Читать книгу Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler - Страница 12
Sicherheitspolitik und Entfremdung
ОглавлениеDer einstige Generalstabschef Othmar Commenda benannte als ranghöchster Verteidiger Österreichs in seinen Vorträgen wiederholt den mangelnden Selbstversorgungsgrad als größtes Sicherheitsrisiko. Für Vorarlberg kenne ich Zahlen: Während wir bei Milch und Käse weit überversorgt sind, produzieren wir gerade einmal 7 % des Bedarfs an Gemüse, 6 % an Kartoffeln und 1 % des konsumierten Getreides. Auch wenn diese Verhältnisse in anderen Teilen Österreichs weniger krass sind, im Falle eines versiegenden Treibstoffnachschubs wären die Unterschiede, angesichts der allgemeinen Unkenntnis und des fehlenden Handgeräts gering.
Wieso wird dieser Sachverhalt in allen politischen Debatten und Maßnahmen ausgespart? Wieso wird angesichts des gesellschaftlich prioritären Bedürfnisses nach Sicherheit das von Kriminellen, Terroristen und Asylanten gefährdete Eigentum und Leben als einzige Sicherheitsbedrohung suggeriert – selbst in den von Kriminaltaten am wenigsten betroffenen Regionen der Welt? Wieso stellen wir keine Verbindung her zwischen einer labilen Weltlage und dem Landbau als Sicherung unserer elementarsten Lebensgrundlage? Bedürfen wir der Autorität eines Generals oder müsste nicht ein wenig politische Bildung, ein Restbestand historischen Wissens ausreichen, um die diesbezüglichen Zusammenhänge zu verstehen?
Eigentlich meine ich, ein Blick ins Land sollte genügen. Aber ohne Liebe scheint biologisches Wissen vergebens, und ohne Begeisterung bleibt ästhetische Erziehung folgenlos. Ich fürchte, das Wesentlichste lernen wir in der Schule nicht. (Wäre das Phänomen Franz Michael Felder anders erklärbar?) Zumeist bleiben die Inhalte formaler Bildung abstrakt, zu selten verknüpfen sie uns mit der konkreten Welt.
Wäre es möglich, dass unsere Fremdheit gegenüber dem Land und seiner existenzsichernden Dimension mit etwas Größerem zu tun hat? Mit mangelnder Realitätswahrnehmung, mit fehlender „Bodenhaftung“, mit Ausweichmanövern vor dem „mit der Hand zu Greifenden“? Könnte Elias Canetti diese Wirklichkeitsverdrängung gemeint haben, als er formulierte:
„Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt. […] Die Situation der Menschheit heute, wie wir alle wissen, ist so ernst, dass wir uns dem Allernächsten und Konkretesten zuwenden müssen.“3