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Zweiter statistisch-kritischer Einschub: THE BOOK OF TALIESYN

1. Listen, Learn, Read On

2. Wring That Neck

3. Kentucky Woman

4. Exposition/We Can Work It Out

5. The Shield

6. Anthem

7. River Deep, Mountain High

erschienen im Oktober 1968 (Tetragrammaton, USA) beziehungsweise Juli 1969 (Harvest/EMI)

Die Verwirrung darüber, was für eine Art Band Deep Purple denn nun eigentlich sei, wurde und wird durch ihr zweites Album eher noch verstärkt. „Anfangs hatten wir ziemliche Schwierigkeiten zu beweisen, daß wir keine Teeny-Bopper-Band sind“, stellt Ritchie Blackmore später fest. Da kollidierte das Bemühen um hitparadenfähiges Popmaterial mit undergroundtypischem „Anspruch“, Heavy-Rock-Geboller mit Anglo-Folklore-Mystifizierung – man beachte den „Erklärungstext“ auf der Coverrück­seite: „Taliesyn, Barde des märchenhaften Königs Arthur im schönen Camelot, wo er für Unterhaltung sorgte und die wechselnden Stimmungen am Hof einfing. The Book Of Taliesyn ist eine moderne Darstellung von sieben unterschiedlichen Gefühlen, wobei die Musiker Ritchie, Rod, Ian, Nicky und Jon die musikalischen Stimmungen umsetzen, unter der spirituellen Leitung von Taliesyn. Das ‚Buch‘ findet seinen Zweck nicht in sich selbst; es ist nur ein neues, erweitertes Glied in der Kette, die über das ursprüngliche Werk hinaus durch mächtige Ozeane ins unerforschte Reich unerhörter Musik führt, hier dargebracht als Teil der musikalischen Progression, die sich als Deep Purple entwickelt. Stellen Sie die höchste Lautstärke ein, und genießen Sie das sanfte Flüstern ihrer Seelen.“

Wem beim Lesen solcher Worte der Name Candice Night auf die Zunge gerutscht ist, der liegt vielleicht nicht ganz falsch. Man beachte aber auch, daß nach dem Science-fiction-Weltraum-Getue der mittleren sechziger Jahre nun insgesamt das Mittelalter als Anknüpfungspunkt und Vor­lagenfundgrube zumindest in der britischen Popmusik groß im Schwange war. Zur gleichen Zeit, als Deep Purple sporadisch an ihrem zweiten Album arbeiteten, ging ein anderer zeitgenössischer „Barde“ namens Robert Plant daran, sich ebenfalls ein Stück vom Camelot-Mythos, nebst einigen Scheiben von anderen, weitaus verstiegeneren Überlieferungen, abzu­säbeln und sie per Luftschiff zu den amerikanischen Massen zu transportieren. Daß er ein paar Wochen später dran war, wurmte ihn derart, daß er, wie wir noch hören werden, fürderhin nicht müde wurde, verbal auf die vermeintlichen Rivalen einzuhacken.

Das Tempo ist auch diesmal ein Problem, aber kein so großes mehr wie beim Debüt. Der von Rod Evans etwas arg salbungsvoll-verhallt dargebotene Opener „Listen, Learn, Read On“ ist merklich hastig zusammengestückelt, das Riff nicht wirklich originell, der Chorus etwas oft und unmoti­viert dazwischengeschnitten, und es mag das Ganze auch einen Tick zu schnell gespielt sein. Indes ist das geglückte Bemühen um avancierteres, weniger derivatives Songwriting in diesem Fall nicht zu überhören. Der Text, ein vage historisierender Aufruf zur Beschäftigung mit dem Taliesyn-Mythos, könnte sich bei intensiverer Exegese als Hinweis auf ein Motiv von Blackmores Hingezogenheit zur seligen Vergangenheit erweisen: „In vergangenen Zeitaltern, als man Zaubersprüche sprach / In einer Zeit von Männern und Stahl / Wo ein Mann nichts Bestimmtes gelehrt wurde / Man alles nach Gefühl machte …“ Allerdings verliert Evans sein Thema dann zusehends aus den Augen und verrennt sich in Symbolschmeißerei und dunklen Andeutungen: „Ich werde euch größere Dienste erweisen als dreihundert Lachse.“ Mag jeder selbst grübeln, was das soll.

Es folgt „Wring That Neck“ – auf dringliches Beharren der Tetragrammaton-Verantwortlichen wurde das Blackmore/Simper-Instrumental fürs US-Publikum in „Hard Road“ umbenannt. Der Grund dafür ist nur zu ahnen: Möglicherweise wußte Artie Mogul nicht, daß man das lange Ding, das an einem Gitarrenkorpus dransteckt, „Hals“ nennt, und befürchtete eine indizierungsfähige Gewaltanregung. „Den Hals wringen“ bedeutete im Deep-Purple-Bandjargon aber nicht mehr als eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Griffbrett. Da möchte man meinen, aus Versehen den Kanal gewechselt zu haben, so gänzlich anders als der Song zuvor tönt das: wie eine düsentriebmäßig überdrehte Version eines James-Last-Fegers aus dem Sonntagnachmittagsprogramm, die im Grunde auch kein Song ist, sondern bloß eine kaum abgewandelte Variante des alten Blues-Schemas, zickig und unblau heruntergeklopft als Startbahn für Soloaktivitäten, bei denen sich – und das ist das einzig Erfreuliche an der ansonsten komplett überflüssigen Nummer – Ritchie Blackmore diesmal deutlich besser eingerichtet hat und wohler fühlt als auf Shades Of Deep Purple.

Jon Lord übrigens auch, das darf er bei Neil Diamonds „Kentucky Woman“ zeigen, das schwungvoll und rund daherrollt und in dem Rod Evans ein paar ziemlich gillaneske Krächzer losläßt. Da verwandelt sich die übereilte Rumpeligkeit in spürbare, aber unaufdringliche, ähem, Dringlichkeit. Um den Erfolg von „Hush“ zu wiederholen, fehlte der „guten Miss“ (pop, Februar 1969: „Die gute Miss hat Schwung und Rasse!“) die ohrwurmfähige Chorusmelodie, aber das macht einen Schlager nicht schlechter, bloß weniger wirksam.

Was „Prelude: Happiness“ auf Shades Of Deep Purple war, ist „Exposition“ auf diesem Album: eine pathetische, diesmal nicht ganz so belanglose, auf Tschaikowskys Romeo & Julia-Ouvertüre beruhende Einleitung in eine Coverversion. Die wiederum, „We Can Work It Out“ von den Beatles, ist von der Vorlage her eine Klasse besser als „I’m So Glad“ – aber leider gänzlich uninspiriert umgesetzt, wenn man nicht an den Haaren herbeiziehen möchte, daß die Begleitung zu Jon Lords Minisolo den Samen für „Highway Star“ enthält. Es mangelt dieser Interpretation nicht an Ideen, aber sie sind alle schlecht oder passen so wenig zusammen, als rührte man Schokolade, Waschpulver und Rasierklingen in einen Topf. Vielleicht war ganz einfach der Schatten der „Exposition“ zu schwer und dunkel, um sich aus ihm zu erheben, vielleicht wäre es auch die bessere Wahl gewesen, die nie im Studio eingespielte, live und für die BBC-Sendung Top Gear aber recht anständig reproduzierte Ben-E.-King-Nummer „It’s All Over“ an die Stelle einer erneuten Beatles-Anknüpfung zu setzen.

Da möchte man schon aufgeben, würde dann aber Wichtiges verpassen: „Shield“ nämlich, einen wunderschönen Song mit geklauter, aber geschickt montierter Hookline, unaufdringlich einfühlsamer Semisoloarbeit, in dem die Band nun endlich zeigt, daß sie tatsächlich eine Band ist oder wenigstens werden könnte. Im ausgedehnten Mittelteil, getragen von synkopischer „Pferdehuf“-Klapper-Percussion, läßt Ritchie Blackmore die Luft aus seinen Fingern, bespannt sie mit Daunenfedern und gleitet in einen mäandernden Melodiefluß hinein, der eigentlich das Album allein schon wert wäre. Mit „Anthem“ folgt aber noch ein dritter eigener und „richtiger“ Song, der ein Mellotron vorführt und ein bißchen die Doo-wop-Romantik der fünfziger Jahre herbeizitiert, das aber gesanglich so behutsam und perfekt tut, daß man sich gar nicht gern von der plötzlich hereinplatzenden Streicher-Gitarre-Sektion unterbrechen läßt. Doch löst sich diese unpeinlich, überzeugend und ohne Spektakel und Firlefanz wiederum in den Song selbst auf. Da ist man baff bei soviel Geschick und Gespür in Komposition, Arrangement und Interpretation und war es noch mehr bei Erscheinen der Platte.

Über die Deep-Purple-Version von „River Deep, Mountain High“ schließlich ist viel Abfälliges gesagt und geschrieben worden, so viel in der Tat, daß man sich beim Hören und Wiederhören wundert. Freilich muß hier Pathos her, bis hin zum augenzwinkernden „Also sprach Zarathustra“-Zitat, weil die LP sonst nach dem dynamischen Seiltanz von „Shield“ und „Anthem“ mit einem großen Furz in den Graben geritten würde. Aber von den aufgeblasenen, viel zu weit nach vorn und oben gemischten Hallchören abgesehen, die Ian Paice vergeblich zu zertrümmern versucht, fetzt das nach der spannenden Einleitung doch recht ordentlich. Man sollte halt unbedingt vermeiden, das brodelnde Original oder gar die infernalische Tsunami-Version dagegenzuhalten, die die australischen Proto-Punkrocker The Saints 1977 aufnahmen. Sonst sind Hopfen, Malz und Purpur in diesem Fall für alle Zeiten verloren.

Aber was für eine Art Band waren Deep Purple denn nun? Vermutlich wußte das niemand sowenig wie sie selbst; vermutlich keimten im Gefüge des Quintetts deshalb auch schon gewisse Unzufriedenheiten und Spaltpilze, die vorläufig der hektische Terminplan und diverse individuelle Hoffnungen am Erblühen hinderten. Es bleibt festzustellen: Der etwas alt­modi­sche Psychedelic-Beat-Crooner, der höchst versierte Rock-’n’-Roll-Bassist, der klassikfixierte Tastenedelmann, der professionelle Schlagzeug-Kassenwart und der ewig unterschätzte Gitarren-Hansdampf-in-allen-Gassen, der alles spielen konnte und auf Verlangen spielte, was nicht schwarzer Hautfarbe war, diese fünf heterogenen Herren waren mit ihrem übereilt hinterhergekickten zweiten Album einen gewaltigen Schritt vorangekommen. „Ich verstehe nicht, was bei dieser Platte schiefgegangen ist“, schrieb John Peel im Disc & Music Echo, „es ist alles irgendwie zu beherrscht. Alle Nummern sind gut durchdacht und gut gespielt, aber nicht richtig aufregend.“ Wir dürfen ruhig etwas gnädiger sein: Drei Monate nach dem ersten Album und ohne Zeit, um Songs zu schreiben oder im Studio vernünftig zu arbeiten, hätte niemand mehr erwartet. Realistischerweise wahrscheinlich nicht mal dies.

Schön war die Platte außerdem, von außen. Daß der Künstler und spätere Professor für Illustration an der Universität Brighton, der das Coverbild malte, zufällig John Vernon Lord hieß, sei nur am Rande erwähnt.

Daß Tetragrammaton eine junge, mit scheinbar unerschöpflichen Mengen Geld gedüngte Firma ist, erweist sich weiterhin als Glücksfall für die junge, mit scheinbar unerschöpflichem Arbeitseifer gesegnete Band. Der Tetragrammaton-Angestellte Jeff Wald, der die erste US-Tournee für Deep Purple gebucht hat und dabei gleich auch noch den Job des Tourmanagers und des Fahrers übernimmt, ist nur in einer seiner drei Professionen ein Ausfall. „Er war ein sehr schlechter Fahrer. Er hat die ganze Zeit Joints geraucht und war ständig dermaßen zugedröhnt, daß der Bus nur so durch die Gegend schlingerte“, erzählt Jon Lord. „Er wollte uns halt die Gegend zeigen. Einmal, als er gerade begeistert auf einen Berg deutete, hat uns Ian Paice das Leben gerettet, indem er das Lenkrad packte und rumriß und so einen Frontalzusammenstoß mit einem riesigen Laster ver­hinderte.“

Neben eigenen Headliner-Auftritten hat Wald einen perfekten Coup gelandet, um die Band nicht nur beim großen, sondern auch beim Underground-Publikum, das sie bislang als Hitfutter verschmäht oder gar nicht kennt, einzuführen: das Vorprogramm der Abschiedstournee von Cream, jener britischen „Supergroup“, die maßgeblich zur Popularisierung des Heavy Rock beigetragen hat, obwohl sie den Stil selbst nur sehr sporadisch spielt. Die ausufernden, virtuosen und immens lautverstärkten Blues-Improvisationen von Eric Clapton, Ginger Baker und Jack Bruce sind jedoch in mancherlei Hinsicht die Formatvorlage für jeden, der im Aufdrehen der „Volume“-Regler eine unabdingbare Voraussetzung für anständiges Rockschaffen sieht.

Der wesentliche Unterschied zwischen Cream und Deep Purple ist die erwähnte Blues-Orientierung. Einigermaßen kurz umrissen ist „Blues“ ein Sammelbegriff für Niedergeschlagenheit, Trübsal, Trauer, verletzten Stolz, gebrochenes Herz, Einsamkeit und andere Gefühlsregungen, die vor allem Männer vornehmlich dann übermannen, wenn sie vom Gegengeschlecht nicht so behandelt werden, wie es sich alter Sitte gemäß ziemt. Musikalisch umgesetzt werden sie in elegischen bis zornwütenden, gefühlsduseligen bis ehrlich rührenden, bisweilen mit- und hinreißenden, vornehmlich auf Gitarren und der Grundlage einer zwecks Sturmfreiheit der Improvisation unveränderlich festgeschriebenen Zwölftaktabfolge von drei Akkorden zelebrierten – eben: Improvisationen, bei denen es Sitte und Ziel ist, sich beiderseits der Grenze von Erzeuger und Rezipient „gehenzulassen“, um die Not zu lindern, und dorthin zu taumeln, schweben, gründeln, kriechen oder sich vorzukämpfen, wo die Vernunft nicht Einlaß findet und das „reine“ Gefühl regiert.

Wir ahnen, daß derlei mit Ritchie Blackmore nicht zu machen ist. Sogar Satan selbst, der sich nötigenfalls ja beschwören oder ähnliches ließe, fürchtet der nicht so sehr wie den Kontrollverlust als solchen, zumal vor Menschen. Außerdem ist ihm die Sache zu „begrenzt und beschränkt“; er mag sich solch starren Strukturen nicht fügen. Sein Verständnis von Improvisation ist ein gänzlich anderes. Wenn da ein Gefühl hineinspielen soll, so wird es gegebenenfalls erzeugt; alles weitere folgt einer musikchemischen Formel aus Übung, Witz, Architektur und Zirkuszaubertricks.

Doch ist die Improvisation für Deep Purple eine entscheidende, im Lauf ihres kurzen Bestehens (sechs Monate!) schon aufgrund von Eile, wenigstens punktueller Unerfahrenheit aller Beteiligten, Zeitdruck und generell mangelnder Planbarkeit derlei unerprobter Karriereverläufe prägende Vorgehensweise, die, wo sie schon mal da ist, auch musikalisch angewandt und umgesetzt wird und sich als erstaunlich fruchtbarer Nährboden erweisen wird. Was die Verbindung mit Cream darüber hinaus attraktiv macht, ist deren geglückte Verknüpfung von „kompakten“, radiotauglichen Pophits wie „Sunshine Of Your Love“ und „White Room“ mit Underground-Glaubwürdigkeit und der Autorität des Virtuosen. Da die Trennung des Trios bereits feststeht, scheint die Abschiedstournee die ideale Gelegenheit, sich als „Nachfolger“ zu etablieren – was selbstverständlich auch die darob zornschäumende Konkurrenz weiß, insbesondere die gerade erst richtig gegründeten New Yardbirds. Ritchie Blackmore allerdings – wer hätte es erwartet? – sieht die Sache ein bißchen nüchterner. „Ich mochte Cream ganz gern, aber mit Clapton konnte ich nie was anfangen“, sagt er ein paar Jahre später dem Magazin Music Scene. „Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie gut er sein müsse, und als ich ihn dann sah, war ich enttäuscht.“

Eigentlich sollen Deep Purple, beginnend mit dem 4. Oktober, alle neunzehn Konzerte der Cream-Tournee eröffnen, aber die Pläne werden mal wieder überstürzt geändert, als man bei Tetragrammaton feststellt, daß das aufgenommene Material für ein ganzes Album nicht reicht. Also wird ein weiterer Song gefordert, der möglichst auch gleich eine zweite Single (nach „Kentucky Woman“) liefern soll – „River Deep, Mountain High“. Am 15. Oktober 1968 trifft die Band endlich auf dem Flughafen von Los Angeles ein und tritt am 17. in der beliebten Fernsehshow The Dating Game auf, der seit 1965 und bis heute laufen­den Vorlage für das deutsche Herzblatt – ein Novum, das sich der „multimedia­len“ Verflechtung ihrer Plattenfirma verdankt. „Wir waren die erste ­Rockband überhaupt in der Show“, betont Jon Lord. „Einer von uns mußte bei dem Spiel mittun, und ich war nicht schnell genug aus der Schußlinie. Deep Purple sagten dem Mädel aus gutem Haus nicht allzuviel. Der erste Kandidat war ein College­junge aus Encino, dann kam ‚Jon, Musiker aus England‘. Eine Frage lautete: ‚Du holst mich zu Hause ab, und mein Vater ist an der Tür und sagt, du sollst dir die Haare schneiden lassen. Würdest du das für mich tun?‘ Ich sagte: ‚Auf ­keinen Fall! Wenn er und du mich nicht so mögen könnt, wie ich bin, habe ich da nichts verloren.‘ Ich war echt sauer, daß sie mich nicht gewählt hat, sie war sehr hübsch.“

Am Freitag, dem 18. Oktober, spielen Deep Purple ihr erstes Konzert auf amerikanischem Boden: im Inglewood Forum bei Los Angeles vor sechzehntausend Zuhörern (mittlerweile auf dem Album Inglewood – Live At The Forum nachzuhören). Zwei weitere Auftritte folgen: am Samstag am selben Ort, am Sonntag im Stadion von San Diego. John Coletta, Derek Lawrence und Ian Hansford begleiten die Band, die im Sunset Marquee Hotel am Sunset ­Boulevard untergebracht ist, und die nebelgewohnten, blassen Engländer staunen nicht nur über das kalifornische Klima, sondern auch über die Arbeitsatmosphäre in den Büros ihrer Plattenfirma am Rodeo Drive. „Es war unglaublich“, erinnert sich Derek Lawrence. „Die hatten da einen Vollzeitkoch, und wenn man morgens kam, konnte man fürs Mittagessen bestellen, was immer man wollte. Zweimal täglich kam ein Florist und wechselte in allen Räumen die Blumen. Und es wurden die seltsamsten Verträge geschlossen; da gab es zum Beispiel diese Sängerin, Elyse Weinberg, von der veröffentlichten sie fünf Singles am selben Tag.“

Inzwischen sind Deep Purple bei Tetragrammaton in besserer, wenn auch kontroverser Gesellschaft. Die von Capitol Records, dem US-Ableger der EMI, wegen des Nacktbilds auf dem Cover abgelehnte LP Two Virgins von John Lennon und Yoko Ono steht ebenfalls im Katalog. Aber auch mit mehr Klienten bleibt die Firma über das Branchenübliche hinaus spendabel. „Als wir ankamen, wartete eine ganze Kolonne von Limousinen auf uns“, erzählt Jon Lord. „Es war ein warmer Abend, überall Palmen – gegen unsere Absteigen im kalten England wirkte das wie das Paradies. Am ersten Abend waren wir auf eine Party einge­laden, im Penthouse des Playboy Club; da trafen wir Bill Cosby und Hugh ­Hefner, für den wir in der Fernsehshow Playboy After Dark auftraten. Ian Paice ist sehr kurzsichtig, aber er weigerte sich, eine Brille zu tragen, stolperte lieber besoffen herum und versuchte sich an Jackie De Shannon ranzumachen. Jim Brown, ein riesiger schwarzer Schauspieler und ehemaliger Footballspieler, sagte in einer sehr tiefen Stimme zu ihm: ‚Schieb ab, kleiner Mann!‘ Am nächsten Abend kündigte Artie Mogul an, er werde uns ein paar Frauen besorgen, und eins nach dem anderen kamen diese entzückenden Mädchen im Hotel an, führten uns zum Essen in Restaurants aus und brachten uns dann zurück ins Hotel zu gymnastischen Vorführungen. Wir konnten einfach nicht glauben, was uns da passierte. Wir wurden behandelt wie totale Superstars.“

Ein bißchen musizieren müssen die fünf Engländer im Paradies aber auch noch. Das Set – man ist ja offiziell nur „Anheizer“ – schrumpft um die Hälfte auf eine gute Dreiviertelstunde, verteilt sich – man hat sich ja weiterentwickelt – gleichmäßig auf beide Alben und – man ist ja dankbar – konzentriert sich vor allem auf die poppigeren Coverversionen, von denen sich die Plattenfirma weitere Erfolge erhofft. „Kentucky Woman“, die zweite Nummer im Programm, wird denn auch ein Hit, bleibt aber weit hinter dem Eröffnungssong „Hush“ zurück. Rod Evans verzichtet indes darauf, das Publikum zu eventuellen Plattenkäufen anzuregen, die beiden Alben auch nur zu erwähnen. So etwas gilt – man ist ja „progressiv“ – als kommerziell und somit uncool.

Als einzige Bandkompositionen ertönen „Mandrake Root“ und „Wring That Neck“, vor und nach „Help“, ehe Deep Purple nach ihrer Version von „Hey Joe“ flugs die Bühne räumen müssen. Das tun sie nicht etwa (wie zuvor in England) unter Pfiffen, Becherhagel oder auch nur allgemeiner Gleichgültigkeit, sondern – obwohl das Zusammenspiel nach kaum zwanzig Auftritten manches zu wünschen übrigläßt und vor allem die Solobeiträge noch sehr überhastet und grob zusammengeschraubt wirken – enorm umjubelt und mit einem enormen Selbstbewußtsein, was einigen Leuten hinter der Bühne zu denken gibt. Sie denken schnell und handeln noch schneller: Nach dem dritten Auftritt (in San Diego) fliegen Deep Purple aus dem Cream-Vorprogramm. „Wir verstanden uns gut mit ihnen“, erzählte Jon Lord in versöhnlicher Laune im Jahr 2000 in einem Interview mit dem Leicester Mercury. „Sie hatten keine Ahnung, daß man uns rausschmeißen wollte. Dafür waren sie viel zu stoned.“ Derek Lawrence sieht die Sache so: „Ritchie baute in seine Soli alle möglichen Sachen ein, ein Zitat aus Chet Atkins’ Version von ‚White Christmas‘ und sogar ‚God Save The Queen‘. Er war der erste Gitarrist, der so was machte: lustige Überraschungsgags in Hard-Rock-Nummern, einfach zum Spaß. Cream fanden das gar nicht lustig, aber das Publikum war begeistert, und da sie mit ‚Hush‘ auch noch eine Hitsingle hatten, kamen sie sehr gut an, wahrscheinlich zu gut.“ Überrascht über die Reaktion des Publikums zeigt sich Ritchie Blackmore noch viele Jahre später: „Als ich das erste Mal nach Amerika kam, dachte ich: Was soll ich hier, wo sie all diese phantastischen Gitarristen haben? Ich bin mit der Musik von Speedy West, Jimmy Bryant und solchen Leuten aufgewachsen. Als ich dreizehn war, fand ich es unfaßbar, wie gut die waren. Ich dachte: Wenn ich nach Amerika gehe, werde ich umgebracht.“ Aber der „Hush“-Hit hat die amerikanischen Ohren geölt, und Blackmore tut das Seine, sie weiter zu öffnen – zu weit für Eric Claptons Geschmack vielleicht.

Ein nicht so arg kleiner Trost bleibt: Jimi Hendrix war am Samstagabend im Forum, um Cream zu sehen, und hat danach nicht nur diese, sondern auch Deep Purple in sein Haus in den Hollywood Hills eingeladen. Für Blackmore gerade Ehre genug, um Eric Clapton nicht mit einem „practical joke“ für ein paar Wochen spielunfähig zu machen.

Nun, nach einem Auftritt beim San Francisco International Pop Festival am 27. Oktober (mit Creedence Clearwater Revival, Eric Burdon & The Animals, Canned Heat und Iron Butterfly), müssen Deep Purple also ganz auf eigenen Beinen stehen, und daß sie das können, zeigt und bewirkt der Jubel der Festival­besucher, die die Band Augenzeugen zufolge mit stehenden Ovationen ver­abschieden – wenn man bedenkt, daß auf Festivals an der US-Westküste Ende der sechziger Jahre für gewöhnlich ab Mittag kaum mehr jemand in der Lage ist zu stehen, kann man sich vorstellen, mit welch geschwollenen Brüsten die fünf Neulinge von der Bühne gehen. Der Jubel hat geschäftliche Folgen: Das Telephon von Jeff Wald, der eigentlich nur ein paar Tage mit eilends anberaumten Konzerten überbrücken will, steht nicht mehr still, bis die Tour um vier Wochen verlängert ist. Das überbordende Selbstbewußtsein der Band äußert sich aber auch in Interviews, in denen immer mal wieder danach gefragt wird, wieso eigentlich in der britischen Heimat kaum jemand was von Deep Purple hören will. „Hier in den USA läuft alles prima“, sagt Ian Paice zu Tiger Beat, „und mir ist es eigentlich egal, ob wir in England was reißen oder nicht. Das ist so eine lächerliche Szene dort. Wenn du gut bist und ein Schreiberling das Gegenteil behauptet, geht kein Mensch mehr hin, um sich selbst zu überzeugen.“ Nick Simper erklärt einem kanadischen Reporter: „Das englische Publikum interessiert sich viel mehr für die Präsentation. Die denken, sie haben schon alles gesehen, also mußt du ihnen eine echte Show bieten. Alle wollen eine Show, einen Aufzug, irgendwas Ausgeflipptes, keine Musik. In San Francisco war das ganz anders, da brauchten wir bloß Musik zu spielen. Da hört man dir zu, egal ob du eine große Band oder ein Niemand bist. In England ist der Blues jetzt groß im Kommen, und darum sind wir nicht dort, sondern hier.“ Schon vor der Tournee hat Jon Lord dem britischen Magazin Beat Instrumental seine Meinung gesagt: „Wir wußten von Anfang an, daß England nicht so offen für eine wirklich neue Band sein würde wie Amerika, darum wollten wir auch bei einer amerikanischen Firma unterschreiben. Englische Firmen wenden grundsätzlich weder Zeit noch Mühe für dich auf, solange dein Name nicht etabliert ist. Aber dann ist es ein bißchen spät, nicht wahr?“

Viele Jahre später wird sich Ian Paice erinnern: „In Amerika konnte man damals viel mehr Aufruhr erregen als in England. Wir sind nach San Francisco raufgefahren und hatten keine Ahnung, was dort so los war. Da haben sie immer noch von Peace & Love geträumt, und dann kommt diese englische Band daher, total aggressiv, drischt drauflos und spielt extrem laut. Die wußten gar nicht, was sie mit uns anfangen sollten.“ Die Amerikaner sind, so scheint es, heilfroh, endlich eine britische Band gefunden zu haben, die nichts mit Blues am Hut hat und so richtig die Sau rausläßt. Als Ritchie Blackmore während eines Auftritts auf der Abschlußfeier der University of Southern California in Los Angeles mit seiner Gitarre die gläserne Bühnendecke in Scherben haut, rasen die Studenten vor Begeisterung. Und im New Yorker Club Electric Garden muß die Band über Weihnachten und Neujahr gleich sieben Konzerte hintereinander geben.

Artie Mogul sieht den Bühnenerfolg „seiner“ Band mit leicht gemischten Gefühlen, denn auch die zweite Single aus dem zweiten Album, „River Deep, Mountain High“, bleibt in den tiefen Tälern der US-Hitlisten stecken, verkauft sich jedoch besser als das Original von Ike & Tina Turner. Zudem sind mittlerweile gewisse, noch leise Gerüchte über die finanzielle Ausstattung seiner Plattenfirma im Schwange. Also schickt er seine potentiellen Hitlieferanten Ende Dezember in New York, wo sie ein paar Tage freihaben, ins Studio – und zuvor in den Plattenladen: Mangels eigenen Materials (und, wenn es solches gäbe, mangels Vertrauens in dieses) soll eine neue Coverversion endlich den „Hush“-Coup wiederholen. Den ersten Nachmittag verbringen Deep Purple also damit, alle möglichen und möglichst nicht allzu bekannten US-Platten durchzuhören.

Ritchie Blackmore hat auf Recherche dieser Art keine Lust. Er sitzt derweil an der nächsten Straßenecke in einer Bar und grübelt über die Zukunft seiner Band. Als sich seine Kollegen dann endlich für „Oh No No No“ (möglicherweise geschrieben von dem späteren Gary-Glitter-Hintermann Mike Leander) entschieden haben, ist Blackmore so blau, daß er immer wieder seinen Einsatz verpaßt. Da die Coverversion am Ende nicht übermäßig inspiriert klingt, versucht man sich auch noch an Bob Dylans „Lay Lady Lay“ und einem nur auf Notenblättern vorliegenden neuen Neil-Diamond-Song: „Glory Road“. Es will und will nicht hinhauen, obwohl Neil Diamond, der derweil in Texas auf Tournee ist, per Telephon seine Hilfe anbietet. Als Jon Lord ihm von den Umsetzungsschwierigkeiten berichtet, singt Diamond den Song ins Telephon. Lord macht sich Notizen auf seiner „Partitur“, aber auch der letzte Versuch geht schief. „Neil Diamond“, sagt Jon Lord, „mochte unsere Version von ‚Kentucky Woman‘ sehr, vor allem, weil er damals noch nicht sehr bekannt war. Wir haben ihm ein bißchen Geld eingebracht, und er wollte gern noch ein bißchen mehr verdienen. Es war das einzige Mal, daß ich mit ihm gesprochen habe.“

Tetragrammaton schreibt die Studiokosten ab und macht einen Kassensturz. In lediglich sechs Monaten, so lautet die stolze Bilanz, haben Deep ­Purple vier Millionen Platten verkauft. Trotzdem, stellt Tony Edwards fest, „kam immer noch weniger Geld herein, als hinausging“. Wie sich das angesichts sinkender Absätze – The Book Of Taliesyn strandet in den US-Charts dreißig Plätze tiefer als Shades Of Deep Purple, und die EMI bringt mit der üblichen Verspätung im Dezember „Kentucky Woman“ in die britischen Läden, nimmt die Platte aber sofort wieder aus ihrem Programm – ändern könnte, weiß zum Jahreswechsel, den die zunehmend heimwehkranken Musiker mit eigens eingeflogenen Frauen und Freundinnen in New York verbringen, niemand zu sagen. Nur Ritchie Black­more hat gewisse, noch geheime Pläne, und die, soviel ist ihm klar, werden nicht nur mit den Vorstellungen des rührigen Labels kollidieren, sondern auch mit denen einiger engerer Beteiligter.

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