu lassen, die Thomas-Berthold-Ähnlichkeitsmedaille für kühnes Kaugummikauen während des Abspielens der Nationalhymne zu verleihen und aus dem Bauchladen des Spitzenspielerlebens zu schnacken.

1990 habe man, erzählte Berthold, den WM-Titel ohne eine einzige Taktikbesprechung gewonnen. Bekkenbauer habe gewußt oder einfach behauptet, daß man unschlagbar sei – und fertig. 1994 hingegen, unter seinem Nachfolger Berti Vogts, sei bereits während der desaströsen Vorbereitung klar gewesen, daß die USA-Reise frühzeitig enden würde. Einen unfähigeren Trainer als Vogts, so Berthold, habe er vorher nicht und danach nicht mehr erlebt.

Die offizielle Darstellung der Weltmeisterschaft 1986 bedürfte gleichfalls erheblicher Ergänzungen. Denn dazumal lief offenbar wirklich alles wunderbar aus dem Ruder. Nachdem sich Beckenbauer für Toni Schumacher als Nummer eins im Tor entschieden hatte, habe Uli Stein, versicherte Berthold, vor versammelter Mannschaft verkündet, ab sofort Urlaub zu machen – und anschließend auf der Bank hingebungsvoll sonnengebadet und nach Herzenslust geraucht, ohne daß Beckenbauer eingeschritten sei. Der Kaiser besaß schlichtweg keinen Mumm dazu.

Das hoffnungslose Unterfangen, den Laden zu disziplinieren, oblag dem Assistenten Vogts. Dem tanzten allerdings sogar die braven Förster-Brüder auf der Nase herum, und im Anschluß an das völlig überraschend gegen Frankreich gewonnene Halbfinale seien im Bus auf der Fahrt vom Stadion ins Hotel dreihundert Flaschen Bier geleert und durch die Fenster auf die Straße befördert worden. Das Endspiel, so Berthold, habe man denn auch einzig und allein wegen der nie endenden Sauferei vergeigt.

Am dollsten trieb es, berichtete Berthold, Hans-Peter Briegel. Um den unerträglichen Vogts zu demütigen, hatte der Pfälzer Brecher zum Beispiel eine Riesenpfanne anfertigen lassen, in der er sich spätabends fünfzig (!) Spiegeleier aufs Zimmer bringen ließ, wo eine Kartenrunde tagte, die bis zum Morgengrauen ihre Blätter drosch. Als der Korschenbroicher Berti mal wieder versuchte, die Einhaltung der Ernährungsregeln und des Zapfenstreichs zu kontrollieren, und an die Tür von Briegels Gemach klopfte, öffnete der Athlet mit der Statur eines Zehnkämpfers, schaute auf den Gnom herab und bellte ihn an: »Was willst du hier? Ich hab’ ein Superblatt! Laß dich hier nie wieder blicken!«

Ich freue mich mittlerweile auf jede neue »Blutwurstgrätsche«, denn da sind Schnurren zu hören, die zeigen, daß die Geheim- oder Realgeschichte des deutschen Fußballs noch geschrieben werden müßte. Merkwürdigerweise hat aber just an der wahren Historie des Fußballs, an seiner »Geschichte von unten«, der durch Boulevardschleim verschlammte Medienapparat nicht das geringste Interesse – obwohl Tratsch und Klatsch prinzipiell in seinen Zuständigkeitsbereich fielen.

»Es ist doch immer dieselbe Suppe, die hier rumschwimmt«, sagte Thomas Berthold neulich in einem Interview mit dem Magazin 11 Freunde, gefragt, was er von der hiesigen Fußballjournaille halte. Und weil man als Freund des Fußballs diese Suppe permanent auslöffeln muß, ereilt einen nebst der morgendlichen auch noch die abendliche Schwermut, kauernd vor der Stammkneipen-Gonorrhöe-Glotze, aus der das nichtige Moderatoren-, Experten- und Kommentatorengesabber herausschwappt, bis sich die Seele der Sintflut des Schwachsinns hingibt.

Wer müßte sich da nicht besinnungslos betrinken – beziehungsweise besinnungslos trinken?

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