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„Gebt mir eine Gitarre, und ich beweise euch, wie gut ich bin!“

Das zweite Kapitel, in dem immer noch nicht viel passiert, wir aber immerhin etwas über Ritchie Blackmore erfahren

„Glaubt ihr, daß sich die Musikfreunde in zukünftigen Zeiten genauso an eure oder auch andere Poptitel erinnern werden, wie man es heute bei Beethoven, Bach, Mozart und anderen tut?“ – „Möglicherweise ja, denn in der heutigen Zeit kann man unserer Ansicht nach zum erstenmal davon sprechen, daß die Jugend ihre eigene Musik hat. In hundertfünfzig Jahren werden wir weitersehen.“

Ritchie Blackmore, Interview mit Radio Luxemburg, 1971

Bei der Musik – um Musik zu verstehen – kommt alles darauf an, daß man nicht tanze (kein tanzendes Verhalten irgendeiner Art annehme), sondern die Musik allein ihre Bewegungen ausführen lasse. Sonst kann man sie nicht sehen, nicht voll ermessen.

Ludwig Hohl

Eine seltsame Wirrnis hat die Londoner Jugend im Sommer des Jahres 1967, das nicht umsonst mit einem „Giant Freak-out“ begann, erfaßt. Biedere Beatbuben und schlaffe Blues-Tankwarte schnüren sich in Rüschenhemden, testikel­deformierende Samthosen und buntes Tuch aus Läden wie Granny Takes A Trip. Ihr Publikum tut es ihnen nach und betrachtet gestrige Hitlieferantenbuben in einer Mischung aus Fieber und Schwindel als (über)morgige „Visionäre“. Zum vielleicht ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ist die Mode der Zeit und ihren Menschen voraus. Die Überforderung steht ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben, den Tremeloes, Troggs und Hollies (ganz zu schweigen von den hiermit oft genug erwähnten Searchers), die gerade noch mit dem Trällern hyperventilierter Schlager ihr Geld verdienten und nun, dem „progressiven“ Geist gemäß, das Geld als solches nicht nur verschmähen, sondern am besten gleich ganz abschaffen und die Welt in eine Blume aus bewußtseinsveränderter Poesie und schrillem Farbgeplärr verwandeln sollen.

Out ist die traditionelle Popshow unter triefenden Kellerdecken oder auf Großbühnen vor kreischenden Horden, die von Polizisten in Schach gehalten werden. Man sucht andere Wege, sich zu verwirklichen. Die Beatles gründen einen „Konzern“, der Boutiquen, Modeschneider, Filmemacher, Kunstmaler und Experimentaltöner ohne Gewinnabsicht mit Geld versorgt. Die Rolling Stones ver­anstalten einen „Rock ’n’ Roll Circus“, die Pretty Things und The Who schreiben „Rockopern“ über derangierte Persönlichkeiten unterschiedlicher Provenienz, und das große Ereignis der Saison ist der „14-Hour Technicolour Dream“ am 29. April im Roundhouse (einem ehemaligen Eisenbahndepot), wo Prominente (Pink Floyd, Pretty Things, Yoko Ono, Soft Machine, Alexis Korner, Pete Townshend, Graham Bond, Savoy Brown, The Creation, The Move, Mick Farrens ­Anarchoband Social Deviants und viele andere), aber auch höchst absonderliche Bands mit merkwürdigen Namen wie The Flies, Giant Sun Trolley, The Block, The Cat, Charlie Brown’s Clowns, The Interference, Jacobs Ladder Construction Company, 117, Poison Bellows, The Stalkers, Utterly Incredible Too Long Ago To Remember und Sometimes Shouting At People krude Weltraumtöne in die Halle absondern – unter blubbernden Buntlichtblasen aus der „Trip Machine“ von Fireacre Lights, einer Nudistenkommune, die in der Gegend von Watford in Wohnwagen haust und sich hauptsächlich aus Schullehrern zusammensetzt. In der Mitte der Halle stehen eine riesige Jahrmarktsrutschbahn und ein Iglu, in dem man Bananenschalen raucht, während die zehntausendköpfige menschliche Besatzung mit LSD und Pilzextrakten gefüllt ist. Da der Andrang der Künstler, die zugunsten der Underground-Postille International Times auftreten wollen, überbordet, spielen immer zwei Bands oder Solisten gleichzeitig an beiden Enden der Halle. Bedröhnte Skinheads tanzen Ringelreihen mit Blumenmädchen in Spitze und Samt, John Lennon, der in den Fernsehnachrichten von der Sause erfahren hat, rückt mit seinem Rolls-Royce zum Mitfeiern an, und in der Morgendämmerung vergnügen sich die letzten Restbesucher damit, auf dem Parkplatz mit einem drei Meter hohen Joint Fußball zu spielen. Am 16. Juli findet nach diversen Prozessen und Parlamentsdebatten wegen des Haschischbooms am Speaker’s Corner im Hyde Park eine „Legalise Pot Rally“ statt, bei der Allen Ginsberg Polizisten mit Blumen beschenkt; am selben Abend verabschiedet sich der Nachrichtensprecher der BBC mit einem indischen Namasti-Zeichen von seinen Zuschauern.

Der musikalische „Untergrund“ reckt seine Häupter in populäre Sphären: Syd Barrett, Vorsteher der Jungakademiker-Blues-Combo Pink Floyd, predigt die Eroberung des Weltraums mittels Mutterkornderivats, angeliefert von den Flötisten an den Toren der Dämmerung. Der eben noch supercool-schnittige Mod-Bubi Marc Bolan quäkt in indischen Lumpen mit Kräuselmatte unter dem Bandnamen Tyrannosaurus Rex verhuschte Sinnigkeiten über jugendliche Seher und Propheten mit Himmel im fahlen Haar; seine Mit-Mods The In Crowd heißen neuerdings Tomorrow, weil man sie sonst nicht im Ufo Club spielen hätte ­lassen, und schweben auf weißen Phantasiefahrrädern der Revolution entgegen. John Lennon vertont Kinderzeichnungen, und den Songtitel kann, wer mag, auf LSD reimen, während sein Bandkollege Paul McCartney Veranstaltungen wie „Freak Out Ethel“ und den „Million Volt Rave“ mit „Free Form Tapes“ voller elektronischem Summselbrumms und Beatles-Schnipseln beschallt. Arthur Brown springt mit brennendem Hut durch seine verrückte Welt und läßt sich mit Bier löschen, wenn sein Mantel mal wieder Feuer gefangen hat. Und der kürzlich noch als Bassist der braven Animals tätige Chas Chandler hat im September 1966 den ehemaligen Little-Richard-Begleitgitarristen Jimi Hendrix aus Amerika in die Stadt geschleppt, ihn samt Freundin Kathy Etchingham bei sich (in Ringo Starrs ehemaliger Kellerwohnung am Montague Square 34) einquartiert. Er läßt ihn zunächst hier und da in Nachtclubs ein bißchen mitjammen (und schleust ihn, da er keine Arbeitserlaubnis hat, stets durch die Hintertür hinaus), stellt ihm dann zwei Hippie-toupierte Amateurliga-Musikanten zur Seite und verschafft dem Wort „ausflippen“ damit einen enormen Zuwachs an Bedeutung und Gebrauch. Irgendwie dabeisein möchte jeder, der mit populären Kulturprodukten irgendeiner Art zu tun hat. Die Beatles, deren Sgt. Pepper-Platte am 1. Juni erscheint, sammeln keine vier Wochen später in den EMI-Studios eine wimmelnde Schar von Pop-Prominenz, Adabeis, Blumenblüten und Topfpflanzen um sich und jodeln für zweihundert Millionen Psychedelisierungswillige in aller Welt „All You Need Is Love“ in die Kameras der BBC-Sendung Our World Live. Kurz darauf suchen sie mit Kind, Kumpel und Kegel den in Großbritannien gastierenden Maharishi Mahesh Yogi auf, kehren aber nach London zurück, als sie vom Tod ihres Managers Brian Epstein erfahren. Die Rolling Stones, deren gerade erst auf Kaution freigelassener Sänger zwei Tage später erneut verhaftet wird, weil er während der Live-Sendung mit Marianne Faithfull einen Joint geraucht hat, quälen sich daraufhin ein paar Wochen lang als „satanische Majestäten“, ehe sie sich hörbar erleichtert endlich einem neuen Blues-Boom anschließen dürfen. „Damals hatten die Verrückten das Irrenhaus übernommen“, erinnert sich Ian Paice 2004 an den Sommer des Wahnsinns. „Die Musiker konnten machen, was sie wollten, und die Industrie verdiente ein Vermögen, weil die Musiker machten, was sie wollten. Wenn man etwas ausprobieren wollte, probierte man es aus, und es gab nieman­den, der einem gesagt hätte, daß das nicht geht. Alles wurde ausprobiert.“

Außerhalb der Londoner Vorstädte registriert man das grelle Getue mit Befremdung. Zwar konsumieren die Hippies in den USA mindestens ebenso viele hirnaktive Chemikalien, aber ihre Ziele sind größtenteils weltlicher Natur. Abgesehen von Timothy Learys Anhängern, die mit einem gewaltigen Trip das gesamte Universum durch ein neues ersetzen möchten, beschränken sie sich auf die Beendigung des Vietnamkriegs (damit sie nicht selbst hinmüssen) und die generelle Kostenfreiheit des Lebens, das man am liebsten kommunal mit ekstatischem Moppeln in leerstehenden Häusern und auf beschallten Äckern verbringen möchte. Weltall, Hobbits und anderer Phantasietand bleiben den „Pranksters“, den Yippies und Diggers so fremd wie einem Großteil der frischkostümierten britischen Secondhand-Darsteller.

Noch schlimmer sind die Deutschen dran. Im Land der aufmüpfig werdenden Studenten versteht man noch nicht einmal wörtlich, worauf die psychedelischen Barden hinauswollen, spürt aber, daß da ein feiner Treibstoff für klassenkampfsubstituierende „Generationskonflikte“ schlummert, den man auch prima zur (erst später so genannten) „Selbstverwirklichung“ und zur Abgrenzung vom schlagerschunddominierten Spießbürgermilieu nutzen kann. Aber wie soll das gehen, wenn man nicht mitbekommt, um was es geht, und die verworrenen Soundklügeleien auch nur unter größter Mühe und Einsatz höchster Kontingente von Selbstbeherrschung und Friedfertigkeit überhaupt durchstehen kann?

Doch spielen solche Konsequenzkalamitäten vorläufig noch keine Rolle. Man flippt aus, und wer im Musikgeschäft einen Fuß auf den Boden kriegen will, tut gut daran, mindestens noch ein kleines Stück mehr auszuflippen als alle anderen.

Ein entscheidender Faktor in Chris Curtis’ Phantasieband-Welteroberungs­plänen ist ein Wundergitarrist, von dem zu schwärmen er nicht müde wird. Jon Lord, der die Meinung vertritt, psychedelische Wunderprojekte seien nur zukunfts- und alltagstauglich, wenn sie von einem Fundament aus handwerklicher Solidität – besser noch: Brillanz – getragen werden, ist in diesem Punkt besonders hellhörig; denn, sagen wir’s, wie’s ist: Die Schwurbeleien gehen ihm am Arsch vorbei. Was zählt, ist die Musik. Aber wer ist dieser sagenhafte Ritchie Blackmore, den Curtis auf jeden Fall bei Roundabout dabeihaben möchte und von dem er behauptet, er liebe Hamburg so sehr, daß ihn nur ein einziger Mensch (Curtis selbst) von dort weglocken könnte?

Er fragt in seinem Bekanntenkreis herum, erntet viel Schulterzucken und Kopfschütteln, vage Andeutungen und immerhin eine Auskunft: Flowerpot-Men-Bassist Nick Simper kennt den Unbekannten nicht nur, er verehrt ihn geradezu. Früher, sagt er, kannte den jeder, damals, als er mit Mike Dee im Southall Community Center aufgetreten ist, einfach weil er so schnell spielte, so verblüffend schnell. Beide spielten jeweils eine Zeitlang bei Screaming Lord Sutch. Zuletzt hat ihn Nick in Hamburg getroffen. Da wollten sie sogar gemeinsam eine Band gründen – Nick sollte Baß spielen und singen, holte sich dann aber eine hartnäckige Halsentzündung und kehrte nach London zurück. Wenn es Lord und Curtis tatsächlich gelänge, diesen Mann, der nun wohl immer noch in Hamburg sitze, für das Projekt zu begeistern, dann könnte er, Simper, daran auch mehr als ein kleines bißchen interessiert sein …

Und wer ist dieser Blackmore nun tatsächlich? Geboren ist er, Richard Harold, am 14. April 1945 in Weston-super-Mare, einer bestenfalls unaufgeregten Kleinstadt einhundertsechzig Kilometer westlich von London – dort, wo der Severn in den Bristolkanal fließt und wo auch der von Ritchie später sehr bewunderte John Cleese von Monty Python herstammt. Am anderen Ufer beginnt Wales, da liegt die Hauptstadt Cardiff, außer Bristol die einzige größere Stadt im Umkreis von fünfzig Kilometern. Als Richard zwei war, pack­ten seine Eltern die Koffer und zogen in die Vorstadt Heston, westlich vom Londoner Zentrum (und keine fünf Minuten von Jimmy Pages Elternhaus entfernt, was vorläufig noch keine Rolle spielte). Papa Lewis ging arbeiten, Mama Violet hütete das Haus; ­Ritchie verlebte eine etwas ärmliche, aber zumindest materiell sorglose Kindheit. Er besuchte die Heston Senior High School und war ein, wie man so sagt, „mittelmäßiger“ Schüler – was heißt: Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, besuchte er schon mal den Unterricht, aber Hausaufgaben und Lernziele interessierten ihn so sehr wie die Schuhgrößen mongolischer Polit­büromitglieder. In Leibeserziehung immerhin hatte Richard seine Stärken: „Ich war der Schulchampion im Speerwerfen und bald auch der Beste in London und Middlesex. Mit dreizehn wollte ich englischer Meister werden und zu den ­Olympischen Spielen, aber ich war zu jung.“ Und auch wenn es um Fußball ging, war er dabei.

Aber sein soziales Verhalten nährte erzieherische Sorgen: Er war verschlossen bis verstockt, schüchtern wie ein Reh am Tag, undurchschaubar selbst für die Eltern, eigenbrötlerisch, sarkastisch, stur, frühreif und erfüllt von einem diffusen Zorn, der sein Alter weit überragte. „Ich fühlte mich von allen verarscht“, meint er rückblickend. „Ich habe mich nicht angestrengt, und ich fühlte mich nicht akzeptiert. Das war irgendwie auch gut, weil ich mich dann immer wieder hinter irgendwas geklemmt habe, um denen zu zeigen, daß ich auch zu etwas fähig bin. Das war die Motivation: den Leuten zu beweisen, daß ich was wert bin und nicht irgendein Idiot.“ Freude machte ihm wenig, am meisten ein gelungener Streich; die boshafte Energie hinter seinen „practical jokes“ war Eltern wie Lehrern ein Rätsel. Was in ihm brannte, war der regelrecht unbedingte Wille, mehr zu sein, als er ist und sein soll, und verdienen sollte es ihm die Kunst.

Im britischen Fernsehen liefen Mitte der fünfziger Jahre die ersten Popshows, in denen der kleine Ritchie Leute sah, die in der Tat mehr waren, als sie waren. Einer davon war Tommy Steele, der erste „eingeborene“ britische Rock’n’Roller. Was der in der Samstagabendshow Six Five Special anstellte, raubte Ritchie den Atem: „Ich wollte so rumhüpfen wie Tommy Steele. Ich dachte: Der geht einfach auf die Bühne und amüsiert sich – das will ich auch!“ Zufällig besaß sein Schulfreund Victor Hare eine Gitarre, und Ritchie lieh sich das Ding aus. „Ich stand da und schlug in die Saiten“, berichtete er später, „und konnte überhaupt nichts spielen, aber es sah einfach gut aus. Dieses Instrument, dachte ich, muß ich lernen.“

Und schon hatte die Hestoner Schule ihre eigene Band: The 2 i’s Coffee Bar Junior Skiffle Group, derart ungelenk benamst nach einem bevorzugten Abendtreffpunkt für Londons echte Rock’n’Roller in der Old Compton Street (wobei es zur Juniorabteilung auch noch eine Oberstufenband gab). Mit Hare an der Gitarre, Ritchie am „Baß“ (einer Teekiste mit einem Besenstiel und einer Schnur als Saite), ein paar Trällermädels und der skiffleüblichen Perkussionsabteilung aus Snare Drum und Waschbrett (auf dem man mit Fingerhüten herumschrappt) imitierte die Schülercombo aktuelle Hits von Lonnie Donegan, so gut es ging: „Wir waren zwanzig Leute, und nur zwei konnten überhaupt spielen.“

Nicht gut genug für Ritchie. Der forderte eine schwarze Framus-Akustik­gitarre, für die sein Vater acht Pfund hinblätterte. „Er sagte: ‚Wenn du nicht lernst, das Ding anständig zu spielen, werde ich es auf deinem Kopf zertrümmern!‘ Acht Guineen waren damals viel Geld, zumal er annehmen mußte, ich würde es wie immer machen: mir keine Mühe geben.“ Papa Blackmore meldete ihn bei einem Lehrer an, und der Sohn unterzog sich ein Jahr lang klassischen Lektionen – ein Schritt, der, wie er später selbst feststellte, sein ganzes weiteres Leben prägen sollte: „Ich lernte, wie man für jeden Bund einen eigenen Finger benützt, nicht nur drei, und wie man das Plektrum richtig hält. Es ist sehr wichtig, wenn man ein Instrument spielen lernt, die Sache von Anfang an richtig zu machen, denn wenn sich erst mal ein paar schlechte Angewohnheiten eingeschlichen haben, wird man sie nie wieder los. Die meisten Blues-Gitarristen benutzen zum Greifen nur drei Finger, ich alle fünf.“

Im Werkunterricht („Das einzige, was mich in der Schule interessierte, war Technik, Elektrokram und so“) bastelte Ritchie an seiner Framus herum, nagelte drei selbstgedrehte Tonabnehmer drauf und zimmerte sich aus dem alten Zwei-Watt-Röhrenradio seines Vaters einen kleinen Verstärker, der beim ersten „Auftritt“ in der Schule (wobei laut seiner Erinnerung der Beifall die Band von Anfang an übertönte) prompt versagte: Als Ritchie sein Gitarrenkabel direkt in die Steckdose schob, flog die Hauptsicherung raus, und der Gig war zu Ende.

Stunden über Stunden saß der, wie er selbst meint, „unbegabte“ Junggitarrist, der seine Lernprozesse nicht gern öffentlich abhielt, zu Hause und übte mit allem, was er an Sturheit aufzubringen vermochte. Viele Jahre später wird er Ian Gillan beim Bier gestehen, es habe ihn sehr belastet, daß er als Kind nie gelobt worden sei. Der Beste wollte, mußte er werden, es allen zeigen: „Das war meine Art, auf die Lehrer und das System zu reagieren. Man war entweder drin oder draußen, ein As in Mathe oder sonstwas oder weg vom Fenster. Also sagte ich: Gebt mir eine Gitarre, und ich beweise euch, wie gut ich bin!“

Ende der Fünfziger war Heston keine uniforme englische Vorstadt mehr, sondern, wie der ganze Londoner Vor-Westen, Brutstätte einer überdurchschnittlichen Masse von Rockmusikern und Bands, die ab 1960 landesweit abräumten (oder es später tun würden) und einander zwar nur in seltenen Fällen persönlich kannten, in der Phantasie des Teenagers aber Konkurrenten waren, die es aus dem Weg zu räumen galt. Ritchie heißt nicht Lee, Page, Miller, Beck, Hill, Scott wie gleichaltrige Gitarrenkollegen und im allgemeinen der gesichtslose Mann auf Englands Straßen; nein, er trägt den Namen des angloromantischen Schwartenromanciers Richard Doddridge Blackmore (1825 bis 1900), der zufällig nur vier Kilometer von Heston entfernt in Teddington gelebt hat, und sein diffuser Hang zum altehrwürdigen Kulturgut, der vierzig Jahre später merkwürdigste Blüten treiben sollte, trieb ihn vorderhand zur Eile. Nicht aufhalten mochte sich der Immer-noch-Anfänger mit lahmen Etüden. Die Klassiker wollte er spielen, und zwar gleich („Da hab’ ich mir was vorgemacht“, sah er retrospektiv ein). Allerdings nur als Mittel zum Zweck: „Ich liebe diese Musik nicht wirklich, nur die Disziplin, die nötig ist, um sie zu spielen.“

Sein Lehrer war anderer Meinung, was das Curriculum betraf. Wenn ­Ritchie das häusliche Üben grundständiger Basisgitarristik und anspruchsvoller Segovia-Zupfetüden verweigerte (und geständig war), schickte er ihn ununterrichtet wieder fort: „Ich bringe dir nichts mehr bei, wenn du nicht übst. Geh heim und übe!“ Das steigerte Ritchies Eile indes nur – er kurbelte das Zeug herunter, so schnell es irgend ging. Dem Lehrer, der seines Schülers Fingern mit den Augen bald kaum mehr zu folgen vermochte, standen die Haare zu Berge: Solch Tempo­meierei sei seelenlos, bemängelte er beharrlich. Aber es war halt seelisch nichts zu wollen für den Unterforderten, und endlich sah’s der Pädagoge ein, lobte die flinke Benützung des kleinen Fingers, die, das wußte auch er, andere Gitarristen wegen dessen Druckempfindlichkeit und unvermeidlich stechender Juckschmerzen gern unterlassen. Wer das freiwillig hinnimmt, dachte er, dem kann man nicht helfen.

Und Ritchie wurde nun erst einmal für einige Zeit sein eigener Lehrer. Das besessene Üben half ihm auch, den Dampf abzulassen, den seine eingebaute Zornturbine nach wie vor produzierte. „Wenn ich was spielen konnte, konnte ich es auch richtig schnell spielen“, sagte er später. „Erst mit zwanzig hab’ ich versucht, ein bißchen langsamer zu werden. Ich wußte, daß ich zu schnell spiele, aber ich war einfach nervös. Langsam spielen fiel mir ungeheuer schwer, einen Ton halten, ein paar Takte lang – ich dachte: Mein Gott, ich kann das nicht, ich bin so nervös.“

Mit fünfzehn erlebte er die erste „echte“ Band auf der Bühne, Nero & The Gladiators im Southall Community Center: „Meine Lieblingsband, die Stars schlechthin, sie waren unglaublich.“ Frühe Eindrücke prägen, wie man weiß, am stärksten – noch über vierzig Jahre danach behauptet Blackmore, dieses Konzert sei ihm von allen Auftritten anderer Künstler, die er je gesehen habe, am stärksten im Gedächtnis geblieben. Daß The Gladiators als „alte Römer“ vermummt vor ihr Publikum traten, sollte ihn später auf eine Bühnenkleidungsidee bringen; wichtiger ist, daß sie nicht einfach Rock-’n’-Roll-Nummern runterbretterten, wie es damals üblich war, sondern klassische Stücke wie Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ in Rock ’n’ Roll umwandelten. Vergeblich versuchte er, sich in die Band hineinzudrängen, studierte statt dessen dann den Leadgitarristen Tony Harvey – nicht nur seine Hände, sondern jede einzelne Bewegung auf der Bühne.

Zur Schule ging Ritchie mit fünfzehn nicht mehr. Statt dessen jobbte er am nahegelegenen Flughafen Heathrow als angelernter Funktechniker, kaufte sich von seinem Lohn eine richtige E-Gitarre – eine Höfner Club 50 – und gründete nebenbei mit Exmitschüler Mick Underwood, der als einziger in Ritchies Bekanntenkreis ein richtiges Schlagzeug sein eigen nannte, eine Band mit dem assoziationsreichen Namen The Dominators. Die hielt aber nur sechs Monate, denn nach ein paar Gigs in der Nachbarschaft winkte eine größere Chance. Roger Mingay brauchte für seine Band The Satellites, eine lokal recht beliebte Imitation der Shadows, einen Rhythmusgitarristen, und der fünfzehnjährige ­Ritchie stieg ein – aus pädagogischen Gründen: „Mingay hat mich sehr beeinflußt. Ich hätte alles gespielt, bloß um dabeisein zu dürfen.“

Anfang 1961 las Ritchie in einer Anzeige, der exzentrische Schockrocker David „Lord“ Sutch (den vorerst nur seine Freunde „Screaming“ nannten) suche einen Gitarristen. Das nun konnte der Eintritt ins richtig große Musikgeschäft sein – und schon flatterten Ritchies schüchterne Nerven derart, daß ihn seine Freundin und sein Vater zum Vorspielen begleiten mußten. Mittlerweile kennen wir ihn ein bißchen und können uns daher ungefähr vorstellen, was in ihm vorging, als er erfuhr, daß nicht er den Job kriegt, sondern – Roger Mingay (später behauptete Blackmore, er sei sehr wohl angenommen worden, habe aber abgelehnt, um nicht soviel unterwegs sein zu müssen). Damit waren die Satellites auch erledigt, und Ritchies Einstieg bei Mike Dee & The Jaywalkers ging mal wieder eine typische Überreaktion voraus: Um zu demonstrieren, daß er nun Profi war, zahlte er einhundertvierzig Pfund für eine kirschrote Gibson ES 335, wie sie auch Chuck Berry spielte, und besaß damit nicht nur ein Trauminstrument (das er bis 1971 benützte), sondern auch die wahrscheinlich teuerste Gitarre in ganz Westlondon. Nicht die Gitarre allein war es, die jeden Sonntag, wenn Mike Dee & The Jaywalkers im Southall Community Center aufspielten, für offene Münder sorgte, sondern vor allem die unglaubliche Schnelligkeit, mit der der junge Kerl sie bediente – wir wissen das bereits.

Ausgelernt hatte Ritchie aber noch lange nicht. Seine neuen Vorbilder waren Legion: Albert Lee (ein Kollege von den Crusaders), Duane Eddy, Buddy Holly, dann Les Paul, Wes Montgomery, Jimmy Bryant, Ricky Nelsons Leadgitarrist James Burton, Scotty Moore (Elvis Presleys Saitenmann und sein erster Manager) und vor allem Django Reinhardt – der ihn, obwohl er später behauptete, ihm habe bloß der Name gefallen, besonders deshalb faszinierte, weil es ihm nicht gelang, ihn zu kopieren. Nicht gelingen konnte, aus anatomischen Gründen: Dem 1953 verstorbenen „Zigeunerjazzer“ waren an seiner Griffhand nach einem Brand in seinem Wohnwagen 1928 nur zwei bewegliche Finger verblieben, weshalb er keine Akkorde, sondern nur einzelne Noten spielen konnte.

Einen neuen Lehrer fand Blackmore endlich auch: Big Jim Sullivan, eine Art kleiner (und lokaler) Gitarrengott seiner Zeit, der seit Ende der Fünfziger, damals selbst erst sechzehn, bei den Wilde Cats spielte, denen 1960 die Ehre zuteil wurde, Eddie Cochran auf Großbritannientournee zu begleiten. Was er dabei gelernt hatte, setzte Sullivan danach gewinnbringend um: Eine Gitarrenstunde in seinem Wohnzimmer in Hounslow (eine Bushaltestelle von Heston entfernt; wer weiß, wie oft Ritchie auf der Fahrt dorthin und zurück im selben Bus saß wie Ian Gillan) kostete zehn Shilling – die sich Ritchie Blackmore sparte, indem er immer mal wieder „zufällig vorbeikam“ oder auf der Türschwelle wartete, zusah und beiläufig nach ein paar Tips fragte.

„Jim spielte erst gute zwei Jahre und war auf einen Schlag der beste Gitarrist in England“, schwärmte Ritchie rückblickend von Sullivan. „Ich dachte, ich komme gut voran, bis ich ihn gesehen habe. Ich glaube, er hatte es ziemlich satt, daß ich ständig bei ihm rumhing, aber ich habe eine Menge von ihm gelernt.“ Die wichtigste Lektion, die ihm Sullivan mit auf den Weg gab, lautete: Die Soli anderer Gitarristen nachspielen wie ein Papagei, das kann jeder. Ein großer Gitarrist erschafft seine eigenen. „Man“, sagte Blackmore in den neunziger Jahren, „hat mir früh eingeschärft: ‚Was immer du auch machst, übernimm nicht jeden Stil aus dem Lehrbuch. Finde zu deinem eigenen Stil, und halte dich so oft wie möglich daran!‘ Das war damals ein guter Rat, denn ich versuchte, alles in jedem nur möglichen Stil zu spielen. Und, lachhaft genug, als ich mit dem Rock ’n’ Roll anfing, habe ich genau das getan – mein Spiel vereinfacht. Ich hörte auf, meine Finger zu gebrauchen, und spielte mit dem Plektrum“ – nicht immer, wie wir noch hören werden.

Die Profikarriere mit Mike Dee & The Jaywalkers kam nicht so gut voran wie erhofft. Die Band fuhr zwar nicht nur am Wochenende die Autobahn M1 rauf und runter (in einem Bedford-Bus ohne Heckklappe, in dem es folglich, wie sich Ritchie erinnert, „saukalt“ war), spielte, wo immer man sie ließ, und nahm sogar für Decca eine Single auf („My Blue Heaven“). Aber die Platte blieb unveröffentlicht, und auch eine Umbenennung in The Condors half nicht weiter. Als Screaming Lord Sutch 1962 wieder nach einem Gitarristen für seine Savages suchte, war sich Ritchie nicht zu schade, ein zweites Mal vorzuspielen (einer seiner Konkurrenten war Pete Townshend). Diesmal bekam er den Job – und den Spitznamen „Bluebell“, ob wegen seiner bevorzugten Kleidungsfarbe oder als Anspielung auf die gleichnamige Dampfeisenbahngesellschaft, deren berühmteste Lokomotive den Namen „Blackmore Vale“ trägt, wissen wir nicht.

Sechs Monate lang zog der lärmende Wanderzirkus durchs Land, wobei Blackmore zwangsweise lernte, seine Schüchternheit zu überwinden: Vor Auftrittsbeginn versammelte sich die Truppe unbemerkt am Ende der Halle und rannte kreischend durchs Publikum in Richtung Bühne. Dort verhielt sich ­Ritchie dann anfangs eher ruhig. „Ich war so dürr wie ein Besenstiel, trug nur einen Lendenschurz und hielt die Gitarre deswegen immer so, daß man meine hervortretenden Knochen nicht sah.“ Sänger Sutch indes packte seinen Gitarrenhals, schrie: „Los, beweg dich!“, und zerrte den klapprigen Jungen zur Belustigung des Publikums quer über die Bühne. Irgendwann klappte der Trick auch ohne Leine. „Wir kamen großartig an“, erinnert sich Schlagzeuger Carlo Little, der fünf Jahre später mit Jon Lord bei den Flowerpot Men spielen sollte. ­„Ritchie war wunderbar. Er rannte in der Gegend herum, daß den Leuten der Mund offenstand.“ Blackmore selbst sah die Sache später etwas nüchterner: „Anfangs wußte ich gar nicht, was da passiert. Wir spielten ‚Jack The Ripper‘, und Sutch ließ sich in einem Sarg auf die Bühne tragen. Der Kerl ist total verrückt, dachte ich, ich muß hernach mit ihm heimfahren, und er sitzt am Steuer! Aber Sutch hat mir in Sachen Showmanship viel beigebracht: von der Bühne zu springen, Verstärker anzuzünden, in einem Leopardenfell rumzulaufen.“

Gewisse Grundzüge des späteren Blackmoreschen Auftrittskonzepts werden schon hier sichtbar: „Von Sutch habe ich gelernt, daß du dich wie ein Irrer aufführen kannst, und die Leute finden das toll. Es ist eine Show, die totale Maskerade. Wenn du anfängst, dich ernst zu nehmen, und dich in ein Schneckenhaus verkriechst, kriegt das Publikum das mit.“ – „Als Ritchie kam, wollte er bloß Gitarre spielen“, bestätigte der „Lord des Polit-Irrsinns“ (Ralf Sotscheck) himself kurz vor seinem Freitod 1999, „aber man merkte, daß er darauf brannte, den Wahnsinn mitzumachen, und als er ging, war er absolut durchgedreht. Jahre bevor irgend jemand was von Pete Townshend hörte, hat Ritchie schon sein Zeug zu Klump geschlagen. Außerdem war er der beste Gitarrist in der ganzen Szene. Die Leute fuhren meilenweit, um zu sehen, wie er seine Soli spielt.“

Sutchs Produzent Joe Meek – dessen Hang zu okkulten Praktiken ihn mit dem jungen Gitarristen und dessen deutscher Gattin Margaret verband – verzichtete während Ritchies erstem halbem Jahr mit der im Studio weniger beeindruckenden Band darauf, Platten aufzunehmen, ließ sie lieber touren und Geld verdienen – und konzentrierte sich auf ein anderes Projekt: The Outlaws, eine seiner Hausbands, die auf praktisch all seinen Solistenproduktionen zu hören war und die er mit neuen Männern an Schlagzeug und Gitarre beiläufig nun auch selbst groß herauszubringen gedachte. Ende 1962 spielte Ritchies alter Kumpel Mick Underwood bei Meek vor, bekam den Zuschlag und holte den ehemaligen Mit-Dominator Blackmore ins Boot – als Ersatz für Roger Mingay übrigens.

„Wir spielten fünf oder sechs Sessions am Tag“, sagt Mick Underwood. „Um zehn ging’s los, bis sieben Uhr abends, und Meek schob einen nach dem anderen rein und wieder raus“ – Tom Jones, Glenda Collins, Deke Arlon, Mike Berry, Freddie Starr, Davy Kay, John Leyton und der britische Rock-Heino Heinz (Burt, Exmitglied der Tornados) waren nicht die einzigen, deren Plattencovers eigentlich den Schriftzug „& The Outlaws“ hätten tragen müssen. Meek, der wie so mancher Produzentenkollege den Fehler begangen hatte, die Beatles abzulehnen, überflutete nun die Plattenläden mit Beatles-Klonen wie The Honeycombs, und auch hier hieß der Gitarrist auf den Massen von Singles, die aus seinem improvisierten und vollständig zugemüllten „Badezimmer“-Studio über einem Laden in der Holloway Road herausrollten, stets Ritchie Blackmore. Zumindest meistens; da Meek bei seinem Selbstmord 1966 ein unübersehbares Chaos hinterließ, ist es unmöglich, die einzelnen Aufnahmen aus seinem Studio genau zuzuordnen.

Die Fließbandarbeit war für Blackmore genau das Richtige. So war er es seit früher Jugend gewöhnt, und zudem lernte er durch die eiligen Sessions, sauber und diszipliniert zu spielen: „Bei solchen Jobs kannst du dir irgendwelche Lässigkeiten nicht erlauben. Die sagten zu mir: ‚Spiel diese Melodie!‘ Weil ich aber keine Noten lesen konnte, war ich völlig durcheinander. Ich konnte mir anfangs absolut keine Melodien merken.“ Wenig förderlich sind der Konzentration des weiteren gewisse exzentrische Eigenheiten der Meek-Stars: „Es braucht einiges, um mich zum Lachen zu bringen, aber Freddie Starr ist es gelungen. Als ich gerade ein Solo spielte, ließ er seine Hose runter und versuchte, mir sein Ding ins Ohr zu stecken. Natürlich hab’ ich mich dabei verspielt.“

Auch auf der Bühne waren The Outlaws oft nur Begleiter, allerdings für hochkarätige Namen. Mit Jerry Lee Lewis und Gene Vincent tourten sie durch Großbritannien und Deutschland, wo der achtzehnjährige Blackmore sich sofort „wie zu Hause“ fühlte, weil er den Eindruck hatte, daß die Deutschen „härter arbeiten, härter spielen und härter trinken“ als die „langweiligen“ Engländer. Vincent, selbst kein Nachtwächter, wurden die Eskapaden der jungen Rabauken zuviel, und nachdem sie (angeblich) seine Garderobe demoliert und sämtliche Möbel entfernt sowie seinen Mikroständer mit alten Wurstsemmeln „dekoriert“ hatten, schmiß er die Band raus.

Er blieb nicht der einzige. Als der ABC-Tanzsaal in Blackpool den Rowdies im Cowboykostüm Auftrittsverbot erteilte, wurden auch andere Clubbesitzer hellhörig und vorsichtig, und manche Veranstalter zahlten lieber Konventionalstrafen, als ihre Verträge einzuhalten. „Einmal wäre ich fast für ein paar Monate im Gefängnis gelandet“, klagt Blackmore. „Egal wohin wir kamen, es wartete überall schon die Polizei auf uns, weil sie wußten, daß wir Ärger machen würden. Die Outlaws waren wirklich wild. Wenn wir in irgendeinem Club spielten, hauten wir den Laden zusammen. Wir haben viele Rechnungen bezahlt und sind nicht oft noch mal engagiert worden.“ Es half wenig, die Späßchen von den Hallen weg auf die Straße zu verlegen. Ritchies Idee, Eier, Tomaten und Vier-Pfund-Mehltüten mit Katapulten aus dem Auto auf Passanten – „am liebsten alte Frauen in Rollstühlen“ (Blackmore) – zu schießen, die in artigen Schlangen, wie sie jeder aus dem Englischlehrbuch kennt, an Bushaltestellen warteten, und bei etwaigen Beschwerden die Telephonnummer eines Tonstudios zu hinterlassen, war nur so lange lustig, bis eines Tages die Polizei im Studio auftauchte und die Band dort tatsächlich antraf. Später übrigens stieg er manchmal auch auf eine Steinschleuder und getrocknete Erbsen um – „echt bescheuert, aber besser als die Luftgewehrphase“, urteilte Ian Gillan.

„Das Schlimme damals war“, erinnerte sich Mick Underwood zehn Jahre später, „daß wir oft versucht haben, bessere Musik zu machen. Wir machten uns wirklich Gedanken über die Songs – aber wenn wir auf die Bühne kamen, haben diese verrückten Teenager, die heulenden und schreienden Mädchen, alles übertönt, so daß uns langsam die Lust an unserer eigenen Musik verging.“ Anfang 1964 fand mit dem Fortschreiten der „Beatlemania“ die Nachfrage nach Instrumental-Rock-’n’-Roll ein jähes Ende, und die Outlaws unternahmen einen letzten eigenen Single-Versuch, diesmal mit Gesang: „Keep A-Knockin’“, eine alte Little-Richard-Nummer, hatte mit den Shadows-Imitationen ihrer Anfangszeit nichts mehr zu tun. Die Platte wurde zwar kein Hit, fiel aber zumindest mit dem ungewohnt wuchtigen, rasenden und dennoch schleppend wirkenden Schlagzeug und zwei für ihre Zeit höchst eigentümlichen Gitarrensoli ein paar Fachleuten auf: Der während der Arbeiten an diesem Buch im Oktober 2004 verstorbene Radio-DJ und lebenslängliche „Entdecker“ John Peel behauptete später, es habe sich um „die erste Heavy-Metal-Platte“ gehandelt, aber das wollen wir nicht näher diskutieren.

Nach der folgerichtigen Auflösung der Outlaws erinnerte sich der blondierte Heinz an Ritchie und engagierte ihn im Mai 1964 für seine Backingband The Wild Boys – was Ritchie schon deshalb nicht ablehnen konnte, weil er damit bis auf ein e mit Big Jim Sullivan gleichzog und das Gefühl haben durfte, ein weiteres seiner Vorbilder in den Schatten zu stellen. Obwohl die Single „Just Like Eddie“ ein Hit wurde, blieb es ein kurzer Abstecher. Den Sommer über begleitete Blackmore den Komiker Arthur Askey im nordwalisischen Strandbad Rhyl und wurde mal wieder vorzeitig entlassen – weil er in die Partitur des Trompeters ein paar zusätzliche Noten hineingeschrieben hatte. „Am nächsten Tag gab es einige Takte lang ein grausiges Trompetensolo, das nicht besonders gut ankam.“

Derek Lawrence produzierte ihm unter dem pompösen Namen „Ritchie Black­more and his Orchestra“ die Solosingle „Getaway“/„Little Brown Jug“ (mit Nicky Hopkins am Piano, Saxophonist Reg Price und zwei Outlaws: Mick Underwood und Bassist Chas Hodges), die kaum ein Mensch je gehört hat – außer möglicherweise Dave Davies von den Kinks, der sich in diesem Fall gefreut haben dürfte, wie schnell sich sein „Fuzz durch Fußtritt“-Trick mit dem zwecks Verzerrung demolierten Lautsprecher herumgesprochen hatte. Daneben versuchte Lawrence mit Retortenbands wie The Lancasters, The Sessions und The Murmaids, Blackmore auf dem US-Markt zu etablieren. Ehe alle Stricke rissen, kehrte Ritchie Anfang 1965 reumütig zu Screaming Lord Sutch zurück: „Das war wie in einem Kriegsgefangenenlager: Jeder brach mal aus, aber einen Monat später war er wieder da. Wir haßten die Band, aber Sutch war der einzige, der seine Musiker vernünftig bezahlte.“ Er nahm wieder auf dem Sofa in dem ehemaligen Pferdetransporter Platz, mit dem dieser und seine Savages durch die Gegend karriolierten – unter anderem nach Hamburg, wo Blackmore sich aus Frust über die britische Musikszene erneut verabschiedete. Mit den Mit-Savages Jim „Tornado“ Anderson (Schlagzeug) und Arvid Andersen (Baß) begleitete er Jerry Lee Lewis und gründete die Band The Three Musketeers, die sich in verwegenem Gewand („in schenkelhohen Schaftstiefeln, mit dicken Lederschärpen, weißen Spitzen­kragen und breitkrempigen Hüten“) mit ihrem Paradestück, Rimski-Korsakows „Hummelflug“, einen regelmäßigen Auftritt in der Bochumer Filiale des Star-Clubs sicherte, aber gleich nach dem ersten Gig im Januar 1966 vom Geschäftsführer des Ladens gekündigt wurde – fragen wir noch, warum? „Wir kamen fechtend auf die Bühne“, antwortet Aramis Blackmore, inzwischen Vater eines Sohnes geworden. „Die Band war exzellent, aber viel zu weit fortgeschritten fürs deutsche Publikum, weil wir sehr schnelle Instrumentals spielten.“ Sehr, sehr schnelle: „Ich hatte manchmal ein solches Tempo drauf, daß hinterher meine Hände blutig waren.“

Eigene Songs zu schreiben, wie das die Wunderkinder der Londoner Szene zu jener Zeit verstärkt taten, kam ihm nicht in den Sinn: „Als ich zwanzig war“, erinnerte er sich 1991 in einem Interview mit Guitar World, „war mir das Konstruieren von Songs vollkommen egal. Alles, was ich wollte, war: soviel Lärm machen und so schnell und laut spielen wie möglich.“ Nach einigen Sessions für die Plattenfirma Polydor, unter anderem mit einer blonden Sängerin mit dem naheliegenden Namen Heidi, wurde sein nächster Arbeitgeber (für eine sechs­monatige Deutschlandtournee) Neil Christian, dem gerade der Gitarrist seiner Crusaders – ein gewisser Jimmy Page – davongelaufen war. Dann fuhr Ritchie kurz nach London, wusch seine Socken und war schon wieder unterwegs, diesmal in Italien, mit einer Band namens The Trip, die anfangs den Sänger Ricky Maiocchi begleitete. Die Psychedelic-Welle nahte unaufhaltsam, aber ebenso unaufhaltsam stolperte der mittlerweile Einundzwanzigjährige in ein frustrierendes Leben als unscheinbarer, beliebiger Berufsmusiker hinein, der fremder Leute Musik spielt und zusehen muß, wie fremde Leute dafür gefeiert werden (und meistens nicht mal das).

Während seines Kurzaufenthalts in London hatte er den Hype mitgekriegt, der nach dem ersten großen Auftritt der Experience am 29. Januar 1967 in Brian Epsteins Saville mit The Who und den Koobas um den gerade aus den USA importierten Jimi Hendrix veranstaltet wurde. „Warum ist Jimi Hendrix ein derart durchschlagender Erfolg beschieden?“ fragte eine deutsche Jugendzeitschrift. „Erstens ist Jimi ein Neger. Zweitens ist Jimi ein Gammlertyp, und jedermann weiß, daß die Gammelei in England seit einem Jahr nicht mehr en vogue ist.“ Black­more reagierte mit seinem nun schon gewohnten Trotz: „Jedermann redete sich den Mund fusselig: ‚Habt ihr schon diesen Negergitarristen gesehen, der mit den Zähnen spielt?‘ Ich dachte mir: Das klingt ja sehr musikalisch.“ Hype hin, Trotz her – daß Hendrix als Musiker eine Sensation war, mußte, wenn das schon Jeff Beck, Pete Townshend, Brian Jones und Eric Clapton einsahen, am Ende auch ein Blackmore einsehen. Seine neue Fender Stratocaster, ein „Geschenk“ von Eric Clapton, mag dazu beigetragen haben („Ein Roadie gab sie mir, weil der Hals verbogen war. Sie klang mit einem Wah-Pedal ganz gut, aber der Hals war so ver­bogen, daß man sie kaum spielen konnte“ – im November 1984 wird er sich revanchieren). Aber er wäre ja nicht Herr Blackmore, würde er nicht Jahre danach grummeln: „Ich war beeindruckt, aber weniger von seinem Spiel als von seiner Attitüde. Er war kein großer Gitarrist, aber alles andere an ihm war brillant. Hendrix hat mich inspiriert, aber Wes Montgomery war mir immer noch lieber.“

1974 sollte Blackmore seine Ansichten über die „Konkurrenz“ („Ich glaube, daß nur ein Gitarrist einen anderen Gitarristen wirklich verstehen und konkret kritisieren kann!“) geändert – oder sagen wir: radikalisiert – haben: „Für mich gibt es nur zwei Gitarristen, die ich voll akzeptiere“, tönte er da in einem Interview. „Der eine ist tot: Jimi Hendrix. Der andere ist Jeff Beck, der perfekte Techniker. Viele Leute schwärmen für George Harrison und Eric Clapton. Die bedeuten mir überhaupt nichts. Sie werden überschätzt, auch wenn ihnen manchmal ein paar ganz gute Phrasierungen gelingen. Jimi Hendrix gab der Musik völlig neue Dimensionen. Als ich eines Tages eine Platte von ihm hörte, wußte ich, daß die Musik von nun an eine neue Richtung nehmen würde. Hendrix spielte oft Noten, die völlig falsch klangen, als hätte er sein Instrument nicht richtig gestimmt. Diese Töne erzeugte er jedoch absichtlich, er kreierte damit ein völlig neues Klangbild. Er war vielleicht nicht der größte Gitarrist, was die Technik anbelangt. Dafür war er Musiker mit Haut und Haaren, überstieg musikalische Grenzen, gab der heutigen Musik ein neues Gesicht.“ Und stellte sie auf neue Beine: „Sogar die Art, wie er ging, war beeindruckend.“

Da behauptete Blackmore dann rückblickend auch, es sei Hendrix gewesen, „der mich nach England zurückbrachte“. Vorläufig jedoch, zunehmend genervt vom Dasein als gesichtsloser Angestellter, nahm er ein neues Angebot von Screa­ming Lord Sutch nur deshalb an, weil es wieder mit einer Reise nach Hamburg, das Ritchie mittlerweile als so etwas wie seine Heimat empfand, verbunden war. Die Band hieß dieses Mal The Roman Empire und trat in pseudoaltrömischen Soldatenuniformen mit Brustpanzern und roten Umhängen auf – selbst in der Wirrnis des herandämmernden Hippie-Frühlings ist diese Idee derart lächerlich, daß sich Blackmore, wenn es nur geht, hinter seinem Verstärker versteckt. Die Demütigung, als kostümierter Narr mit dem Auslaufmodell Sutch auf die Bühne steigen zu müssen, gab ihm den Anstoß, es jetzt endlich auf eigene Faust zu wagen. Als das Engagement früher als gedacht auslief, blieb Blackmore bei seiner Freundin Babs in Hamburg, lebte von ihrem Einkommen, spielte Ses­sions mit allen möglichen Musikern und übte sechs oder sieben Stunden am Tag: „Es gab ja sonst nichts zu tun.“ Mit dem Sänger und Pianisten Matt Smith, dem Bassisten Kurt Vile und dem Schlagzeuger Ricky Munro versuchte er, eine Band mit dem Namen Mandrake Root (= Alraunenwurzel) auf die Beine zu stellen, wirkte kurz bei Boz Burrells Band Boz mit und notierte sich den Namen des Schlagzeugers, den er schon von der Band The Maze kannte: Ian Paice. Aber auch der hat abgewinkt: Er müsse Geld verdienen.

Seine temporären Mit-Savages Nick Simper und Schlagzeuger Carlo Little, die gerade mit der Sängerin Billie Davis in Hamburg gastieren, folgen seiner Einladung, die Hamburger Antwort auf Cream zu gründen. Außer ein paar Proben kommt jedoch nichts zustande: Simper, der als Bassist auch singen soll, leidet an chronischer Mandelentzündung, muß die Versuche abbrechen und kehrt mit Little nach London zurück, um den Job bei den Flowerpot Men anzutreten. ­Blackmore steht wieder am Anfang – ohne Band, ohne Musiker, ohne Job. Und dann klingelt eines Vormittags der Postbote mit einem Telegramm aus London: Ob er nicht Lust habe, bei einer ganz neuen, einer ganz anderen Band mitzumachen?

Das Angebot klingt verlockend, zumal es offenbar auf einer soliden finanziellen Basis steht: Das Management der geplanten Band bezahlt die Fahrt­kosten, und Ende November 1967 ist Blackmore wieder in London, um sich die avisierten Mitmusiker ohne deren Wissen bei einem Auftritt von Flowerpot Men & The Garden in Dunstable zumindest mal anzusehen. Er ist nicht begeistert von der Musik und immer noch ein bißchen sauer auf Nick Simper, aber immerhin: Der Mann an der Orgel hat einiges drauf. Blackmore sagt zu, sich mit ihm und Chris Curtis ein paar Tage später in der WG am Gunter Grove zusammenzusetzen und mal zu schauen, was sich ergibt.

Deep Purple

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