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Der Elfmeterpunkt

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Meine sehr verehrten Damen und Herren,

was sagen Ihnen die Namen Loy – Eigenbrodt, Höfer – Stinka, Lutz, Weilbächer – Kreß, Sztani, Goethe, Lindner, Pfaff?

Eben.

Und wer pfiff?

Klar. Schiedsrichter Asmussen aus Flensburg pfiff. Mit Ernst Huberty zu raunen: »Asmussen, ein Name, den man sich merken muß.«

Und Asmussen pfiff hervorragend an jenem 28. Juni 1959 im Berliner Olympiastadion, denn er pfiff, weil er langsam mal nach Hause wollte und es deshalb höchste Zeit für eine Vorentscheidung wurde, in der ersten Minute der Verlängerung Elfmeter, und zwar einwandfrei für die richtige Mannschaft.

Dort drüben, jenseits des Mains, in einer Stadt called Offe’bach, hat man sich mit der historischen Wahrheit bis heute nicht anfreunden mögen, aber es war unbestreitbar so, daß ein Spieler namens Lichtl den großen Richard Kreß – übrigens der älteste Akteur beim Start der Bundesliga 1963 – im Strafraum zu Fall gebracht hatte, und Asmussen zeigte auf den, mit Manni Breuckmann zu reden, »ominösen Punkt«.

Wie wir alle wissen, verwandelte Goethe den Strafstoß zum psychologisch äußerst wichtigen 3:2, und … Halt! Stop!

Ich fange noch mal von vorne an.

Sagt Ihnen der Name Peter Handke etwas? Handke? Nicht Mike Hanke! Peter Handke hat die später zu allem Überfluß auch noch von Wim Wenders verfilmte Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter zu verantworten, ein ziemlich dubioses Opus, für das der Torwächterpartisan Petar Radenković die lobenden Worte gefunden haben soll: »So ein Unsinn!« Beziehungsweise: »Nix viel über Fußball.« Beziehungsweise war ihm, überlieferte Hellmuth Karasek, dazumal Kulturredakteur beim Spiegel, das Buch von der Redaktion zur Rezension geschickt worden. Radenković lehnte brieflich ab: »Titel ist Bledsinn! Torwart hat nicht Angst beim Elfmeter. Hält er, ist er Held. Hält er nicht, ist Schütze Idiot.«

Hält er, ist er Held. Dito ein Satz, den man sich merken muß.

Handke indes hatte exakt zehn Jahre nach dem besten Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft aller Zeiten überdies den Lyrikband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt veröffentlicht, in dem das Gedicht »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968« zu lesen war:

Wabra

Leupold – Popp

L. Müller – Wenauer – Blankenburg

Starek – Strehl – Brungs – H. Müller – Volkert

Tja. Das heißt: Auch hier war Handke ein gravierender Fehler unterlaufen. Nicht Leupold hatte neben Popp als linker Verteidiger agiert, sondern Hilpert. Leupold wiederum hatte in der 76. Minute Blankenburg ersetzt. Verstehe einer diesen Dichter!

Ich allerdings verstehe meine Entscheidung recht gut, Feigenspan, der dazumal die Eintracht auf die Sie-gesstraße führte, durch Goethe substituiert zu haben. Vom f zum g ist es im Alphabet nur ein winziger Schritt, und beide sind große Frankfurter. Im Verbund mit einem dritten, dem Volksgenie Anton Hübler, bilden sie eine strahlende Trinität, vollkommen stimmig und einträchtig im Alphabet neben- oder hintereinander aufgereiht: f – g – h. Feigenspan – Goethe – Hübler. Die Umbenennung der SGE in FGH Frankfurt – Freunde Großer Helden Frankfurt –, sie sei hiermit bei der Stadt beantragt, wenn die denn für so was zuständig sein sollte.

Anton Hübler, den wir hier nochmals mit großer Freude und großem Applaus begrüßen –, Anton Hübler ist wahrscheinlich der einzige Zeugwart der Welt mit Legendenstatus. Ein Eintracht-Fanklub trägt seinen Namen – das »Kommando Anton Hübler« – und ehrt dergestalt das Wirken eines Mannes, der 1954 auf dem Arbeitsamt in Langen auf eine Anzeige gestoßen war. Die Eintracht suchte einen Gärtner, Anton Hübler bewarb sich, bekam die Stelle, und fünf Jahre später legte er geraume Zeit vor dem Finale im Riederwald ein Geranienbeet an, auf dem die von Fans und Händlern aus der Großmarkthalle spendierten Blumen den Schriftzug »Deutscher Meister Eintracht Frankfurt« bildeten. So gewinnt man Titel, werte Offenbacher!

Völlig einleuchtend lebt Anton Hübler heute in Urberach einen Steinwurf entfernt vom dortigen: Waldstadion – und hält als jemand, der vierzig Jahre lang treu und integer der Diva diente, die Erinnerung an Zeiten wach, in denen Stadionsponsoring und ähnliche Krämpfe nicht zum dieser Tage oft mühsalbeladenen Fußballalltag gehörten.

Der Name »Waldstadion«, er gemahnt zudem an die lauschigen, idyllischen Passagen in Goethes lyrischem Œuvre, etwa an das Gedicht »Ich ging im Walde so vor mich hin«, in dem das lyrische Ich auf eine Blume stößt, deren Schönheit es beinahe dahinschmelzen läßt: »Ich wollt’ es brechen, / Da sagt’ es fein: / Soll ich zum Welken / Gebrochen sein? // Mit allen Wurzeln / Hob ich es aus / Und trug’s zum Garten / Am hübschen Haus. // Ich pflanzt’ es wieder / Am kühlen Ort; / Nun zweigt und blüht es / Mir immer fort.«

Berücksichtigen wir obendrein, daß der Goethe-Forscher und -Herausgeber und, notabene, Eintracht-Fan F. W. Bernstein die Hüblersche Geranienepisode zu seinem »schönsten Eintracht-Erlebnis« erkor – noch vor Hölzenbeins Auftritten, Holz »ging«, sagt Fritz, immer »wie Kaltwasser durch die Verteidigung« –, dann ist vollends verständlich, warum der heute einzuweihende Anton-Hübler-Pfad, mit dem die sogenannte Landschaftslücke des GrünGürtels zwischen Ostpark und Mainufer vorläufig geschlossen wird, dem bedeutenden Bundesligabotaniker und Zeus unter den Zeugwarten gewidmet ist. Wir verneigen uns!

Und wir ziehen noch zwei weitere Hüte: vor Henner Drescher und Fritz Weigle. Fritz hat nicht bloß die Zeichnungen des Zyklus »Goethe und die Eintracht« zur Verfügung gestellt, die den Anton-Hübler-Pfad unter dem hochhumanistischen Motto »Hier bin ich Fan, hier darf ich’s sein« auf siegestrunken wehenden Fahnen zieren; Fritz hat obendrein der Stadt Frankfurt und den Fans des GrünGürtels ein neues komisches Kunstwerk geschenkt: den Elfmeterpunkt aus der Sicht der Innenwelt des Feigenspan vorm Abschluß mit dem Außenspann.

Beziehungsweise: Was sagt derjenige, der die Installation »Der Elfmeterpunkt« entworfen und zusammen mit Henner Drescher in allen drei Raumdimensionen dieser Welt realisiert hat? Ich schalte um zu Fritz Weigle: »Die Erdachse wird in den GrünGürtel verlegt, und zwar in den Ostpark. Dort ist ein Biotop freilaufender Fußballspieler. Am Rande des Spielfeldes ragt jetzt die Erdachse, und sie trägt an ihrer Spitze den Elfmeterpunkt, der sonst vor dem Tor flachliegt. So wird der Rasen zugleich geschont und geschmückt.«

Auf dem Elfmeterpunkt liegt der Ball, ein klassischer WM-Ball aus Fünfecken wohlgemerkt, ein Ball, wie ihn Bernd Hölzenbein 1974 vor sich her trieb, bis ihn Wim Jansen von den Hölzenbeinen holte und Holz somit einen nicht ganz unbedeutenden Elfmeter rausholte. Dieser Ball aber liegt nicht eigentlich, sondern ragt – in den Himmel. Er ist, auf die Erdachsenfahnenstange gepfropft, gewissermaßen ein Fingerzeig, ein Hinweis auf die metaphysischen, ja numinosen Dimensionen des Elfmeters, auf das Inkalkulable des Strafstoßes (geht er rein – oder nicht?), auf die Abhängigkeit eines Spiels von der protogöttlichen Befugnissen geschuldeten, unumkehrbaren Entscheidung des Referees, auf die Verdichtung der menschlichen Existenz auf einen einzigen Augenblick, in dem das Befinden der Außenwelt, also der Zuschauer, auf Gedeih und Verderb der Verfassung der Innenwelt des Schützen ausgeliefert ist (hat er die Hosen voll, oder versenkt er die Pille eiskalt?). Ja, der Bernstein/Dreschersche »Elfmeterpunkt«, ist er nicht die zeitgemäße Antwort auf Michelangelos Fresko »Erschaffung Adams durch Gott«, ein Zitat des Motivs des ausgestreckten Fingers, ein Verweis auf den Funken (nicht Funkel!), der einer Mannschaft in einer verloren geglaubten oder auf der Kippe stehenden Partie neues Leben einhaucht – qua Elfmeterpfiff? Ist der aufgerichtete, im Winkel der Flugbahn eines Space Shuttles gen Firmament sich streckende Elfmeterpunkt samt Ball nicht ein Sinnbild des Strebens nach Höherem, nach Vollendung, ein Sinnbild der Sehnsucht, der Ebene, den Flachheiten des Lebens zu entkommen? Wollte nicht Goethe die Welt aus den Angeln heben, und war nicht der archimedische Elfmeterpunkt das geheime Zentrum seiner Studien und Schriften? Kreisten Goethes Sinnen und Trachten und Dichten und Denken nicht einzig und allein um die Idee, den erdgebundenen Menschen im Unendlichen, im Ewigen, im Triumph des Wahren, Schönen und Guten, das heißt im Moment, da die Eintracht die Deutsche Meisterschaft gewinnt, zu veredeln?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie soll ich aus dieser Nummer wieder rauskommen? Mit der Hilfe von Henner Drescher. Ich schließe mit einer Strophe aus seiner »Lobeshymne auf Anton Hübler« und bitte Sie, sie genauso auswendig zu lernen wie den Fünfzeiler »Loy / Eigenbrodt, Höfer / Stinka, Lutz, Weilbächer / Kreß, Sztani, Feigenspan, Lindner, Pfaff / Ersatz: Goethe«:

»Vor Toni Hübler wußt’ man nicht / so recht, was ist des Zeugwarts Pflicht, / da Toni ist so aufgegangen, / so glorreich und so unbefangen, / träumt man heute vom Modell / Power-Toni aktuell.«

Ich danke Ihnen.

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