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Demokratie und die nicht vorhandene Herrschaft des Gesetzes

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Vom 9. bis 11. Oktober 2011 fand in Prag das mit internationalen Menschenrechtlern, Politikern und Wissenschaftlern hochkarätig besetzte »Forum 2000« statt. Thema in diesem Jahr: »Demokratie und die Herrschaft des Rechts«. Die Eröffnungsrede hielt Václav Havel, der ehemalige Präsident der Tschechischen Republik. Auf einer der zahlreichen Podiumsdiskussion ging es unter anderem um »Korruption und Gesellschaft«. Lapidar stellte dort der Straßburger Wirtschaftsprofessor Laurent Weill fest: »Russland ist Europas korruptester Staat und einer der korruptesten weltweit.«

Aber, wandte der russische Wirtschaftsexperte und Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski auf dem Podium ein, so einfach dürften wir es uns nicht machen. Und damit spricht er die Komplizenschaft westlicher Regierungen, Banken und Konzerne an: »Warum wurde das System Putin überhaupt ermöglicht?«, fragte er. »Doch erst durch die massive Unterstützung der westlichen Welt, durch den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und durch die westlichen Regierungen. Wenn Sie Russland kritisieren, müssen Sie sehen, dass es ja ein Joint Venture mit den westlichen Banken gibt, die viel Geld mit der russischen Korruption verdienen. Oder mit den westlichen Unternehmen, die ebenfalls davon profitieren.«37

Grigori Jawlinski machte klar, dass »dieses hundertprozentige korrupte System in Russland« ein Teil des globalen Systems sei. »Die korrupten Eliten bei uns in Russland haben ihr Geld doch nicht in Banken von Nordkorea oder in der Vergangenheit bei Saddam Hussein gebunkert, sondern in den bekannten westlichen Metropolen.«38 Nach seinen Worten könnten 98 Prozent der russischen Nomenklatura sofort wegen Korruption angeklagt werden, wenn es so etwas wie die Herrschaft des Rechts in Russland geben würde. Und die, so übereinstimmend alle Podiumsteilnehmer, gebe es in Russland nicht. Russische Gesetze, das heißt immer noch, es wird nach Zarenart willkürlich Recht gesprochen. Wer den Zaren, in diesem Fall Wladimir Putin, nicht kritisiert, sondern ihn stützt, lebt unbehelligt. Er darf Steuern hinterziehen, betrügen, stehlen und morden.

Was nicht bedeutet, dass die kriminellen Taten vergessen würden. Sie sind fein säuberlich in den Tresoren des Inlandsgeheimdienstes FSB archiviert und dienen als ideales Erpressungsmaterial, sofern es dem Kreml nutzt. Doch wehe, der Zar im Kreml wird misstrauisch und sieht seine Position und die seines Hofstaates gefährdet. Dann werden die FSB-Archive geöffnet und das Gesetz auf einmal extensiv durchgesetzt. Von Rechtssicherheit kann keine Rede sein – es gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren, das Recht, wie es dem Kreml passt.

Auf dem Panel zum Thema »Organisierte Kriminalität, Korruption und Politik« sprach Professor Yakov Gilinsky aus Sankt Petersburg. Er ist einer der wenigen, die versuchen, Einblicke in die herrschenden kriminellen Strukturen zu gewinnen. Der Vorsitzende des Instituts für Soziologie und abweichendes Verhalten an der russischen Akademie für Wissenschaften sowie Dekan der juristischen Fakultät der Sankt Petersburger internationalen Universität für Wirtschaft und Recht führte Mitte der neunziger Jahre eine kriminologische Studie über die Schwarzmarktwirtschaft und die organisierte Kriminalität in Sankt Petersburg durch. Er lebt in einem Hochhauskomplex am Rande von Sankt Petersburg in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Sein Verdienst reicht gerade aus, um das Nötigste zu besorgen. Auslandsaufenthalte kann er nur dann finanzieren, wenn er eine Einladung bekommt.

Auf die Frage eines Teilnehmers auf dem Podium, wie Korruption in Russland heute aussehe, antwortete er: »Wir haben heute in Russland die totale Korruption. Bei Baumaßnamen liegt das Kick-back bei 35 Prozent, in der Wissenschaft ebenfalls. Besonders stark ist sie in der Polizei und Justiz ausgeprägt.« Und auf die Frage, was dagegen getan werden könne, was denn der Staat überhaupt tue, um Korruption zu bekämpfen, antwortete der Kriminologe wenig optimistisch: »Es tut mir leid, darauf kann ich keine Antwort geben.«39

Das sagte er im Jahr 2011. Wladimir Putin ist seit über zehn Jahren an der Macht.

Fünfzehn Jahre zuvor sah Yakov Gilinsky die Situation, zumindest auf Sankt Petersburg bezogen, fast ähnlich. Seine Aussage ist deshalb aufschlussreich, weil in jener Zeit, als er seine Studie über kriminelle Strukturen in Sankt Petersburg durchführte, Wladimir Putin bereits in entscheidender Position in der Sankt Petersburger Stadtverwaltung war, als stellvertretender Bürgermeister: »Von dem Moment an, wenn neue Handelsstrukturen beginnen, Profite zu erzielen, wecken sie das Interesse krimineller Organisationen. Von Geschäftsleuten wird versichert, dass einhundert Prozent der Handelsstrukturen von Schutzgeldzahlungen betroffen sind – sie kommen in allen Unternehmen mit Ausnahme der Militärindustrie und einigen ausländischen Firmen vor.«40

Seine für die Studie gewonnenen Interviewpartner beschrieben ihre Situation zusammengefasst folgendermaßen: »Man kommt ohne illegale Geschäfte nicht aus. Legale und illegale Methoden sind ineinander verzahnt.« Das bestätigten auch führende Polizeioffiziere gegenüber Yakov Gilinsky. »Die mittleren Geschäftsleute sind äußerst kriminalisiert … man muss für alles Bestechungsgelder zahlen … die Schulden müssen eingetrieben werden, indem man Gewalt anwendet … man kann keine Steuerprüfungen abwickeln, ohne Bestechungsgelder zu bezahlen … Mafiosi können unter den Vorstandsmitgliedern von Banken angetroffen werden.« Er listete auf, wie die Delikte aussehen, die von den Banditen in den Banken selbst verübt werden: »Bankbetrug, fiktive Transaktionen im Immobiliensektor, Autodiebstähle – und Wiederverkäufe, illegale Exporte von nicht eisenhaltigen Metallen, Schwarzmarkttransaktionen mit ›humanitärer Hilfe‹, Produktion und Schmuggel von schwarz produziertem Alkohol, Waffenhandel, Geldfälschung, Agenturen, die sexuelle Leistungen anbieten, Drogengeschäfte.«41 Fazit des Wissenschaftlers damals vor fünfzehn Jahren: »In Russland gibt es keine legale Wirtschaft mehr.« Und er fügte dann hinzu: »Wenn wir alle Verbrecher einsperren, bricht die Wirtschaft zusammen.«

Über fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Wladimir Putin in Sankt Petersburg und dann in Russland herrschte. Nichts Prinzipielles hat sich seitdem verändert, abgesehen davon, dass viele der einstigen Banditen zu ehrenwerten Unternehmern, Politikern und Oligarchen mutierten.

Roberto Scarpinato, Oberstaatsanwalt aus Palermo, sieht die Situation nicht viel anders. In einem Vortrag in Karlsruhe sagte er im Jahr 2011: »Was Russland angeht, so ist bekannt, dass mafiöse kriminelle Vereinigungen, die aus dem KGB und dem sowjetischen Staatsapparat hervorgegangen sind, sich in den höchsten Positionen wirtschaftlicher und politischer Macht etabliert haben. Inzwischen wird allgemein anerkannt, dass der russische Kapitalismus mafiös ist – und zwar zu etwa sechzig bis siebzig Prozent.«42 Er hatte sich in der Vergangenheit übrigens mit Gazprom-Tochtergesellschaften und der sizilianischen Cosa Nostra beschäftigt. Tatsache ist, so Jelena Paniflowa, die Direktorin von Transparency International in Russland, »es gibt keine Insel der Integrität im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben Russlands«.43

Hinzu kommt, dass Gazprom zugleich – laut Professor Jonathan Stern, Direktor am renommierten Institut für Energiestudien in Oxford – »für Wladimir Putin eine mächtige Melkkuh« sei.44 Gemolken werden in Wirklichkeit wir, die ahnungslosen Verbraucher in Europa, die in Zukunft immer höhere Energiepreise zahlen müssen. Und die russische Bevölkerung leidet. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 66 Jahren, niedriger als in Papua-Neuguinea, Honduras und sogar im Irak. In Europa liegt sie bei 79 Jahren. Diese Lebenserwartung wird wahrscheinlich nicht jene Personen betreffen, die seit Putins Machtantritt zu Milliardären wurden. Ihre Zahl wird auf 62 geschätzt. Viele davon stehen in direkter Beziehung zu Wladimir Putin.45

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar auch in Westeuropa immer weiter auseinandergegangen. Aber in der Russischen Föderation sieht es folgendermaßen aus: »In dreizehn Regionen ist die Situation katastrophal: Hier leben dreißig Prozent der Bevölkerung in Armut. Zu den ärmsten Regionen zählt der autonome Distrikt Ust-Orda Buryat (125 000 Einwohner, d. Autor) mit einer Armutsrate von 72 Prozent, die Republik Kalmückien (290 000 Einwohner, d. Autor) mit 59 Prozent und der Oblast Ivanovo (knapp 410 000 Einwohner, d. Autor) mit 41 Prozent. Hingegen gelten als reiche Bezirke Sankt Petersburg mit einem Armutsanteil von 10,2 Prozent und Moskau mit immerhin noch 13,2 Prozent. Vergleichsweise niedrig ist die Armut in der autonomen Region Yamalo-Nenets mit 8,6 Prozent.«46 In dieser Region werden neunzig Prozent des russischen Naturgases gefördert.

Wegen der hohen Armutsrate in der Russischen Föderation stellte Nikolai Petrovich Popov, Wissenschaftler am ältesten und heute führenden unabhängigen »Forschungszentrum für öffentliche Meinung« (RPORC) in Moskau,47 der die Studie über Armut in Russland im Jahr 2008 verfasst hat, die Frage: »Ist Armut keine Kriminalität?«48

Dabei sollte doch seit 1999 unter Wladimir Putin und seinem Nachfolger Dmitri Medwedew nach den chaotischen Zeiten unter Boris Jelzin alles besser werden. Mit diesen Erklärungen gehen bis heute viele Politiker und Expolitiker in Deutschland hausieren. Viel wurde den Menschen in der Russischen Föderation versprochen, insbesondere der Kampf gegen Korruption und das organisierte Verbrechen.

Doch irgendwie zerplatzten alle vollmundigen Versprechungen Wladimir Putins. Für helle Empörung im Kreml wie im Moskauer Oberbürgermeisteramt von Juri Luschkow sorgte deshalb ein geheimer Bericht des US-Botschafters John R. Beyerle vom 12. Februar 2010. »Luschkow beherrscht ein System, in dem jeder auf jeder Ebene in Korruption oder kriminelles Verhalten eingebunden ist. Er ist ein loyales Gründungmitglied der Partei Einiges Russland und ein sicherer Lieferant von Stimmen. Luschkows Verbindungen in die Moskauer Geschäftswelt zu den großen und legalen wie den marginalen und korrupten Kräften hat ihm die Möglichkeit gegeben, Unterstützung zu verlangen, wenn er sie benötigt.«49

Und weiter: »Die direkten Verbindungen der Moskauer Stadtregierung zu Kriminellen zeigen, dass die Regierung mehr wie eine Kleptokratie arbeitet als eine Regierung.«50 Partnerstadt von Moskau ist übrigens Düsseldorf.

Die Analyse der US-Botschaft ist verheerend, selbst wenn man dem US-Botschafter Parteilichkeit unterstellt und fast das Gleiche in einer Studie der US-Sicherheitsorganisation Stratfor vom 3. Februar 2010 nachzulesen war.51 Hier wird lediglich bestätigt, was aus einer ganz anderen Sichtweise bereits ausführlich analysiert wurde, etwa von dem in jeder Beziehung unabhängigen Professor für Kriminalistik, Yakov Gilinsky.

Im September 2010 wurde Juri Luschkow von seinem Posten als Oberbürgermeister aufgrund eines Dekrets von Staatspräsident Medwedew entfernt. Aber nicht etwa, weil der Kreml die mafiosen Machenschaften des korrupten Juri Luschkow und seiner Komplizen beenden wollte. Nein, die offizielle Begründung war »Vertrauensverlust«. Sofort nachdem er sein Amt verlassen musste, hatten Oligarchen und Staatsunternehmen, die dem Kreml sehr nahestehen, systematisch Luschkows Imperium übernommen. Die Bank von Moskau zum Beispiel ging an die staatliche VTB Bank, die auch in Frankfurt am Main eine Filiale unterhält. Sie wird von russischen Bankenkritikern auch als das »schwarze Loch für Cash-Einlagen des Kreml gesehen, die versucht, das Gazprom des russischen Banksystems zu werden«.52 Im Aufsichtsrat der VTB Bank sitzt seit 2007 unter anderem Matthias Warnig53, ein enger Freund von Wladimir Putin. Er wird später im Zusammenhang mit Nord Stream und Stasikontakten wieder auftauchen.

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