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„So verdammt laut, daß es magisch war“

Das dritte Kapitel, in dem plötzlich alles sehr schnell geht

Der Mann des sauren Kitsches arbeitet nach dem Prinzip: Gelobt sei, was weh tut!

Hans Egon Holthusen

„Viele Leute haben eine völlig falsche Vorstellung von Ritchie und mir. Sie meinen, wir seien wie Öl und Feuer. Stimmt nicht! Wir sind wie Öl und Essig – wenn man beides lange genug miteinander mischt, erhält man eine vorzügliche Salatsauce.“

Jon Lord, 1984

Hier beginnt nun also endlich die Geschichte von Deep Purple: an einem düsteren, kalten, schneeverwehten Tag Anfang Dezember 1967 in einer Wohnung am Gunter Grove. Es ist kein freundschaftliches Treffen, das hier stattfindet, sondern eine Geschäftsbesprechung. Generationen von Kritikern, die den Gründungs­mythos jeder Band am Lennon-McCartney-Modell messen, werden später nicht müde werden, darauf hinzuweisen, es handle sich bei Deep Purple um ein kalkuliertes, durchgeplantes, eiskaltes Projektmanöver, um eine Retortenband ohne Seele. Man kann das so sehen, wird jedoch, wenn man sich die romantischen Gespinste aus den Augen reibt, feststellen müssen, daß es soviel anders bei den Beatles auch nicht war, von praktisch allen sonstigen Zeitgenossen ganz zu schweigen.

Ritchie Blackmore, Jon Lord und Chris Curtis sind so unterschiedliche Typen, daß man sich fragen muß, wie sie es an diesem Tag stundenlang gemeinsam in einem Zimmer ausgehalten haben. Aber: Es geht hier um Arbeit. Black­more spielt den beiden auf der Akustikgitarre zwei Songfragmente vor, die er für seine geplante Hamburger Band erdacht hat: „And The Address“ und „Man­drake Root“. Man bastelt ein bißchen daran herum, Curtis klopft mit den Händen auf der Sessellehne einen Takt, Lord summt denkbare Orgelfiguren. ­Curtis, der sich bemüht, den entscheidungsmächtigen Bandleader zu geben, hat selbst nichts Komponiertes vorzuweisen, schlägt aber ein paar Coverversionen vor: „Strawberry Fields Forever“ (die B- oder auch A-Seite der im Februar erschiene­nen Beatles-Single „Penny Lane“) und „You Keep Me Hanging On“ – dieses Stück aber nicht im Motown-Arrangement der Supremes, sondern in der neuen Version der Heavy-Psychedelic-Band Vanilla Fudge aus San Francisco.

Am Nachmittag kommen Tony Edwards und John Coletta vorbei, um ein bißchen zuzuhören, und sind sehr angetan: „Als wir die drei zusammen hörten, waren wir von der Idee der Band endgültig überzeugt“, erinnert sich Edwards, der von dem Gitarristen beeindruckt ist: „Er wirkte düster und grüblerisch, hatte ein enormes Charisma. Gesprochen hat er kaum, er sah sich um, suchend, forschend.“

Bislang jedoch ist die Band noch keine Band. Es fehlt ein Baßgitarrist, und da der gelernte Beatklopfer Chris Curtis seine Eignung zum erdigen Heavy-Rock-Trommler ungewöhnlich realistisch einschätzt und sich daher auf den Gesang beschränken möchte, fehlt auch noch ein Schlagzeuger.

Moment mal. „Heavy Rock“? Der plötzlich ins Spiel gekommene Begriff verdient einen kurzen Einschub, zumal wir die Schwierigkeiten der Rezeption „psychedelischer“ Kompliziertmusiken bereits angedeutet haben – in Jimi ­Hendrix’ Worten: „Man spielt die verkehrten Noten jener Noten, von denen man meint, sie seien die richtigen. Wenn man diese richtig trifft, mit der richtigen Dosis Feedback, klingen sie manchmal sehr hübsch. Es hört sich dann so an, als ob man falsche Noten richtig spielen würde.“

Dafür ist der Heavy Rock eine schlagend geniale Lösung: Man muß weder Musik studiert haben noch die Sinne mit LSD erweitern – oder, je nachdem, die eigene Toleranz durch gezielte Abstumpfung erhöhen –, um ihn verstehen und/ oder genießen zu können (es schadet aber andererseits nicht). Wenn dann noch ein gehörig greller Schein von „Anspruch“ – vor allem musikalisch, notfalls auch „politisch“ – hinzukommt, ist die Sache perfekt. Endlich kann man sich mit pfundig primitivem Aggressionsgehämmer zudröhnen und trotzdem in einem stolzen Selbstgefühl von Progressivität schwelgen.

Die Pioniere heißen, wir erwähnten sie bereits, Vanilla Fudge. Ohne Zweifel – wie sollte man so etwas auch messend ergründen? – sind sie gute Instrumentalisten: Vince „Vinnie“ Martell (Schlagzeug, Orgel; „musikalische Qualitäten“ laut pop: „Ordnet sein Instrument korrekt dem Gesamteindruck unter/wirkt phasenweise regelrecht mitreißend; musikalische Mängel: Ist das schwächste Glied in der Vanilla-Fudge-Kette/setzt den Verzerrer zu oft und zu aufdringlich ein/spielt zuweilen grobschlächtig“), Carmine Appice (Schlagzeug; „musikalische Mängel: keine“), Mark Stein (Akkordeon, Gitarre, Piano, Cembalo, Orgel; „effektreicher, kraftvoller und zugleich subtiler Organist/Sänger mit Soul im rechten Sinne; zeigt zuwenig Virtuosität auf der Orgel“) und Tim Bogert (Klarinette, Flöte, Saxophon, Piano, Schlagzeug, Baß; „aufregender, exakter Bassist und genialer Arrangeur“). Sie schleppen sich durch monströs laute, produktionstechnisch von Shadow Morton bombastisch aufgedonnerte Versionen simpler Standards, aus denen Wagenladungen von „Bedeutung“ quellen. Oder, um noch mal pop zu zitieren: „Was dabei herauskam, stellte eine zähflüssige musikalische Sauce dar.“ Ihr drittes Album, The Beat Goes On, das größtenteils aus unerheblichen Fetzenversionen des gleichnamigen Sonny-Bono-Schlagers besteht, würzen sie mit historischen Tondokumenten, wodurch eine „historische Bewußtheit“ hineinzieht ins Gedröhn und Geplänkel. Der Erfolg ist enorm: „In den Geräuschen der Vanilla Fudge hat die auf dem Underground basierende Popmusik einen nie erahnten Gipfelpunkt erreicht. In puncto Instrumenten­beherrschung und Präzision schweben die Fudge in musikalischen Höhen, welche sonst nur ganz auserwählte Vertreter der klassischen und jazzigen Musik kennen.“ So zu lesen Anfang 1969 in einer „Underground-Fibel“, die offensichtlich unter erheblichen Überdosierungen von Afri-Cola oder wenigstens der dazu­gehörigen Reklametexte entstand.

Wahrgenommen wird der Erfolg der „zähflüssigen“ Heavy-Sauce auch in der britischen Szene respektive ihrer Außenstation Hamburg, wohin viele vom psychedelischen Gebims in der Heimat überforderte, beruflich eher traditionell und „bodenständig“ orientierte Musiker geflohen sind, weil dort die Nachfrage nach dem überholten Beat immer noch floriert und auf überkandideltes Getue aber kein Wert gelegt wird. Es wäre eine grob falsche Einschätzung, wollte man behaupten, Ritchie Blackmore und Jon Lord wären vom musikalischen Niveau her nicht in der Lage, die elfenbeinernen Kompositions- und Improvisationstürme zu „begreifen“, die da erbaut werden. Wahrscheinlich ist es eher genau umgekehrt, in jedem Fall jedoch spielt, was ihr Verständnis für pseudofuturistischen Schwurbelklang anbelangt, das Wollen eine größere Rolle als das Können.

Und die Wahrnehmung. „Vanilla Fudge spielten im Speakeasy“, erinnerte sich Ritchie Blackmore 1991, „und da hingen immer die ganzen Hippies rum – Clapton, die Beatles, jedermann ging da hin zum Posieren. Der Legende nach war zu jener Zeit Hendrix das große Thema in der Stadt, aber das ist nicht wahr. Es waren Vanilla Fudge. Sie spielten Achtminutensongs, mit viel Dynamik. Die Leute fragten: ‚Was zum Teufel passiert hier? Wieso dauert das nicht drei Minuten?‘ Timmy Bogert, ihr Bassist, war der Wahnsinn. Die ganze Band war ihrer Zeit weit voraus.“

„Heavy“ übrigens sind Blackmore zufolge schon Bach und Beethoven gewesen, und zwar „so unglaublich heavy, daß es auf der Welt nichts Vergleichbares gibt“, und darum, das wird er in den nächsten Jahren nimmermüde betonen, liegen seine musikalischen Wurzeln auch weder im Mississippidelta noch in der Tin Pan Alley, sondern: „in Deutschland“.

Doch müssen wir, ebenso wie die Herren Curtis, Lord und Blackmore, die Musik noch für eine Weile aus den Augen lassen und uns mit personellen Wirren herumschlagen.

Chris Curtis’ Vorstellungen sind im Dezember 1967 dabei, weiter zu entgleisen: Einen Bassisten, meint er, braucht es überhaupt nicht, schließlich verfüge man über eine Orgel (vorläufig mal wieder nur im Kopf), und diese habe Pedale für tiefe Töne. Statt der üblichen Hoch-tief-Gitarrenklammer erträumt er eine Bühnenkonstruktion, die ähnlich funktioniert wie ein Karussell: In der Mitte stehen oder sitzen Lord, Blackmore und er selbst, außenrum kreisen wechselnde Trommler und Sänger, die sich mit ihm, der nun doch auch ein bißchen trommeln und auf jeden Fall singen möchte, „Duelle“ liefern.

Jon Lord wird der Zirkus schnell wieder zuviel. Glücklicherweise ist er immer noch Flowerpot-Men-Begleitmusiker und als solcher über Weihnachten zu einem Gastspiel in München geladen. „Als ich gerade zum Taxi rennen wollte, klingelte das Telephon. Das kam selten vor, und wenn, ging es normalerweise um Arbeit. Diesmal war Tony Edwards dran: ‚Ich weiß nicht, was mit Chris Curtis los ist‘, sagte er, ‚aber wenn du zurück bist, müssen wir uns unterhalten.‘ Das war ein Schlüsselmoment in meinem Leben.“ Es war, wie er später zu betonen nicht müde wird, „der eigentliche Beginn von Deep Purple“.

Als Lord wieder in London ist, besteht die rudimentäre Roundabout-Besetzung nur noch aus Ritchie Blackmore. Curtis ist verschwunden, angeblich nach Liverpool; niemand weiß es. Im Grunde weiß niemand mehr so recht, ob Curtis überhaupt wirklich existiert. Jon Lord wird sich später erinnern, er sei schon bei der allerersten Session nicht mehr dabeigewesen, Ritchie Blackmore will laut einem 1972er Interview noch im April 1968 in Dänemark mit ihm zusammengespielt haben; danach sei er rausgeflogen, weil er so schlecht gewesen sei. Da täuscht er sich – oder den Interviewer. „Chris wurde immer seltsamer“, sagt Black­more, „bis ich irgendwann dachte: Was ist hier eigentlich los?“ Seinen Plan, mit einer richtigen Band in der Londoner Szene Fuß zu fassen, möchte er so leicht nicht aufgeben, aber vorläufig steht mal wieder ein Job in Hamburg an.

Tony Edwards, der inzwischen ebenfalls ganz froh ist, daß Chris Curtis von der Bildfläche verschwunden ist, setzt nun ganz auf Jon Lord. Er schickt dem alleinstehenden Restmusiker ein Telegramm und bietet ihm an, die Zusammenarbeit fortzusetzen, das heißt: überhaupt erst richtig zu beginnen, wenn Lord eine neue Roundabout-Besetzung auf die Beine stellt. Den Termin für ein diesbezügliches Gespräch allerdings nimmt Jon Lord nicht wahr, und zum erstenmal sind auch Edwards und John Coletta bereit einzusehen, daß die ganze Sache ein Hirngespinst war.

Ein paar Wochen später steht dann plötzlich Jon Lord in ihrem Büro und erklärt, er habe es sich überlegt und wolle doch mitmachen. Die vakante Bassistenstelle ist schnell besetzt. Jon Lord fragt seinen Garden-Kollegen Nick Simper, ob er bereit sei, „auf das ganze Geld zu verzichten, das wir von den Flowerpot Men regelmäßig bekamen, hundertfünfzig Pfund oder so, um für ein minimales Gehalt zu tun, was wir wollten – ich war sofort dabei!“ Bis Februar 1968 stehen noch Flowerpot-Men-Auftritte an; inzwischen geht aber schon mal ein neues Telegramm an Blackmore in Hamburg, und zwei Tage später trifft man sich bei Nick Simpers Eltern (wo Nick und Jon Lord inzwischen untergekommen sind) und bespricht das weitere Vorgehen.

Nick Simper versucht, seinen ebenfalls für die Flowerpot Men tätigen Freund Carlo Little als Drummer in das Projekt hineinzumanövrieren, erfährt aber von Jon Lord, als Schlagzeuger sei schon Bobby Woodman vorgesehen. Der ist so etwas wie Littles Idol und die Sache für diesen damit erledigt, ebenso wie für Simper: Auch der hält Woodman für den Größten seines Fachs. Blackmore hat Woodman, der zuletzt in Frankreich mit Tony Halliday unterwegs war, Anfang Januar im Londoner Musikerstammlokal Speakeasy getroffen und gefragt, ob er mitmachen will. Vorspielen muß er nicht – sein Ruf ist gut genug, und überdies spielt er als erster englischer Schlagzeuger mit zwei Baßtrommeln, was für ­Ritchie Blackmores Heavy-Rock-Vorstellungen nicht ganz unwesentlich ist.

Ende Februar 1968, nachdem Lord und Blackmore als Gäste auf Boz Burrells Single „I Shall Be Released“ ihre erste gemeinsame Platte eingespielt haben, machen sich Simper, Lord, Blackmore und Woodman, der sich seit seiner Zeit in der Band von Vince Taylor mit Künstlernachnamen Clarke nennt, ernsthaft an die Arbeit. „Wir waren nicht ganz sicher, was wir machen wollten“, sagt Simper, „aber wir wußten, daß es neu und anders wird. Wir waren vier Leute, es fehlte ein Sänger. Wir wollten jemanden, der jung ist, jugendlich aussieht, als Aushängeschild.“

Tony Edwards mietet für Proben einen heruntergekommenen Hof bei dem Dorf South Mimms in Hertfordshire, ein paar Kilometer nördlich von London. Die Band zieht in Deeves Hall, das Hauptgebäude, Blackmore und Woodman sofort, da sie keine Wohnung in London haben, die anderen beiden eine Woche später. Die Gerätschaften werden in der Scheune untergebracht, und ­Blackmore nützt einen alten Bunker, um einen gewaltigen Vorrat an gebackenen Bohnen in Dosen und deutschen Kirschkuchen zu, ähem, bunkern. „Wir waren so glück­lich, endlich zusammen Musik machen zu können und auch noch ein festes Gehalt zu kriegen“, sagt er später. „Allerdings dachten wir auch, das geht vielleicht sechs Monate, dann kommen die Typen, die uns bezahlen, daher und sagen: ‚Das reicht, gebt’s auf.‘“

Vorläufig fließt das Geld: Coletta und Edwards blättern, nicht ganz ohne Klagen, für neue Verstärker und anderes Gerät eine Anzahlung auf die Gesamtsumme von sechstausend Pfund in die Kasse des Musikalienhändlers Jim Mar­shall – nur um zu erfahren, daß auch noch eine Hammond-C3-Orgel hermuß, weil Jon Lords alter Tastenkasten den ehemaligen Artwoods gehört: „Sie fragten mich, wo mein Instrument ist, und ich mußte gestehen, daß ich keins habe. Ich werde nie vergessen, was für Gesichter sie machten, als ich ihnen erklärte, daß so ein Ding zweieinhalbtausend Pfund kostet.“

Die nagelneue Verstärkeranlage beeindruckt und motiviert die Kandidaten für den Job am Mikrophon, die sich auf eine Anzeige im Melody Maker hin melden. Schon der Text der Annonce ist nicht eben bescheiden: Versprochen werden „zwei Monate gutbezahlte Arbeit und garantierter Erfolg“. Ein erster Bewerber ist schon vorher ausgeschieden: Dave Curtiss, den Bobby Woodman empfohlen hat – eigentlich als Bassisten, weil Blackmore von Nick Simper nicht wirklich begeistert ist –, trifft zur Probe eine Woche vor der Anlage ein, wartet vergeblich und muß dann wieder weg, weil er in Frankreich einen Job als Bassist bei Michel Polnareff hat. „Bobby meinte, ich solle die Sache mal anchecken“, erzählt er später. „Es ging wohl darum, Leute zusammenzubringen, die eine gewisse Reputation hatten, eine Art Supergruppe. Ich kannte Ritchie. Damals gab es nur ein paar wirklich heiße Gitarristen: Big Jim Sullivan, Clapton … Ich fuhr für eine Woche hin, saß ein paar Abende mit Ritchie zusammen, und wir tauschten Ideen aus. Jon Lord sagte bloß hallo und so. ‚Wir sollten was zusammen machen.‘ Es war aber überhaupt keine musikalische Richtung zu erkennen. Hätten wir uns irgendwann hingesetzt und gespielt, wer weiß. Aber es ging nichts zusammen, also sagte ich: ‚Danke, Leute, aber ich muß in Paris meine Arbeit tun.‘“

Das Quartett tastet sich auf der Suche nach einer musikalischen Ausrichtung voran. „Ab und zu kam Tony Edwards vorbei, um zu sehen, wie die Arbeit voranging“, erzählt Jon Lord, „und wenn er ging, sah er sehr verwirrt aus. Vanilla Fudge waren ein wichtiger Einfluß. Sie hatten im Speakeasy gespielt und mich begeistert. Ich hatte mich damals lange mit Sänger und Keyboarder Mark Stein unterhalten und ein paar Tricks gelernt, die ich jetzt anwenden konnte.“ – „Die Musik, die sie da erschufen“, meint Edwards, „klang für mich sehr fremdartig. Ich war ziemlich entsetzt, aber ich glaubte an künstlerische Freiheit und hatte das Gefühl, daß sie mehr Ahnung hatten als ich. Sie hatten tatsächlich mehr Ahnung als ich.“

Auf die Anzeige melden sich sechzig Leute – Ian Hansford, inzwischen von HEC als fester Roadie eingestellt, pendelt mit Nick Simper in dessen Jaguar zwischen dem Bahnhof Borehamwood und Deeves Hall hin und her und schleppt immer neue potentielle Sänger an, vier pro Fuhre. „Das war enorm lustig“, erinnert er sich. „Die ganzen Typen hingen da am Bahnhof rum, keiner redete mit dem anderen, aber jeder wußte, wozu sie alle da waren.“ Nick Simper führt die Neuankömmlinge in den Warteraum, kocht ihnen Kaffee und ruft einen nach dem anderen rein.

Die Vorstellungstermine sind eine enervierende Prozedur für die Kandidaten, mehr noch aber bald für die Band selbst: „Wir probierten Dutzende aus. Wir hörten uns so viele Sänger an, daß wir irgendwann die ganze Sache satt hatten. Als Ashley Holt dran war – für mich einer der besten Sänger im ganzen Land –, hab’ ich nichts davon mitgekriegt, weil ich einfach zu Tode gelangweilt war“, erinnert sich Nick Simper 1983 in einem Interview. „Es war furchtbar. Du kommst zum Bahnhof, und da stehen schon wieder dreißig so Typen rum und wedeln mit dem Melody Maker und der Anzeige. Einer von den Kerlen kam rein, spielte ‚Bill Bailey Won’t You Come Home‘ und zog eine riesige Mundharmonika aus der Hosentasche. Wir dachten, das kann doch nicht wahr sein.“ Weitere Nachforschungen finden in Clubs statt: „Rod Stewart haben wir uns auch angesehen, weil wir dachten, er wäre vielleicht was, aber wir fanden ihn dann ziemlich schrecklich. Er hat gar nicht mitbekommen, daß wir seinetwegen da waren.“

Mehr angetan sind die Talentsucher von Terry Reid, der allerdings nicht nur singt wie ein junger Gott, sondern auch bereits als „weißer Jimi Hendrix“ ­gefeiert wird, was Kollisionen mit Blackmore befürchten läßt. Reid sagt dankend ab – und zwar nicht nur Deep Purple, sondern ein paar Monate später auch den New Yardbirds, denen er statt seiner den Sänger der nordenglischen Band Hobbs­tweedle empfahl, einen gewissen Robert Plant – und unterschreibt lieber einen Solovertrag bei dem Produzenten Mickie Most. Ein anderer Vorschlag kommt von Nick Simpers Freund Tony Tacon: Er kenne da einen Typen namens ­Gillan, der bei Episode Six singt. Simper hat ihn selbst schon ein paarmal bei gemeinsamen Auftritten von Episode Six und seiner alten Band The Bergeracs getroffen, aber mehr als „Wie geht’s?“ war nie gesprochen worden. Simper bittet Tony Edwards, Gillan anzurufen, aber dessen Antwort ist eindeutig: Er hat kein Interesse, weil Episode Six kurz vor dem großen Durchbruch stehen und aus Round­about seiner Meinung nach sowieso nichts wird.

Der hoffnungsvollste Annoncenbewerber kommt aus Slough und heißt Mick Angus. Nick Simper hat das Zuhören inzwischen aufgegeben, sitzt vor dem Fernseher und nickt nur wortlos, als Blackmore und Lord meinen, Angus sei der richtige Mann. Er erzählt ihnen von einer Band aus seiner Gegend, mit deren Sänger und Schlagzeuger er befreundet ist, und letzterer sei viel besser als Bobby Woodman. Ritchie Blackmore weiß, wovon Angus spricht: Er hat The Maze in Hamburg gesehen und war von dem jungen Burschen namens Ian Paice, mit dem er ein paar Tage bei Boz zusammengespielt hat, so beeindruckt, daß er ihn schon damals für Mandrake Root haben wollte. Angus gibt Blackmore die Telephonnummer von Paice, für alle Fälle.

Angus’ Freundschaft mit den beiden von The Maze wird danach auf eine harte Probe gestellt: „Als ich nach Slough zurückkam, erzählte ich [dem Maze-Sänger] Rod und Ian, daß ich den Job so gut wie sicher hätte. Ich war total unter Strom deswegen. Dann hab’ ich fünf Tage lang nichts von Rod gehört. Das war sehr ungewöhnlich, normalerweise sahen wir uns täglich. Nach drei Tagen hab’ ich geschnallt, was passiert war: Er hatte selbst auf die Anzeige im Melody Maker geantwortet.“ Und Rod Evans bekommt den Job, dank einer eindrucksvollen Demonstration seiner Qualitäten als Balladensänger mit dem nur von Jon Lord am Klavier begleiteten Vortrag des West Side Story-Songs „Tonight“ – fehlerlos über zwei Oktaven, „eine Mischung aus Tom Jones und Engelbert Humperdinck“ (Lord). Nick Simper, der wieder vor dem Fernseher sitzt, nickt auch diesmal.

Evans’ Engagement hat aber noch einen zweiten Hintergrund. „Ritchie wollte ständig so seltsame Stücke und Gitarreninstrumentals einüben, und ich fragte ihn, wieso wir nicht ein paar Rock-’n’-Roll-Nummern spielen, weil wir wie eine Zirkusband klingen, wenn wir nur diesen Scheiß spielen“, sagt Bobby Woodman, und da trifft er einen Nerv. Es ist aber nicht nur seine Ablehnung jeglicher „progressiver“ Spielweise, die sich als Keil in die erst ein paar Wochen alte Band schiebt, und es sind nicht bloß die Timing-Probleme, die ihm Lord später unterstellt, sondern auch unterschiedliche Lebensgewohnheiten: Woodman trinkt keinen Alkohol, die anderen hingegen sitzen fast noch lieber in der Kneipe als im Übungsraum. Er wiederum raucht einen Joint nach dem anderen und geht auch mal ganz gern auf LSD-Trips, was der Rest der Band strikt verweigert. Ein seltsamer Konflikt: bodenständige Männer mit musikalischen Visionen auf der einen Seite, auf der anderen ein zeitgemäß Ausgeflippter, der bodenständige Musik machen will.

Die Folge ist absehbar. Als Evans mit dem Vorsingen fertig ist, fragt Black­more, wie es eigentlich seinem Drummer geht und was der in nächster Zeit so vorhat, wo doch jetzt mit The Maze nichts mehr läuft. Evans verspricht, ihn ein paar Tage später zum Vorspielen mitzubringen. Ian Paices erste gemeinsame Probe mit Roundabout etabliert ein System der peinlichen Verschwiegenheit und Klandestinität, das das Unternehmen in den folgenden Jahren wie eine chronische Krankheit begleiten wird. Während die Band auf Vorschlag von Rod Evans eine noch langsamere Version von „Help“ probt, an der Woodman wenig Interesse zeigt, wartet Paice im Nebenraum. Dann versteckt jemand Woodmans Schachtel Gitanes. Da er andere Zigaretten nicht mag, muß er wohl oder übel nach London fahren, um sich im Speakeasy eine neue Schachtel zu besorgen.

Kaum ist der Schlagzeuger draußen, sitzt Paice an seinem Instrument. Die erste Nummer ist „Watermelon Man“, und Mick Angus, der sich inzwischen mit Evans versöhnt, seine Freunde zur Probe begleitet und sich als Roadie ins Spiel gebracht hat, schwärmt noch Jahre später: „Ian baute sein Zeug auf, und statt einfach mit der Band zu spielen, drehte er vollkommen durch, spielte Wirbel, drosch in die Becken, zeigte alles, was er kann. Er war phantastisch.“ Als Bobby Woodman vom Zigarettenholen zurückkommt und erstaunt vor der neuen Situa­tion steht, sind weitere Erklärungen eigentlich überflüssig. „Damals war ein Job ein Job“, meint Ian Paice. „Man tat, was man konnte, um ihn zu kriegen.“

Aber die Sache bleibt erst einmal verschwommen. Paice sei nur zufällig da, zum Spaß; vielleicht hat Woodman auch schon einen Joint zuviel geraucht, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Am nächsten Abend beruft Jon Lord eine Geheimversammlung ohne Woodman ein und fragt Nick Simper, der mit dem Trommler inzwischen gut befreundet ist, ob er, wenn man Woodman rauswürfe, auch gehen würde. Simper spielt den Ahnungslosen, und Lord wird deutlicher: Man wolle Ian Paice in der Band haben. Simper sagt, er werde auch in diesem Fall dabeibleiben, empfehle den anderen aber, mit Bobby keinen Schabernack zu treiben, schließlich sei der Mann extra aus Frankreich, wo er jahrelang gelebt habe, angereist. Wenn Lord, Blackmore, Evans, Tony Edwards oder sonstwer ihn loswerden wolle, solle man Klartext mit ihm reden und nicht hinter seinem Rücken Verschwörungen anzetteln.

Es hat aber, zumindest Simper zufolge, keiner den Mut dazu. Statt dessen wird das Managerduo vorgeschickt. Tony Edwards sagt zu Woodman: „Hör zu, Bobby, wir wollen den Vertrag kündigen und geben dir zwanzig …“ – Coletta stößt ihm den Ellenbogen in die Rippen und zischelt: „Vierzig! Vierzig!“ – „… vierzig Pfund für deine Auslagen.“ Einige Zeit herrscht bedrücktes Schweigen, dann sagt Woodman: „Ich finde das überhaupt nicht nett. Es ist wegen Black­more, oder? Er mag mich nicht, oder?“ Jon Lord versucht zu beschwichtigen: „Bobby, ich bin doch dein Freund.“ Aber Woodman hat die Schnauze voll und keine Lust auf weitere Diskussionen. Er packt seinen Koffer und verschwindet. Dafür ziehen Ian Paice und Rod Evans ein.

In den folgenden Wochen bis Mitte April 1968 nimmt das musikalische Programm erste, noch diffuse Formen an. „Wir bedienten uns beim Jazz, bei alt­modischem Rock ’n’ Roll, bei der Klassik“, beschreibt Jon Lord die Vorgehensweise. „Wir waren so was wie musikalische Elstern, und mir machte das große Freude. Ritchie und ich machten Sachen, die direkt auf den Stil des modernen Jazz zurückgingen, musikalische Witze und gegenseitige Angriffe. Er spielte irgendwas, und ich mußte zusehen, daß mir was dazu einfiel. Das gab der Band Humor und Spannung. Was um alles in der Welt wird als nächstes passieren? Das Publikum wußte das nie, und in neun von zehn Fällen wußten wir es auch nicht.“

Für ausgiebige eigene Kompositionsarbeit bleibt keine Zeit, der größte Teil der Setlist stammt aus fremden Federn. Die auf Vanilla-Fudge-Tempo herab­gedrosselte und mit einem großen Schuß Pathos aufgepumpte Version der ­Beatles-Nummer „Help“ ist eine Hinterlassenschaft von Chris Curtis. Paice und Evans bringen den Skip-James-Song „I’m So Glad“ mit, den sie schon mit The Maze aufgenommen haben. Hinzu kommen die Jimi-Hendrix-Version von „Hey Joe“ und die beiden Blackmore-Instrumentals aus Hamburg – „Mandrake Root“ nun mit Gesang und einem mindestens zweideutigen Text, auszugsweise (und etwas boshaft) übersetzt: „Wir haben eine Alraunenwurzel / Sie donnert in meinem Hirn / Yeah, ich füttere mein Baby damit / Sie donnert genauso / Futter der Liebe, setzt sie in Flammen / Ah, steck sie hinein …“ Und schließlich ein wenig bekannter Joe-South-Song aus der Feder von Billie Joe Royal mit dem Titel „Hush“, den der niederländische Sänger Kris Ife gerade neu aufgenommen hat, was der Band reichlich wurst ist: „Ich hatte einen Kumpel in einer Tanzband, der uns den Song beibrachte. Wir arrangierten unsere Version, ohne die Platte je richtig gehört zu haben“, sagt Nick Simper.

Der ehemals plattenfirmenunabhängige Produzent Derek Lawrence, der für Ritchies „Orchestra“-Single verantwortlich war und den Gitarristen für viele seiner eigenen Eintagsfliegenproduktionen engagiert hat, folgt einer Einladung zu den Proben und ist von den musikalischen Fortschritten seines einstigen Schützlings sehr angetan. Zurück in London, setzt Lawrence, der mittlerweile in den Abbey-Road-Studios für den Branchenriesen EMI tätig ist, sein dickes Adreßbuch ein und macht Tony Edwards und John Coletta mit Ben Nisbet bekannt, dem Chef des Musikverlags Feldman. Durch ihn erfahren sie von dem gerade erst neu gegründeten US-Label Tetragrammaton, einem Unternehmen der „Unterhaltungsfirma“ – heute würde man sagen: „Medienkonzern“, aber allzu viele unterschiedliche „Medien“ gibt es damals noch nicht – Campbell-Cosby-Silver, die dem Filmproduzenten Bruce Campbell, dem Fernsehkomiker Bill Cosby und Roy Silver gehört, dem Manager des exzentrischen Sängers Tiny Tim sowie später der Sparks und der Mädchenband Fanny. Tetragrammaton-Boß Artie Mogul, der „Entdecker“ von Bob Dylan, hat während eines kürzlichen Abstechers nach London Ben Nisbet gebeten, Derek Lawrence möge ihm doch zum Start des neuen Labels eine vielversprechende englische Band auftreiben und möglichst auch gleich produzieren. So laufen die Fäden zusammen: Der Vorschlag von Lawrence heißt – immer noch – Roundabout.

Freilich wollen Artie Mogul und seine drei Möchtegernmoguln, ehe sie den Geldhahn aufdrehen, erst einmal etwas zu hören kriegen. Also buchen Edwards und Coletta in Windeseile das Trident-Studio und setzen ihre Schützlinge damit unter gewaltigen Druck. Es gibt noch keine einzige fertige Eigenkomposition, und es ist auch nicht klar, ob Ian Paice, der ja offiziell noch bei The Maze spielt, überhaupt dabeisein kann – man befürchtet, das Maze-Management könnte ihn wegen Vertragsbruch verklagen. Im Studio wird zuerst an dem Songfragment „Love Help Me“ herumgewerkelt. Rod Evans schreibt schließlich einen Text dafür und findet auch eine passable Gesangsmelodie; leider aber vergißt der Toningenieur beim Überspielen den Regler hochzuziehen, und so bleibt das Demo instrumental. Der einzige fertige eigene Song ist in der Nacht vor den Aufnahmen entstanden: „Shadows“. Die Bearbeitungen von „Hush“ und „Help“ füllen den Rest des Bandes.

Mit dem fertigen Demo spricht Derek Lawrence bei EMI-Mann Roy Fea­ther­stone in London vor, der an „Help“ Gefallen findet. Lawrence erstattet Bericht bei HEC, und während Jon Lord noch selbst mit dem ehemaligen Artwoods-Produzenten Mike Vernon verhandelt, um Roundabout eventuell bei Decca unterzubringen, ist die Unterschrift von Edwards und Coletta auf dem EMI-Vertrag schon getrocknet. Lawrence schickt das Demo an Tetragrammaton, wo die Entscheidung ebenso schnell fällt.

Die Band heißt immer noch Roundabout. Aber der Name ist inzwischen nur noch eine Notlösung: Als die Proben Anfang April enden, weil der Besitzer mit der Renovierung von Deeves Hall beginnen möchte, erhalten Tony Edwards und John Coletta eine zusätzliche Rechnung über fünfundsiebzig Pfund wegen „Beschädigungen“ – sämtliche Wände des Hauses sind in Breitpinseltechnik mit möglichen Bandnamen beschmiert, deren Wirkung so getestet werden sollte, nachdem sie zuvor auf einer Liste gesammelt und für alle Fälle sämtlich beim Patentamt angemeldet wurden. Eine Zeitlang lautet der Favorit „Orpheus“, dann „Sugarlump“, zwischendurch ein paar Stunden lang „Concrete God“ („Betongott“). Ritchie Blackmores Vorschlag „Deep Purple“ findet keine Mehrheit – Bing Crosbys Golden-Twenties-Schlager, den Ritchies Oma so gern hört, ist erst 1963 von dem US-Schnulzenduo Nino Tempo & April Stevens aufgewärmt worden, mit dem die Band auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden möchte.

Hingegen erweist sich Jon Lords persönliche Geschichte mit Bing Crosby – die kurze Zeit, als sich The Artwoods St. Valentine’s Day Massacre genannt hatten – als hilfreich. Der Agent Walther Klebel, der Lords kostümierte Truppe ein knappes Jahr zuvor nach Skandinavien geholt hat, bucht elf Konzerte für die neue Band – eine Testtournee, für die auch der ungeliebte Name irgendwie ins Konzept paßt. Denn wenn die Sache in die Hose geht, ist’s egal; Roundabout wird es dann sowieso nicht mehr geben. In der Nacht vor der Abreise wird jedoch noch einmal diskutiert und eine Entscheidung getroffen. Der neue Name, gültig ab sofort (abgesehen von Tourneeplakaten und Ankündigungen, auf die man keinen Einfluß mehr nehmen kann), lautet Fire. Dumm allerdings, daß John Coletta am nächsten Morgen mitteilt, es gebe bereits eine Band dieses Namens, die momentan auch noch groß angesagt sei. Die Taufe wird noch einmal vertagt.

Die Tournee beginnt am 20. April 1968 in der Schulturnhalle der Park­skolen im dänischen Taastrup, Stadtteil Vestpoppen. Auch die weiteren Konzerte finden in der Umgebung von Kopenhagen statt. Mit der Fähre Winston Churchill setzen Evans, Lord, Blackmore, Simper und Paice von Harwich aus über den Kanal. Statt in Dänemark eine Anlage zu leihen, was wesentlich billiger käme, fährt die gesamte technische Ausrüstung auf dem Boot mit, ebenso die beiden Roadies Ian Hansford und David Jacobson – es soll schließlich unter „realen“ Bedingungen live geprobt werden. Das Management-Trio von HEC reist zu zwei Auftritten in Göteborg und Kopenhagen nach.

Auf der Fähre macht die Band ausgiebig Gebrauch von der sinnvollen Einrichtung einer Bar. Daß zufällig die Kollegen Zoot Money und Andy Summers ebenfalls dort rumhängen, führt zwangsläufig zur exzessiven Getränkeaufnahme. Während Zoot Money auf dem Barklavier herumhämmert, versucht ein bedauernswerter dänischer Journalist, ein paar druckfähige Informationen zu sammeln. Nick Simper und Ritchie Blackmore flunkern ihm den Notizblock voll: Ihre wesentlichen Vorbilder seien „Wally Thud“ und „Ted Babbage“ (beide Namen sind frei erfunden), ihr Songwriting sei von geheimen Mächten beeinflußt, das eine oder andere Bandmitglied mit den Beatles seit dem Kindergarten befreundet und so weiter. Als der über die Auskunftsfreudigkeit der vermeintlichen neuen Superstars hocherfreute Schreiber endlich auch noch verschämt zu fragen wagt, wie diese geheimnisvolle neue Band denn nun eigentlich heiße, plärrt Tony Edwards, Schlimmes ahnend, dazwischen, sie heiße Roundabout, oder besser: Magic Roundabout. Nie im Leben, sagen Blackmore und Simper wie aus einem Munde; vielmehr, fügt Blackmore mit einem geringfügig triumphierenden Grinsen hinzu, sei der Name Deep Purple.

Das Ergebnis seiner wieder einmal erfolgreichen Hinterrücks-Überrumpelungstaktik ist eine gewisse Verwirrung. Zwar heißen Deep Purple nun tatsächlich Deep Purple, spielen müssen sie aber weiterhin als Roundabout. Beharr­liche Hinweise der Musiker auf den neuen Namen werden erst wahrgenommen, als Jon Lord in einem Interview im dänischen Fernsehen den Fragensteller diesbezüglich mehrmals korrigiert, ehe die Band dann offiziell als Deep Purple angekündigt wird und auf dem Dach des Sendergebäudes zum Playback ihrer „Help“-Version vor die Kameras treten darf.

Die Tournee selbst – elf Auftritte an siebzehn Tagen – hat etwas holprig begonnen. Nach der Ankunft in Esbjerg stellt sich bei der Grenzkontrolle heraus, daß sich niemand um gültige Arbeitsvisa für die Musiker bemüht hat. Im Laderaum eines Hundetransporters werden sie zum Polizeipräsidium verfrachtet und harren zwei Stunden in einer Zelle aus, dann ist die Kalamität aus der Welt geschafft.

Zwar verfügen alle fünf über jahrelange Live-Erfahrung, um notfalls auch nackt und blind auf einer Bühne zu bestehen; größer noch ist jedoch der Perfektionismus, zumindest bei Ritchie Blackmore, der Lässigkeit nicht duldet und noch das kleinste Detail geschliffen und poliert wissen will. Bevor Deep Purple am 20. April in der Vestpoppen-Schule vor den Vorhang treten, um ihren ersten Auftritt vor fünfhundert Neugierigen mit der John-Mayall-Nummer „My Little Girl“ einzuleiten, studiert er mit Nick Simper im Hotel vor dem Spiegel Choreo­graphien ein. Vielleicht übertreibt er dabei ein bißchen, denn Simper erinnert sich, „daß wir manchmal einen rechten Mist zusammengespielt haben. Wir waren so sehr damit beschäftigt, die Leute mit unseren Bewegungen auf der Bühne von den Socken zu reißen, daß wir ganz vergessen haben, was wir spielen. Aber es muß auch was drangewesen sein an der Band, denn das Publikum reagierte auf uns mit einem regelrechten Aufstand, die waren völlig aus dem Häuschen.“ – „Das Showelement war sicher wichtig“, gibt Jon Lord zu. „Als wir anfingen, live zu spielen, war ich verblüfft von Ritchies Mätzchen. Er war großartig, wie ein Ballettänzer, ein richtiger Showman. Diese Mittsechzigersachen waren sein Ding, die Gitarre hinter dem Kopf, wie Joe Brown. Wir wollten gut aussehen, nicht wie eine kalifornische Hippie-Band. Gleich am Anfang kleideten wir uns mit Mister Edwards’ Geld bei Mr. Fish ein. Die Klamotten waren eine Dreiviertelstunde lang cool, dann fielen sie auseinander. Ich wollte wirken wie John Lennon ohne Brille. Eine Zeitlang sahen wir unglaublich cool aus – dachten wir. Viele Leute fanden, daß wir aussahen wie Volltrottel.“ Ein örtlicher Reporter drückt das etwas höflicher aus: „Ein bißchen wie Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich.“ – „Vor allem“, lenkt Lord von optischen Gesichtspunkten ab, „wollten wir laut spielen. Und hart.“ Und Nick Simper, der nach dem Auftritt in der Schultoilette vergessen wird und sich zu Fuß zum Hotel durchfragen und -schlagen muß, dessen Namen er überdies nicht mehr weiß, stellt fest: „Wir spielten so verdammt laut, daß es magisch war.“

Ein paar Wochen später wird übrigens eine andere Londoner Band in die Fußstapfen von Roundabout-Purple treten und ihre ersten Testauftritte ebenfalls in Skandinavien absolvieren: Jimmy Page und seine New Yardbirds, die sofort danach ihr erstes Album unter dem Namen Led Zeppelin aufnehmen.

Die Glückssträhne, die Deep Purple binnen kürzester Zeit eine gute Besetzung, eine nagelneue Anlage, einen Plattenvertrag und eine umjubelte Tournee eingebracht hat – nach wie vor ohne gültigen Ausweis ihrer Fähigkeiten als Komponisten und Songwriter –, reißt nach der Rückkehr nach England nicht ab. Tony Edwards und John Coletta, die (angeblich) noch nie davon gehört haben, daß es für Plattenverträge so etwas wie Vorschüsse gibt, erhalten ein Telegramm von Artie Mogul: „Zusage zweitausend Pfund Vorschuß, neun Prozent Tantiemen für Deep Purple USA Kanada und Japan stop Los geht’s! stop.“ Das trifft sich gut, denn die Geldbestände von HEC gehen schon vor der offiziellen Eintragung der Firma rapide zur Neige, und die Musiker, die nun außerdem ein festes Gehalt von fünfundzwanzig Pfund pro Mann und Woche bekommen, brauchen nach der Tournee eine neue Unterkunft (im Hotel Highley Manor, einem Baudenkmal aus dem zehnten Jahrhundert in Balcombe bei Hayward’s Heath, etwa vierzig Meilen südlich von London). Die nicht umsonst schwerreich gewordene Heimatfirma EMI bietet nur acht Prozent Tantiemen (vier Prozent für Auslandsverkäufe) und keinen Vorschuß. Beide Plattenfirmen haben nichts gegen Derek Lawrence als Produzenten einzuwenden, die Pye-Studios nahe ­Marble Arch sind bereits gebucht, die Arbeit am Debütalbum kann beginnen.

Die typische Spätsechziger/Frühsiebziger-Plattenaufnahme stellt man sich in etwa so vor: Müßige Musiker dösen monatelang in ländlich-idyllisch gelegenen Studiopalästen herum, spielen, wenn die Inspiration eintrifft, einen genialen Ton, experimentieren mit futuristischen Klangerzeugungsgeräten, feiern wilde ­Partys und würdigen den sechsstelligen Zähler, der die verbrauchte Zeit in Geldbeträgen mißt, keines Gedankens. Meisterwerke – so ist der Konsens seit der rotzigen Ansage der Beatles an ihre Plattenfirma, künftig ihrem eigenen Tempo gemäß zu arbeiten – brauchen Weile, und es entstehen ja Meisterwerke in diesem Jahr 1968: das weiße Doppelalbum ebendieser Beatles zum Beispiel, ­Beggars Banquet von den Rolling Stones, Music From Big Pink von The Band, Odgen’s Nut Gone Flake von Small Faces, Forever Changes von Love, das Debütalbum von Steppenwolf, das Cream-Doppelalbum Wheels Of Fire, das alle Grenzen (auch des menschlichen Verstands) sprengende Film/Musik-Kunstwerk Head von den Monkees – notfalls könnte man noch In-A-Gadda-Da-Vida (Iron Butterfly), Wow/Grape Jam (Moby Grape) und das kuriose Experiment von The United States of America erwähnen, um den Kreis zu runden.

Für Deep Purple sind die Bedingungen vollkommen andere. Ihr Studio ist ein ziemlich enges Kellerloch mit einer Vier-Spur-Tonbandmaschine, und fertig werden soll die ganze Sache an einem einzigen Wochenende: dem 11. und 12. Mai. Beim hektischen Warmspielen platzt dann auch noch der längst vergessene Chris Curtis herein, grapscht sich ein Exemplar des Demos und verkündet, er sei von Tony Edwards hergeschickt worden, um das Album zu produzieren. Ritchie Blackmore, der mit Leuten vom Schlage Curtis’ schon immer ungefähr soviel anfangen konnte wie mit Küchenschaben, sagt, wenn Curtis die „fucking“ Aufnahme produziere, werde er keinen „fucking“ Ton spielen. Stellt die Gitarre ab, schmeißt die Tür zu und ist weg. Curtis drückt sich noch eine Weile herum, beschließt dann, da die anderen ihn stur ignorieren, ein bißchen spazierenzu­gehen, ehe er seinen Platz im Produzentensessel einnimmt. Während er draußen ist, kehrt Blackmore zurück, schließt die Tür von innen ab, und von da ab ward Chris Curtis nun wirklich nie mehr gesehen. Das heißt: doch, aber an ganz anderer Stelle – 1969 bewirbt er sich um einen Job beim Finanzamt, kriegt ihn auch, bleibt neunzehn Jahre lang im Staatsdienst tätig, läßt sich dann aus gesundheitlichen Gründen frühpensionieren, kümmert sich fürderhin um das musikalische Jugendprogramm in der Liverpooler Kirchengemeinde Holy Rosary, gründet die Benefizband The Merseycats und tritt nebenbei als Hälfte eines Duos mit dem Namen Jimmy im Vorstadtpub Old Roan auf. Nach langer Krankheit stirbt er am 28. Februar 2005 in seinem Haus im Liverpooler Stadtteil Aintree.

Selbstverständlich bleibt Deep Purple während der hurtigen Studioarbeit keine Zeit, um Songs zu schreiben, das einstudierte Live-Programm muß fürs Album herhalten und hinreichen. Am Samstag kommen „And The Address“, „Hey Joe“, „Hush“ und „Help“ aufs Band, praktisch ohne zweiten Versuch. Daß dar­über hinaus offenbar auch keine Zeit geblieben ist, sich um Übernachtungsmöglichkeiten für die Musiker zu kümmern, schlägt sich auf der Platte nieder: Nachdem Rod Evans die kühle Londoner Regennacht im Bandbus verbracht hat, ist er am Sonntagmorgen so erkältet, daß seiner Kehle zunächst nur ein Krächzen entdringt. „I’m So Glad“, „Love Help Me“ und „Mandrake Root“ werden trotzdem einigermaßen fertig. Am frühen Montagmorgen bleibt vor dem Abmischen noch ein bißchen Zeit für „One More Rainy Day“, und irgendwann dazwischen entsteht eine Version von „Shadows“, die am Ende nicht aufs Album kommt. Zufällig liegt im Studio eine BBC-Geräuschplatte rum, mit der die Songzwischenräume auf Wunsch von Ritchie Blackmore atmosphärisch aufgepeppt werden. Die gesamten Studioarbeiten kosten nicht mehr als eintausendfünfhundert Pfund.

Deep Purple

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