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Der Hund von Deep Purple

Das Vorwort, in dem wir erfahren, worum es geht, und mit einem Abstecher ins sehr späte Mittelalter eine gewisse Sache von ­vornherein erledigen

„Wenn ich mir die Platte heute anhöre“, bekannte Greil Marcus 1989, als er wieder mal Anarchy In The U. K. von den Sex Pistols hörte, „wenn ich höre, wie Johnny Rotten an seinem Text zerrt und dann die Teile der Welt ins Gesicht schleudert, wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut.“ (Lipstick Traces, Hamburg 1992)

Merkwürdig, diese Konfession. Sie leistet den hohen Ansprüchen, die man an Dokumente der Obsession stellt, Genüge und „klingt“ streng subjektiv, was das Schlechteste nicht ist, schreibt man über (Rock-)Musik. Zugleich aber bedient Marcus das Konfektionspathos der Subversion, bemüht er jenen Ausdruck, der für „authentisch“ gilt, und schiebt eine Gänsehaut aus dem Phrasenofen hinterher.

Die Erzählungen über die rebellische Kraft der Rockmusik sind selbst müde, ja alt geworden (wobei das Altwerden keine Schande ist, auch wenn der Usus des Popjournalismus eine andere Auffassung erzwingt). Sogar einem Pete Townshend, der Woodstock bereits vorbildlich heruntermachte, als das Festival gerade die Pop-Community zu erschüttern schien, möchte man heute kaum trauen, da er Rotten und Co. besang, weil sie den Traum, Kunst könne das Bestehende attackieren, ja verändern, endlich irgendwie wahr werden ließen. „Wenn du dir die Sex Pistols anhörst“, gestand er, „merkst du sofort, daß das wirklich passiert. Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, daß es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich.“

Mal abgesehen davon, wie ungebrochen hier der Katechismus der Avantgarde und ihres idealisierten Produzenten – des leidenschaftlichen Subjekts, das etwas bewirkt – zum Einsatz gelangt, „die Stimme“, das Subjekt, das Marcus panegyrisch umgarnt, stellt, seit die Kulturindustrie Opposition als Style, Habitus, Gebaren integriert hat, nicht mehr „etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, daß alles möglich war“; sondern nur mehr, daß alles möglich ist, was neu und damit schon gewesen ist.

Marcus, fast zwanzig Jahre später, bleibt dabei. Jener Käfig existiere – partiell – nicht, jene Bühne, auf der symbolische und reale Mehrwerte realisiert werden. Das Realitätsprinzip des Rock hingegen lautet schlicht: Erfolg oder Abmarsch durch den Lieferanteneingang, Anpassung oder Nische. Rottens Stimme indes, beteuert Marcus, bleibe „neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Eine Zeitlang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktioniert diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.“

Es konnte einem auch anders ergehen, das Schockerlebnis gänzlich privater Art sein, und sei’s, weil man damit geschlagen war, in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufzuwachsen. So konnte einen der ältere Bruder, der Musik­geschmacksbildner par excellence, wie Christian Gasser zu Recht in seinem Buch Mein erster Sanyo – Bekenntnisse eines Pop-Besessenen (Berlin 2000) bemerkt hat, vor bald fünfundzwanzig Jahren zu seiner Stereoanlage beordern, einem den Kopfhörer überstülpen und die Starttaste drücken. Unbeschreiblicher Krawall, ein gewaltiges, befreiendes Dröhnen, Quietschen und Heulen, brach los, und man war verloren für die E-Gitarre und Speed King Ritchie Blackmore. „Black­more zersplitterte in nur fünfzig Sekunden die gängigen Konventionen der Beat-Ära und machte die sechziger Jahre der Popmusik zur Historie“, schrieb später Eclipsed. So war es, und es war so, wie es 1980 in konkret zu lesen war: „Die ­Beatles, Stones, Cream, Deep Purple, Roxy Music haben ganz selbstverständlich die deutschen Wohnzimmer infiltriert“ – auch wenn es nicht zwingend das elterliche Wohnzimmer sein mußte, in dem man heimlich das 1980 erschienene Doppel-Live-Album Deep Purple In Concert mit zwei BBC-Mitschnitten aus den Jahren 1970 und 1972 und einer ausnehmend schön scheppernden „Lucille“-Version hörte, wenn der familiäre Vorstand mal außer Haus war.

Unterstützung in seiner Begeisterung fand man durch Airplay, sofern die Erinnerung nicht trügt, dazumal kaum, und Deep Purple waren gewiß auch keine, gleich den Sex Pistols, „kulturelle Verschwörung“ (Marcus), eher ein Haufen von britischen Musikern, die nicht selten den lichten, verspielten Klängen frönten, gewollt einfache Riffs in die Welt warfen und dabei einen zuweilen inkalkulablen „Schönlärm“ (Eugen Egner) veranstalteten. Zumal die Mark-II-Besetzung – zumindest im einst gängigen, ja zwingenden Lagerdenken, das noch heute gewisse „Rockismus“-Experten in der ihnen eigenen Manier wiederaufleben lassen – ein Widerpart zum Doom-Gebaren von Black Sabbath und zur bisweilen ein wenig dick aufgetragenen Ernsthaftigkeit von Led Zeppelin war. Und sie war schon damals alles andere als ein Pionierensemble des Heavy Metal, sondern eine ziemlich einzigartige, mitunter aufgekratzt vergnügte, mitunter überwältigende Band, deren Geschichte bedeutend genug sein dürfte, um sie zu skizzieren, subjektiv, abschweifend, aber auch griffbretthart „faktenorientiert“ (Helmut Markwort). „Die Sex Pistols schlugen eine Bresche ins Popmilieu“ (Marcus), Deep ­Purple hatten das Jahre vorher nicht nötig gehabt und ebensowenig ein Programm, das womöglich das Programm der minervaschlau hinterherdackelnden Interpreten ist. Dessenungeachtet scheint auch Greil Marcus an einem bestimmten Punkt vor der Entwicklung der jüngeren Popmusikgeschichte zu kapitulieren: „Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, daß etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte. Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber läßt sich noch reden.“

Reden wir darüber. Plaudern wir hier zum Beispiel darüber, wie es ist, wenn wir eine Musik, die unsere Jugend – teilweise und zuweilen obsessionsverdächtig – begleitet oder geprägt hat, wiederhören, weil wir sie wieder und wieder hören können, ohne einer ungebrochenen Obsession zu frönen oder irgend etwas zu beschwören – was womöglich dienlich wäre, wollte man Erinnerungen, wenn auch sachte, mystifizieren oder an biographischen Mythen stricken. Dann, vielleicht, erweist sich die Musik von Deep Purple, diesem „größten Kreativpool der Rock­geschichte“, wie es in Rock Hard geschrieben stand, heute als seltsam „unverbraucht“ (auch so eine speiwürdige Floskel aus dem Fundus der Popskribenten), als neu, als neuer Rock ’n’ Roll ohne Anspruch auf Veränderung der gesellschaftlichen Realität. Denn die Gesellschaft verändern zu wollen, das war wohl unter Musikern zumeist wenn nicht Illusion, so doch bei manchem bloß bare Lüge; weshalb, im Umkehrschluß, im Lager der Fortschrittlichen Deep Purple nie auf Wohlwollen hoffen durften. Denn diese fünf (und mehr) Musiker machten Musik, unter ziemlich unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen und mit ziemlich divergenten Vorstellungen und Zielen, mehr nicht. Und das ist viel, und es ist (oder war) der Skandal an Deep Purple. „Wir wollten niemandem irgend etwas predigen, weder Drogen noch Politik, noch Lifestyle“ – so hat es Roger Glover ausgedrückt.

Oder erzählen wir statt dessen und jenseits der Deutungsmuster und -zwänge des elaborierten Popdiskurses zum Beispiel davon, was passiert, wenn einen im September 2002 zum erstenmal seit vier oder sechs Jahren der ­Rappel des Spießers packt und man seinen alten Wagen zur Waschanlage fährt.

Man rumpelt in die Einfahrt, tuckert durch die Vorwäsche und hält vor der Waschstraße. Vor dem Wagen lungern zwei blaugewandete Hilfskräfte mit Wasserstrahlern und Bürsten herum. Man dreht die milchige Scheibe runter, der Chef schlurft heran, man reicht ihm das Entgelt.

Auf dem Beifahrersitz liegt zufällig eine CD. Seit Tagen. Seit Wochen vermutlich. Der Wagen hat nicht mal einen CD-Player. Keine Ahnung, was Come Hell Or High Water da verloren hat. Cheffe nimmt siebeneinhalb Euro entgegen, und sein angesichts des vorgerollten ollen Blechs mitleidig-mißmutiger Blick fällt ins Wageninnere. Cheffes Mundwinkel verziehen sich – nach oben.

„Ist das Jan Gillaaan?“ Auf der Rückseite von Come Hell Or High Water, einem Live-Mitschnitt von der letzten Tournee, die Deep Purple im Herbst 1993 mit Ritchie Blackmore hinter sich gebracht hatten, ist Ian Gillan zu sehen, wie er ausgesprochen vergnügt und kraftfroh das Mikrophon in die Luft stemmt. Das Photo konnte schon immer gefallen. Es drückt die seltsam angestrengte, aber auch entspannte Stimmung aus, die Deep Purple auf ihren wahrscheinlich besten, verspieltesten und zugleich aggressivsten Konzerten seit der Reunion 1984 zu jenen Improvisationsaus- und -höhenflügen begleitet und geführt hatte, die eine der besten, verspieltesten und aggressivsten Bands der Rockgeschichte in ihren besten, verspieltesten und aggressivsten Momenten in den siebziger Jahren ausgezeichnet hatten.

„Ist das Jan Gillaaan?“ Cheffe war hin und wie weg vom Fenster. „Ja“, antwortete man, und man war überwältigt. Man hätte weinen können. Jauchzen können. Vor Verwunderung. Vor Glück. Vor sonstwas. Denn wer kannte und erkannte denn heute, außerhalb der Musikbranche und außerhalb expertokratischer Zirkel, noch Ian Gillan? Und meckerte dann nicht herum, er und die anderen ollen Krawallmacher und Schweinepriester sollten doch bitte in den berühmten, in den überfälligen Rockerruhestand wechseln?

„Ja, Ian Gillan.“ – „Der Beste!“ rief Cheffe entzückt und entrückt, und er wiederholte: „Das ist Jan Gillaaan!“

Man reichte ihm die zerkratzte CD-Box. Er nahm sie vorsichtig in die Hand. Ein öliger Finger wanderte über die Setlist. „Supersongs. Die besten“, sprach er nun mehr zu sich, und sein breites Grinsen verwandelte sich in ein gütiges Lächeln. Recht besehen, überzog Cheffes Overall in der Vorabendsonne jetzt ein Purpurschimmer.

„Ja, Supersongs, die besten“, sagte Cheffe, schaute den verdutzten Insassen eines verdotzten Golf an, reichte die CD zurück und gab seinen Untergebenen mit der linken Hand ein Zeichen.

Man kurbelte die Scheibe langsam, fast in Trance wieder hinauf. Cheffe trat ein paar Schritte nach hinten und stand vor dem Wagen. Er riß die Beckerfaust in die Höhe und wies die Knechte laut und stolz an: „Volles Programm! Das Beste für diesen Mann!“

Die beiden schrubbten wie Berserker Blackmore in seinen besten Zeiten.

Ein Jahr danach, zehn Jahre nach Blackmores endgültigem Abschied, war die Stadt plötzlich plakatiert wie nicht gescheit. Deep Purple hier, Deep Purple da, ein neues Album und eine Deutschlandtour durch die großen Hallen wurden annonciert. Es war, als hätte nie etwas anderes Bestand gehabt als die allgemeine Ansicht, daß es nichts anderes zu begehren gebe als Deep Purple, zumindest, was die Musik betrifft. Der öffentliche Raum, in dem Rock und Pop im Grunde nur mehr stattfinden dürfen und statthaben als Werbeinszenierungen und Konsumbeschleuniger, seit die Stones und vor allem Genesis, die Bösen der Dösigen, Jahre zuvor durch unselige Koalitionen mit einem Wolfsburger Unternehmen und der Gigantomanie des Kapitals die Maßstäbe gesetzt hatten, dieser Raum des Teilbaren und – idealiter – ohne Zwang Geteilten war nun und jetzt und für einige Wochen besetzt von: Deep Purple.

„Bananas“ stand da, schlicht, in der Würde der freigestellten Lettern, ohne graphischen Hokuspokus. Bananas. Spinnen die jetzt? Nein, sie sponnen und spunnten nicht, obschon sich der Titelsong der neuen Platte genau darum dreht: um den Wahnsinn. „I go bananas“, heißt es im Refrain eines beseligend vorwärtstreibenden Rock-’n’-Roll-Knallers, in dem die Virtuosität der solistischen Einlagen einen Platz so findet, wie sie ihn finden sollte: als Spiel, als übermütiges, kindliches Herumtollen mit Noten und Harmonien.

Das Album Bananas ist eine der besten Platten des Genres und eine der erfreulichsten der Bandgeschichte. Und wer Deep Purple zum Beispiel am 5. November des Jahres 2003 in der Frankfurter Festhalle sah, durfte hernach ruhigen kritischen Gewissens bekräftigen, daß die Fans, die mittlerweile jedes, aber auch jedes Konzert im Internet ausführlich und vielfach ausnehmend sachverständig besprechen und daher mit Sicherheit mehr wissen und in Erfahrung gebracht haben, als es die Autoren dieses Buchs vermochten und je vermögen – daß diese Fans recht haben, in ihrem Enthusiasmus, in ihrer Freude über eine Spielfreude und eine ernsthafte Entspanntheit, die der Band im „life after Blackmore“ (wie es Jon Lord formulierte, der zu dieser Zeit gleichfalls ausgestiegen und durch Don Airey ersetzt worden war) gut zu Gesicht steht. Wenn Ian Gillan Steve Morse in den Arm nimmt, ins Publikum zeigt und lacht, ist das wahr, unverbraucht, ja, wer weiß, „authentisch“ – und, abermals, mehr nicht. Das vermag Musik. Muß man sich deshalb schämen? Weil man das mag? Weil hier jede „Botschaft“ fehlt? Weil hier, an einem solchen Abend, getragen von der Laune der Selbstvergessenheit, die Gesellschaft nicht zur Debatte steht? Und weil Deep Purple inmitten der Kulturindustrie, die Greil Marcus’ Phantasie, der Rock könne ein universales, andersartiges Kommunikationssystem herstellen, längst durch gnadenlose Ausbeutung und Segmentierung konterkariert hat, weil Deep Purple inmitten dieses so entbehrlichen wie oft degoutanten Schlamassels ihre Würde bewahren, Erfolg haben und neue, junge Fans gewinnen? Ist das eine Schande (für die Welt)? Ein Skandal? Oder egal?

Muß man sich, wie es Christian Gasser, Jahrgang 1963, tut, schämen, daß einst, als die Sex Pistols explodierten und die (musikalische) Revolution auf einen Schlag beendet war, auf der obligaten Liste der eigenen Lieblingssongs Deep Purple gleich zweimal auftauchten, mit „Child In Time“ und „Smoke On The Water“ (mit „Smoke On The Water“ durfte man schon frühzeitig seine Probleme haben, das Stück ist nicht nur ein Objekt der Haßliebe von Herrn Black­more, sondern von vielen Purple-Anhängern)? Daß unter Gassers fünf „liebsten Sängern“ Ian Gillan auf Position eins zwangsläufig vor dem zweitplazierten Johnny Rotten rangierte? Und Deep Purple den Poll der „Lieblingsgruppen und -musiker“ so unstreitig wie unangefochten halt – anführten? (Zum Beispiel vor den Stranglers, Startnummer fünf.) Ist das alles – jünglinghafte Verirrung? Und heute und hier von Belang?

Für Gasser und dessen schönes Buch (der kennt sogar die wahnsinnigen Genialfinnen Aavikko!) schämen muß man sich ja nicht. Aber hat der Bruder von einem der Autoren, Thomas Roth, nicht recht, wenn er beim luftgitarrenbegleiteten Wiederhören des Siebziger-Jahre-und-Folge-Rock, der Deep ­Purple essentiell einschließt, brieflich ziemlich prinzipiell niederlegt: „Schlimm genug, den anspruchsvollen Rockisten in mir wiederentdeckt zu haben. Es droht ja noch die Regression auf die Stufe davor, die des unreflektierten Rockisten, des Schlagerhörers unter den Rockern, des durch das Klischee gezähmten Wilden, des Dämlacks und Simpels“?

Ist es eine Not um und mit Deep Purple, eine elende Rechtfertigungsnot? Und müssen denn all diese Fragen wirklich sein? Wenn man nur die Geschichte einer Band aufschreiben und erzählen möchte, so gut es halt geht? Und sich in bestimmten Fragen der Bewertung angenehm bestätigt fühlt, da Ian Gillan in einem Interview für die Sendung Kino & Kult auf n-tv am 5. November 2003 und anläßlich des fünfunddreißigjährigen Bandbestehens in aller Gelassenheit zum besten gibt, man habe nie einen Starrummel um sich betrieben, keine wilden PR-Nummern durchgezogen, einfach Musik gespielt, und deshalb bezahle man den in der Branche nicht unüblichen Preis des Verschleißes eben nicht?

Was indes – Einschub – nicht sein müßte, nicht hätte sein müssen: daß sich Deep Purple am 12. März 2000 nach bis dato einhundertfünfzehn Millionen verkauften Platten dafür hergeben, im Offenbacher Capitol fürs ZDF ein „Deep-Purple-Special“ herunterzukaspern, und sich dabei nicht bloß den idiotischen Fragen eines gewissen Thomas Gottschalk aussetzen, sondern auch noch den schweren Verdacht nähren, die durchaus druckvollen, wenngleich etwas routiniert bewältigten Nummern „Bloodsucker“, „Fireball“, „Woman From Tokyo“ und „Perfect Strangers“ im Playback-Verfahren darzubieten (zu hören bekommen hat man wahrscheinlich Ausschnitte der 1999er Live-Veröffentlichung Total Abandon Australia ’99). Genausowenig hochzuschätzen sind Jon Lords spätere Ausflüge in weitere Gottschalk-Rockveteranen-Fernsehshows zu „Fünfzig Jahre Rock“ et cetera, bis hin zu einem „Cross-over“-Auftritt am 19. September 2004, bei dem Lord im Rahmen der Sunday Night Classics (ZDF) mit Ex-Abba-Sängerin Anni-Frid Synni Lyngstad „The Sun Will Shine Again“ darbot (was wie­derum Abba-Fan Blackmore gefallen haben dürfte), jener Lord, der in Offenbach beteuert hatte, auch die nächste Dekade bei Deep Purple verweilen zu wollen, weil sie, die fünf, „mittlerweile“, nach zehrenden Jahrzehnten der Querelen und Zerwürfnisse, „Brüder im Herzen und im Geiste“ seien.

Aber vergessen wir das.

Ein wahres, adoleszentes Moment der Faszination des Jugendlichen für Deep Purple hat Nick Hornby festgehalten. Es macht sich fest an einem Bedürfnis aus gewissen Zeiten, die Qualität eines Songs daran zu messen, ob er ein donnerndes Gitarrensolo enthält – oder wenigstens ein monolithisches Riff, ein „Soundgebirge“ – und ob es, das Solo, auch lang genug sei. Hornby schreibt in 31 Songs (Köln 2003), im Kapitel zu „Heartbreaker“ von Led Zeppelin, es gebe „eine nicht pathologische, sondern musikalische Erklärung für mein kindliches Liebäugeln mit Zeppelin und Sabbath und Deep Purple, nämlich, daß ich meinem Urteil über einen Song nicht traute. Wie ein prätentiöser, aber begriffsstutziger Erwachsener, der sich einen Film nur ansieht, wenn er Untertitel hat, hörte ich mir nichts an, das nicht unter lauten, kreischenden E-Gitarren begraben war. Woran hätte ich sonst erkennen sollen, ob das Stück irgendwas taugt?“

Schon wieder eine Frage. Und noch eine: Ist sie, die Frage, unter den Jahren der Jugend begraben worden? Wer weiß. Eventuell nicht. Wer im Jahr 2004 den wiederauferstandenen Eddie Van Halen hört, könnte sie ernst nehmen und ohne Achselzucken beantworten. Oder wer, wie der sehr saubere Herr Michael Rudolf und dessen Frau, Steve Vai, Frank Zappas ehemaligen Angestellten für „guitar abuse“, leibhaftig erlebt. Oder wer eine Platte von Deep Purple auflegt, Bananas nämlich, auf der Steve Morse endlich wie ein Gitarrist, der in einer Band spielt, zu agieren und zu klingen beginnt. Oder wer diesen einen Solotonausreißer auf Ritchie Blackmores Rainbow-LP Stranger In Us All (1995) vernimmt, versteckt in einem perlenden Zufallslauf im zwischen wärmender Melodieführung und „Burn“/„Can’t Happen Here“-Riffgebretter changierenden „Too Late For Tears“ – der könnte Nick Hornby noch heute unvermindert folgen. Er muß ja deshalb nicht gleich eine Revolution anzetteln. Oder seinen Plattenschrank nach selbiger Maßgabe sortieren. Aufräumen. Bereinigen.

Daß sich mit der Musik von Deep Purple etwas Humanes, im guten Sinne ungetrübt Naives zu verbinden vermag, meldet Richard Linklaters großartiger Kinofilm School of Rock an. Jack Black, der in der Hornby-Verfilmung High Fidelity einen Plattenverkäufer mimte, wie Christian Gasser, der einer war, wahrscheinlich gern einer gewesen wäre, gibt da einen Spinal Tap-verdächtigen Rock­gitarristen, der auf der ganzen koksfreien Linie gescheitert ist und sich einen Job als Aushilfslehrer an einer Upper-class-Schule erschleicht. Und dann passiert etwas, das unerwartet zu Tränen rührt: Jack Black – warum eigentlich nicht Jack Blackmore? – bringt die verkniffenen, knieseligen und spießigen Racker zum Rocken, er führt sie ins Leben, und er tut dies auch mit dem Initialriff von „Smoke On The Water“. Grundton, Quinte, und endlich wissen wir, was es heißt, als Klein- oder Großbürger noch heute an der Revolution teilnehmen zu dürfen: „Wir haben zu rocken.“ (Jack Black) Weil wir hier rückblickend neuerlich „den noch in den Anfängen steckenden Hard Rock revolutionieren“ (Rock Hard), aber mindestens.

Das alles hat weder etwas mit mühsamer Ehrenrettung noch mit Romantizismus zu tun. Daß „Smoke On The Water“ einiges mit „My Generation“ am Hut hat, läßt sich belegen. Und gleichzeitig läßt sich begründet darüber schreiben, warum „Smoke On The Water“ weiß Gott nicht alles ist, was Deep Purple waren und sind. „Das ‚Smoke On The Water‘-Riff“, legte die taz zu School of Rock nieder, „dürfte an keinem noch so dilettantischen Gitarrenschüler vorbeigegangen sein“, und das ist so wahr wie in seiner Stoßrichtung falsch. Denn kein Gitarrist hat die abgehackte Folge gezupfter Zweisaitenchords jemals so intoniert wie der böse schwarze Mann an der weißen Strat (Steve Morse versucht es, aber sein Sound ist einfach zu fett). Darin liegt der Hund von Deep Purple begraben. Unter anderem. Und darin zeigt sich, daß es nicht – nur – um Riffs geht, die wir alle weg- und herunterrocken, als wären sie für die Konfektionsstange fabriziert worden. Deep Purple, für manch einen der Inbegriff des schäbig Kalkulierten und Konterrevolutionären, standen in ihren besten Zeiten ein für das Inkalkulable. Für Freiheit. Streit. Chaos. Ungeschützt dargebotene Dummheit. Und unerwartete musikalische Schönheit und Komik – man entsinne sich bloß der Live-Kapriolen in „Wring That Neck“.

„Ich finde es schön“, ist in Nick Hornbys High Fidelity (Köln 1996) zu lesen, „sehen zu können, wie ich in fünfundzwanzig Schritten von Deep Purple zu Howlin’ Wolf gelangt bin.“ Hornby sortiert seine Plattensammlung, und er erachtet Deep Purple für erwähnenswert. Über Fortschritt, welcher Art er sein möge, befinden wir anläßlich dessen nicht. Über Rückschritt, über Regression indes doch. Denn wir sind ein paar Jahre weiter fortgeschritten. Während Deep Purple nach der Demission von Ritchie Blackmore 1993 versuchen, ein Leben nach den Launen – temporal und nicht länger kausal nach den Launen des „banjo player“ (Ian Gillan) – zu führen, gründet der grummelige Godfather des „Dampframmen-Stils“ (H. P. Hofmann: Beat-Lexikon – Interpreten, Autoren, Sachbegriffe, Berlin 1980, VEB Lied der Zeit Musikverlag) und des Bendings Rainbow neu; spielt auf, als existierte nichts außer ihm; und startet dann im Sommer 1997 – ein Projekt. Blackmore’s Night. So heißt das. Und so heißt das bis heute, das „gar seltsame Projekt“ (Tagesspiegel, 2001).

Mit Blackmore-Fans im speziellen ist es so eine Sache, sie sind womöglich die zähesten, die gläubigsten Deep-Purple-, die vornehmlich Mark-II-Verehrer, die Anhänger der reinen Lehre. Einer der Autoren ist auch so einer, es ist der­jenige, der gerade das Vorwort zusammentippt. Und jetzt hat er richtig zu schaffen. Denn was geschieht seit 1993?

Deep Purple touren unverdrossen weiter, obwohl im Herbst 1993, im Jahr ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens, das Ende der Band besiegelt zu sein scheint. Die Band tourt und arbeitet weiter, erst mit Blackmore-Ersatz Joe ­Satriani, seit November 1994 mit Steve Morse (Ex-Dixie-Dregs, Ex-Kansas), und Ritchie Blackmore, der „letzte Aristokrat“ und „Ästhet“ (Rock Hard), dessen „Anschlag absolut intakt geblieben ist“, erreicht, wie erwähnt, mit Rainbow in – wieder einmal – kompletter Neubesetzung ein spieltechnisches und expressives Niveau wie lange nicht mehr. Ihm, der „Demokratie in einer Band“ für „reine Zeitverschwendung“ hält und der sich in der Rolle des „Diktators“ „äußerst wohl“ fühlt, „lag es schon immer, jungen, talentierten Musikern eine Chance zu geben, sie quasi zu entdecken“: „Der Vorteil von neuen, unbekannten Musikern ist, daß sie anpassungsfähig sind. Hätte ich dagegen ehemalige Bandmitglieder engagiert, so hätten die sofort angefangen rumzulabern.“

Hat man ihn zu dieser Zeit auf der Bühne gesehen, wurde man nicht selten von einer Melange aus melodischen Feinheiten, dynamischer Diskretion und ausgedehnter Akrobatik überwältigt. Blackmore verfügte über einen klirrenden, beißenden und zugleich warmen, weichen, obertonreichen Sound, weil er die Mar­shall-Stacks, diese „schwer kontrollierbaren Elefanten“ (Blackmore), 1995 durch Engl-Amps, die mehr Sustain produzieren, ersetzt hatte (schon 1973 hatte er geäußert: „Ich würde lieber über einen kleinen Amp spielen“); und er besaß vor allem die alleinige Befugnis darüber, was musikalisch, oft unvorhergesehen, geschehen durfte und konnte, vorausgesetzt, Schlagzeuger Chuck Bürgi (vormals, neben diversen anderen Engagements, Al-di-Meola-Kompagnon und Drummer auf dem 1983er Rainbow-Album Bent Out Of Shape), der den beim Fußball verletzten John O’Reilly kurzfristig ersetzt hatte, verhaute die Tempi nicht.

Anfang 1989 hatten sämtliche Deep-Purple-Mitglieder, ausgenommen der in Bälde hoch- und breitkant gefeuerte Ian Gillan, mit BMG Einzelverträge abgeschlossen, die auch etwaige Soloprojekte einschlossen. Blackmore nahm nun, Anfang 1994, seine mit zwei Millionen Dollar versüßte Option wahr und reformierte Rainbow (die Band sollte zunächst „Rainbow Moon“ heißen). Nach diversen Jams in New York engagierte Blackmore im April Doogie (Douglas) White als neuen Sänger, eine Reaktivierung Ronnie James Dios oder Joe Lynn Turners hatte er verworfen. White konnte als Schotte nicht nur das „r“ nuanciert rollen und rocken („Ich liebe vor allem seine gerollten ,rs‘ – das sollte jeder Rock­sänger draufhaben“), er war auch in der Lage, des Meisters Ansprüchen zu genügen, eine Mischung der beiden zu verkörpern und gleichzeitig in etwa wie Paul Rodgers zu tönen, der schon 1973, als Gillan und Roger Glover „Purple“ (Volksmund) den Rücken gekehrt hatten, als neuer Purple-Frontman im Gespräch gewesen war.

Das in den USA erst Anfang 1997 veröffentlichte, in Japan und Teilen Europas allerdings vom kaufenden Publikum bereits 1995 halbwegs wohlgelittene, radiotauglich abgeschliffene Rainbow-Album Stranger In Us All war alles andere als strange und perfekt und ließ einige vielversprechende Jam-Ideen vermissen (Doogie White berichtete von inflammierten Songs, die nie erschienen). Doch die Bühnenpräsenz der Band barst mitunter vor schierer Energie. Nicht ohne Recht ­feierte Andreas Schöwe, dem wir hier für seine treue Berichterstattung unbekannterweise danken möchten, in einem Tourreport für den Metal Hammer das „grandiose Comeback“ eines „der innovativsten Gitarristen der Rockgeschichte“. Schöwes Resümee nach dem nicht lange zurückliegenden „heftigen Ungemach bei Deep Purple“ kulminierte in der Feststellung, „daß der Gitarrist sogar im kleinsten Finger mehr Stil und Ausstrahlung besitzt als gut neunundneunzig Prozent der auf diesem Planeten nichtssagenden Unsinn verzapfenden Griffbrettwichser“.

Ja, man fühlte sich an die siebziger Jahre erinnert, als der bescheidene Mann mal fallengelassen hatte: „Ich kann jedem Gitarristen voll den Arsch abspielen.“ Blackmore trat auf wie einer, der bei sich war und „wie ein phantastischer Irrer“ (Kay Sokolowsky) übers Griffbrett derwischte (man sehe sich nur die halbwegs leicht erhältliche WDR-Rockpalast-Aufzeichnung vom 9. Oktober 1995 an), in sich versunken und zugleich voller Aufmerksamkeit für das, was sein Spiel beim Publikum auszulösen vermochte. „Temple Of The King“ vom ersten Rainbow-Album aus dem Jahr 1975 geriet aufgrund der hartnäckigen Intervention von Doogie White vielfach zu einem nicht wiederholbaren Exerzitium der Improvisation. Einen ahnungsvollen Eindruck davon vermittelt die in Europa ver­öffentlichte Maxi-CD „Ariel“ mit der am 2. Oktober 1995 in Stockholm auf­gezeichneten „Temple“-Fassung.

In der Offenbacher Stadthalle legte der ab und an gewiß gewissermaßen unleidliche Mann, der 1982 mal ein Konzert im Pavillon zu Paris mit zweistündiger Verzögerung begonnen hatte, am 24. Oktober 1995 dermaßen los, daß einem, im „Axe-Up-Tempo-Gewitter“ (Metal Hammer) ertrinkend, das Hören inklusive des Sehens zu vergehen drohte. Und wer nach Dokumenten gräbt, die Blackmores Ingeniosität in besagter Periode belegen, sei unter den Myriaden von Bootleg-Belegen, etwa aus Appenweiler (Schwarzwaldhalle, 12. Oktober 1996) und Bad Wörishofen (Eissporthalle, vergleiche Metal Hammer 10/1996), auf den Schmallenberg-Mitschnitt vom 1. August 1996 verwiesen, auf dem wir eine „Mistreated“-Klage, ein „Lazy“-Impromptu, ein „Still I’m Sad“ inklusive der die „Smoke On The Water“-Idee pointierenden Interpretation des Kopfthemas von Beethovens Fünfter gewärtigen; beziehungsweise die Magie des von gedämpften Slowlines davongetragenen Intros bei „Ariel“ oder im „Blues“ (in Rock Hard war von „einer traumhaft geilen Kraftfutter-Performance“ die Rede – man müßte sie symbolisch aushungern, diese Journalisten).

Oder man entsinnt sich – bevor der ganze Kram wieder aufgrund von Black­mores Neigung, mit seinen Mitstreitern irgendwann kein Wort mehr zu wechseln und ihnen bei Bedarf live den Saft abzudrehen, in die Grütze rumpelt – des zweieinhalbstündigen Gigs vom 3. November 1995 im Londoner Hammersmith Odeon (man vergleiche die Drei-CD-Box Extra Long), als die Sub­alternen reichlich mehr als Dienstburschen abgaben und durch ein Set fegten, das von Albernheit, subtilem Stegreifchaos, witziger Launenhaftigkeit, rhythmischer Finesse bis zu ausschweifenden Solopartien alles bot, was ein Konzert mit Blackmore bieten kann (inklusive gestohlener Gitarre im Zugabenteil).

Was Blackmore später bewog zu behaupten, er habe von Anfang an gewußt, daß der Sänger nichts tauge, bleibt eines seiner nicht eben wenigen Geheimnisse; ebenso, was ihn dazu animierte, auf Pat Boones Big-Band-Parodiealbum In A Metal Mood – No More Mr. Nice Guy (1997) für einen „Smoke On The Water“-Gastauftritt geradezustehen (der dazugehörige Film stellt allerdings das trotz ­Spinal Tap bis dato komischste Dokument über die bizarren Rituale des Heavy Metal und seiner Protagonisten dar; etwa zeitgleich, das bleibe nicht unerwähnt, spielt Blackmore für das Shadows-Tribute-Album Twang! [1996] eine angenehm moderate Version von „Apache“ ein – und er schrubbt damit, auf einer Höhe mit Brian May oder Steve Stevens und Andy Summers, Beiträger wie Peter Frampton und Tony Iommi galant aus der Galerie). Ein Geheimnis bleibt desgleichen: weshalb er, Blackmore, das Projekt Blackmore’s Night zusammen mit seiner Verlobten Candice Night, einer ehemaligen Radiomoderatorin, die er Anfang der neunziger Jahre kennengelernt und die während der Rainbow-Tourneen background gesungen hatte, in Angriff nahm und bis heute nicht gestoppt hat. Nein, das ist und bleibt auch letztlich ein und sein wahres Geheimnis, ja Rätsel.

Am 31. Mai 1997, nach einer zum Teil glänzenden Frühjahrs-Nordamerika-Tournee (zumindest ein Amateurvideo vom Konzert in Toronto am 26. Februar bietet den Eindruck einer exzeptionellen Show), traten Rainbow im dänischen Esbjerg zum letztenmal auf, das erste Blackmore’s-Night-Album, Shadow Of The Moon, das „Lothar Matthias“ (sic!) sowie Blackmores 1965er Band Three Mus­keteers gewidmet ist und im Titel auf Mike und Sally Oldfields „Moonlight ­Shadow“ anspielt, war in Japan bereits erschienen und kam im Sommer in Europa auf den Markt.

Einen Monat bevor Blackmore Deep Purple 1993 verlassen hatte, hatte er dem Metal Star anvertraut, von dem, was er gerade mache, gelangweilt zu sein, und sich über die Unplugged-Welle ausgelassen: „Ich mag diesen Trend absolut nicht. Ich werde niemals unplugged spielen. Ich heiße nicht Eric Clapton, der so was von verdammt langweilig ist, genauso wie Rod Stewart.“ Vier Jahre später – was stört mich mein filigran gesponnenes Gerede von vorvorgestern? – legte der „Rockrüpel“ (gitarre & bass), des Riffgeochses und der ganzen Rockband­idee überdrüssig, ein gewaschenes Bekenntnis zu seinem recht eigenen, neuen Unplugged-Projekt ab: „Mit dreizehn mußte ich mich entscheiden, ob ich klassisch, mit allen meinen Fingern, spielen sollte oder elektrisch und ein Plektrum benutzen würde. Natürlich habe ich mich für das letztere entschieden. Nun gehe ich zurück und lerne, wie man mit den Fingern spielt. Mich fasziniert die Herausforderung, die akustische Gitarre zu spielen. Ich kaufe jetzt auch all diese Akustikgitarrenmagazine und bin ständig auf der Suche nach Akustikgitarren. Mit der E-Gitarre habe ich mich nur noch gelangweilt.“ – „Er spielt auf der akustischen Gitarre, das ist sein wahres Ich“, ergänzte Candice Night. Zum erstenmal in seinem Leben tue er das, was er wirklich tun wolle, bekannte ­Blackmore zudem. Den Rock ’n’ Roll habe er „nie genossen“. „Jetzt reicht’s“, erklärte Black­more, „jetzt werde ich mittelalterlich.“ Da bleibt einem zunächst lediglich, mit Deep-Purple-Monograph Dave Thompson (Smoke on the Water – The Deep ­Purple Story, Toronto 2004) einen der „mutigsten“ Schwenks zu konstatieren, den ein „Gitarrenhero“ jemals vollzogen hat. Oder Blackmore selbst noch mal parlieren zu lassen: „Die Leute sagten früher immer zu mir: Warum machst du nicht mal irgendeine akustische Sache, warum spielst du keine ruhigen Parts? Aber jedesmal, wenn ich eine ruhige Passage gespielt habe, egal, ob bei Rainbow oder bei Deep Purple, brüllten und schrien die Leute weiter. Ich spielte leise, und die Typen brüllten: ‚Come on, get on with it!‘ Das war der springende Punkt, diese Art ‚negatives‘ Brüllen.“

Rainbow waren nun ein für allemal dahin, wohl auch wegen des höchst dubiosen Vertragsgebarens der neuen Blackmore-Managerin Carole Stevens, der Mutter von Candice Night (Näheres bei Roy Davies: Rainbow Rising – The Story Of Ritchie Blackmore’s Rainbow, London 2002). Noch 1997 kursierende Gerüchte über eine Reunion mit Dio, Cozy Powell und Bob Daisley konnten ad acta gelegt werden; die Summe, die Blackmore Dio angeboten hatte, soll zudem, gelinde gesagt, ein Scherz gewesen sein. Jetzt stand „Hartwurstgitarrenkönig Richard Schwarzmehr“, wie die Mannschaft des Megalomagazins Rock Hard einmal mehr anbetungswürdig schmissig gleichwie wiehernd komisch zu formulieren vermochte, elfenbeinhart zu seinem „Scheibchen“ (ebenda) Shadow Of The Moon, das einen Multiinstrumentalisten Blackmore präsentierte, der neben einigen raren flotteren Passagen nicht mehr zuwege brachte als in der heimischen New Yorker Minstrel Hall zusammengepflückte müde Arpeggios und Mandolinenpickings (siehe etwa „Renaissance Fair“ – „mit den Sängern spielen, mit den Zigeunern laufen und mit den Rittern kämpfen“, so erklärt einem eine Fanklubzeitung den tieferen Sinn dieser Komposition), nicht viel mehr als furchteinflößende synthetische Trompeten, Hörner, Geigen und Drum-Spuren sowie, zu schlechter Letzt, die katastrophalste „Greensleeves“-Version der Welt­geschichte. „Ja Gott, drehen denn jetzt alle durch?“ fragte die taz anläßlich dieser Offenbarung(en) und antwortete sogleich: „Aber okay, man muß auch die Schattenseiten der Künstlerfreiheit akzeptieren.“

Andere sahen das anders und schrieben, das „verträumte Romantikalbum“ transportiere „das mystische Flair mittelalterlicher Ritteridyllen perfekt und authentisch in die heutige Zeit“ (Metal Hammer) und sei „makellos gefertigt“ (Fachblatt Musikmagazin), oder sie marschierten sogar in die anberaumten Konzerte auf den bei Blackmore von früh an äußerst angesagten Burgen, in Kirchen oder in kleinen, komplett bestuhlten Hallen, in denen sich, von den gelegentlichen gnadenreichen elektrifizierten Zugaben des „begnadeten Technikers“ (FAZ) abgesehen, ein Spektakel darbot, für das die schmählichsten Worte unpassend erscheinen (der Vorwortautor war vor Ort, am 14. Dezember 1997 im ­Eltzer Hof in Mainz, am 30. September 1998 in der Fürther Stadthalle). Da stand Candice Night in vorderer Rauschgoldengelfront, ohne zu merken, sich vielleicht mal eine zweite Tonlage zulegen zu können, drum herum, unter „einem hellen leuchtenden Käse“ (Mainz Echo), eine Pappschloßsilhouetten-, Mondnacht- und Kunstlaubdekoration, die das ästhetische Desaster des grauenerregenden CD-Covers noch in den fahlen Schatten stellte, und die sogenannte Band gondelte, entweder in wallende Kleidchen oder Strumpfhosen und Stulpenstiefel verpackt, zwischen Krummhorn, Laute, Leier, Tamburin und Dudelsack über die Bretter und repräsentierte, weiß Gott „weit entfernt von den jaulenden Exzessen vergangener Tage“ (FAZ), die verschnarchteste, zuckerwattigste Imitation irgendwelcher mittelalterlicher Spielleute, die man dieser Tage jenseits der hie und da beliebten Renaissancekostümfeste und Ritteraufläufe zu Gesicht bekommen kann. Ein treuer Blackmore-Addict faßte nach dem ergreifenden Termin in Fürth die Foyerplaudereien deshalb folgendermaßen zusammen: „Überhaupt stellte ich aus vielen Gesprächen heraus fest, daß die meisten genug von Blackmore’s Night hatten.“

Ritchie Blackmore erklärte der Presse die stilistische Umkehr, die er dem eigenen Bekunden zufolge seit fünfundzwanzig Jahren angestrebt hatte, immer wieder mit seiner Liebe zum Mittelalter und zur Renaissancemusik, was, gar nicht mal allzu scharf betrachtet, nicht unbedingt leicht einzusehen sein will. „Die Renaissancezeit fasziniert mich, vor allem die Minnesänger. Sie haben meine Seele berührt“, unterbreitete Blackmore des öfteren. Da fragt man sich mitunter schon, was der höfisch-ritterliche Troubadouren- und Minnesang des Hochmittelalters zumindest mit der Vokalpolyphonie der Renaissance am Pilgerhut hat. Anyway, Mitte der achtziger Jahre war der Knoten endgültig geplatzt: „Es war so um 1986 herum, als Freunde mich zu einem Essen auf eine Burg einluden, wo Des ­Geyers Schwarzer Haufen auftraten. Von diesem Moment an wußte ich, daß ich ein Minne­sänger sein und nicht in einer Rock-’n’-Roll-Band spielen will.“

Die Dinge besserten sich auch in der Folgezeit, in den späten neunziger Jahren, nicht wesentlich. Die einmal initiierte „Esoterik-Eierei“ und die „einfach gestrickten Weisen zwischen Kelly Family und Gypsy Kings“, wie manch finsterer Herr aus dem Reich der „schwarzen Magie“ (Karl Kraus) höhnte, fanden ihre biedere und bittere Fortsetzung. Zwar vermied es Blackmore auf den Sequels Under A Violet Moon (1999), Fires At Midnight (2001) und Ghost Of A Rose (2003), zum Beispiel Tschaikowskys Schwanensee abermals in einen Drum­computer-Popschmodder wie „Writing On The Wall“ hineinzufrickeln, aber der eklektizistische Flachsinn nahm trotzdem weiter seinen Lauf. Mag sich Black­more, „vom Rüpel zum Ritter mutiert“ (Berliner Kurier), in seinem neuen Anti-Rocker-Ambiente auch zu einem höflicheren, ausgeglicheneren Zeit­genossen entwickelt haben – das macht uns etwa das Magazin Guitar World Acoustic glauben –, so verging er sich doch schamlos an Bob Dylans „The Times They Are A-Changin’“, quasi umgekehrt jenen skandalösen Umschwung wiederholend, als Dylan 1964 auf dem Newport-Festival von der akustischen zur elektrischen Gitarre übergewechselt war. Und mit Ausnahme von solch transparenten, taktvollen Instrumentals wie „Possum Goes To Prague“ und „Fayre Thee Well“, von zögerlichen, bisweilen funkelnden und unvergleichlich singenden E-Gitarren-Einsprengseln und von der Neuauflage des Rainbow-Klassikers „Self Portrait“ schaffte sich das sinistre Duo unvermindert durch sein Lagerfeuerliedgut, in dem sich zuverlässig „night“ auf „light“ reimt und der verfemte Viervierteltakt („Ich finde schnurgerade vier Viertel entsetzlich langweilig. Und Rock-’n’-Roll-Songs wie ‚Roll Over Beethoven‘ machen mich wahnsinnig“) durch einen langweiligen Dreivierteltakt nach dem anderen ausgetauscht wurde. Könnten Photos klingen, die Betrachtung der Hinterwald-Session-Shots für die Booklets besagter Produkte hätte einen schon vorher in denselben getrieben. Beziehungsweise in den Worten des verdienstvollen Deep-Purple-Forschers Ingo Jansen (A Life In Purple – Die ultimative Deep-Purple-Bibel, Selbstverlag, 2000): „Schlimm.“ Respektive: „Man reiche mir den Eimer.“

„Ein Mann wird älter“ (Italo Svevo), sicher. „Den größten Teil meines Lebens“, so Blackmore, der geläuterte „Ritter der Stille“ (Frankfurter Rundschau), „habe ich in einer Band wie Kiss verbracht: gewaltige Power, Akkorde, Fäuste in der Luft, Rock ’n’ Roll.“ Das reicht vielleicht irgendwann einfach, und man entscheidet sich für eine gemessenere Haltung: „Die Rolle als Rädelsführer an der Gitarre habe ich längst abgelegt. Darum können sich andere streiten. Entweder sind die Leute eifersüchtig auf dein Können, oder sie mögen deine Platten sowieso nicht. Also geht es nur noch darum, andere Gitarristen zu beeindrucken. Das ist kein Thema für mich.“ Aber muß man sich deshalb derart stur und dauerhaft entblößen? Und am 25. Juli 2004, wie bereits etliche Male zuvor, als „absoluter Superstar“ (Andrea Kiewel, ZDF) mit verwelktem Hut und immerhin Sonnenbrille auch noch im ZDF-Fernsehgarten ein blitzsauberes Playback-Stückchen („All Because Of You“) hin- und hinterlegen? Das kann ja eigentlich nicht wahr sein. Drückt sich da, wie ein Fan mutmaßt, Blackmores „perverses Vergnügen daran“ aus, „die ‚alten‘ Rockfans von damals zu quälen“? Oder sollten wir angesichts solcher Vorgänge lieber Hans Mentz, den Humorkritiker der Titanic (9/2003), in den Gerichtsstand rufen und ihm zu „Blackmores Blackout“ das Wort erteilen? Okay. Bitte: „Auf die Neigung des ehemaligen Deep-Purple-Gitarristen zu ‚practical jokes‘ wurde an dieser Stelle schon hingewiesen (Titanic 3/2003), aber damals konnte ich nicht ahnen, was der Meister noch Großes plante. Es begab sich am 20. Juli 2003, daß Blackmore’s Night den ZDF-Fernsehgarten besuchten und diese an Dämlichkeiten nicht eben arme Sendung mit ihrem Auftritt krönten. Blackmore und seine Truppe sahen aus wie Komparsen aus der letzten Herr der Ringe-Verfilmung, die Melodie des auf mittelalterlich getrimmten Schlagers erinnerte aufs peinlichste an ‚Was wollen wir trinken?‘“ – gemeint ist „All For One“ von Ghost Of A Rose; daß ­Blackmore im kleinen Kreis gern Trinklieder klampft, ist bekannt – „und andere einfältige Hymnen, wie sie in den Achtzigern verbreitet waren. Nach Ritchies Lautensolo holte eine blonde Mamsell eine meterlange Blockflöte heraus und begann, darauf Flötenspiel zu simulieren. Während des Vortrags hüpfte die ganze Bande in einer Pseudoausgelassenheit durch die Gegend, die unschön an eine schwedische Stumpfsinnscombo erinnerte, deren Namen ich zum Glück vergessen habe (aber einer ihrer Hits hieß ‚Cotton Eye Joe‘). Einzige Ausnahme war der Bassist, der den Refrain widerwillig wie ein Fußballer die Nationalhymne play­backte und dabei immer wieder furchtsam zu seinem Boß sah. Die Blicke sprachen Bände: ‚Hoffentlich hält er mich nicht für Roger Glover und schmeißt mich raus.‘ Am Ende krähte die Moderatorin [Andrea Kiewel; Anm.] begeistert: ‚Das war Ritchie Blackmore’s Night!‘ – ein Redakteur hatte ihr wohl erzählt, was für ein fulminanter Fang den Fernsehgärtnern da ins Netz gegangen war (‚Der ­Exgitarrist von Deep Purple! Deep Purple!! Damit müssen wir doch die jungen Zuschauer kriegen!!!‘). Mister Blackmore griente derweil in sein frisch gewachstes Menjoubärtchen und verschwand. Musikalisch hat Ritchie Blackmore seinen Zenit schon vor Jahren überschritten; aber als Protagonist semisubversiver Happenings ist offenbar immer noch mit ihm zu rechnen.“

Kehren wir von der Gegenwart des Ritchie Blackmore zu Deep Purple zurück. Hier, in diesem Buch, alles „komplett haben“ (Christian Gasser), wirklich oder wenigstens „approximativ“ (Gerhard Polt) alles berücksichtigen, inklusive minimaler TV-Großereignisse, diesem Anspruch können und wollen wir, zumal in Zeiten der Informations- und Desinformationsschwemme, dabei allerdings nicht nachkommen. Wir wollen und können nicht konkurrieren mit den Die-Hard-Fans, den manischen Sammlern auf der Suche nach den verlorenen Momenten und den Fanklubmitgliedern in aller Welt, die jedes Tourprogrammheft besitzen, die jedem Bootleg hinterherforschen, jede Kolportage und jede Meldung inventarisieren, kommentieren und dergestalt ihr Bandbild komplettieren. Ihnen gegenüber dürfen wir um Nachsicht bitten.

Wir mußten trotz des erheblichen Umfangs dieses Buchs destillieren und uns weitgehend auf diejenigen Informationen beschränken, die der Erklärung der Bandgeschicke dienlich sind und ihre Einordnung in die Musik-/Rock­geschichte erleichtern. Die Exegese der dreiundneunzigsten Live-Fassung von „Highway Star“ mit Steve Morse im Vergleich zu den Darbietungen von Ritchie Blackmore kann nicht Thema sein, und den wuchernden Irrungen der Spekulation und der unzähligen „What-ifs“ müssen wir genauso entsagen. Empathisch und auch mit der ab und an gebotenen Distanz zu einer Band, deren Geschichte neben vielen großen Momenten gleichfalls solche des Scheiterns, des lächerlichen, komischen und ärgerlichen Mißlingens, birgt, möchten wir ebendiese Geschichte einer innovativen, mitreißenden und zuzeiten kaputten und kreativ erloschenen Rockband erzählen.

Fangen wir an, es wird ja Zeit.

Deep Purple

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