Читать книгу Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler - Страница 13
Nicht bei sich und nicht bei der Sache
ОглавлениеVor etwa 25 Jahren besuchte uns ein befreundetes Ehepaar inklusive Schwester beziehungsweise Schwägerin – eine US-amerikanische Ernährungsberaterin. Deren Aufgabe bestand in der Unterstützung junger Mütter bei der Versorgung ihrer Babys. Ihre Schilderungen haben mich sensibilisiert für einen bestürzenden Sachverhalt: Sie erzählte von Klientinnen, die Neugeborene ausschließlich mit Zucker füttern, und von solchen, die ihren Babys steinharte, in Öl angeröstete Nudeln kredenzen, weil sie nicht wissen, dass Nudeln gekocht werden müssen.
Die Grundform dieser Realitätsferne und Weltfremdheit ist die Unverbundenheit mit sich und der Welt, mit Orten, Bedingungen und Situationen, und ein mangelndes Wahrnehmen der eigenen Empfindung.
Als Architekt sind mir Menschen begegnet, die erst nach Bezug ihrer neuen Wohnung feststellen mussten, dass im Norden keine Sonne scheint. Als vor Jahren Übereckbadewannen hoch im Kurs waren, erzählte mir ein Wohnungsverkäufer, eine dieser Wannen im Verkaufsplan erspare ihm nervende Fragen und Diskussionen – wohl zu jenen Themen, die an Kernfragen des Wohnens gingen.
Dieses Nicht-bei-sich- und Nicht-bei-der-Sache-Sein, die Fremdheit gegenüber konkreten Situationen und Verhältnissen ist kein schichtspezifisches Phänomen, auch kein Ausdruck fehlender formaler Bildung. Nicht selten habe ich im akademischen Umfeld der geerdeten Intelligenz mancher Handwerker gedacht. Eine Studentin erzählte mir von ihrem Professor, einem hoch dekorierten Juristen und Inhaber eines renommierten Lehrstuhls. Dieser trug immer ein Thermometer mit sich, und dieses Messgerät befand über das Maß seiner Bekleidung, selbst im Hörsaal befahl es: Sakko aus!, oder: Sakko an!
Warum, wäre zu fragen, erscheint inmitten eines explizit philosophischen Traktats folgende Feststellung: „Bewegt man sich, so friert man nicht; verhält man sich ruhig, macht einem die Hitze nicht zu schaffen.“ Seit 2.600 Jahren ist das zu lesen und wurde gemäß der Legende von Lao Tse formuliert.4
Dass unser Temperaturempfinden auch von der Luftbewegung oder der Oberflächentemperatur der Umgebungswände, von Zugluft und Strahlungsenergie abhängt, muss man nicht wissen, würde man jedoch, hätte der Physikunterricht eine Verbindung zu unserem alltäglichen Leben hergestellt. Jedoch: Dass unser Maß an Schlaf oder Bewegung über unseren Wärmehaushalt mitentscheidet, sollte die Erfahrung lehren. Aber was zählt schon eigene Erfahrung, wenn der Blick auf ein Messinstrument oder die Mode körperliche Empfindung ersetzen und man wärmegestresst die Fenster aufreißt, selbst wenn es draußen um sechs Grad heißer ist. Irritiert müssen wir feststellen, dass Selbstwahrnehmung zu den aussterbenden Gütern zählt und Fachkompetenz nicht zu Selbst- und Weltverhältnis führt.
Es fehlt uns an Intelligenz der Verbundenheit mit dem Konkreten und Nächstliegenden. Es mangelt uns am Verstehen, aus dem Verständnis wächst. Wir leiden an unterentwickelter emotionaler Kompetenz und Empathie – auch der sogenannten Eliten.
Sinneseindrücke hinterlassen keine Eindrücke, Emotionen wabern unbeachtet durch unseren Empfindungsraum, auf kulturelle und religiöse Traditionen gestützt fristet unser Körper ein Dasein unter der Wahrnehmungsgrenze. Vor die konkrete Welt wurde die vorgestellte Welt gestellt. Vor zwanzig Jahren postulierte McDonald’s großflächig und quer durch den süddeutschen Raum: „Butterbrot ist tot.“ Und in eindrücklicher Hellsichtigkeit ließ Luigi Pirandello bereits vor über achtzig Jahren in seinem Stück Die Riesen vom Berge den Zauberer Cotrone sagen: „Zwar fehlt es uns am Nötigsten, aber von allem Überflüssigen haben wir mehr als reichlich.“5
Die Mode hat Entfremdung zur Marke gemacht und die Werbung hat sie zur Stilform erhoben. Und beide lassen uns unablässig wissen, dass wir nicht genügen. Als primäre Triebkraft des Wachstums höchstinstanzlich legitimiert, hebeln die psychologische Gerissenheit der Werbung und ihre dreiste Verheißung jedes Bildungsbemühen schamlos aus.
Erklärt sich daraus die erstaunliche Karriere der Wörter „Hier“ und „Jetzt“? Was sich aus östlicher Tradition ableitet, können wir durchaus mit uns kulturell vertrauteren Begriffen benennen: „Innehalten“ etwa. Geht es dabei doch gerade darum, den Kontakt mit dem Augenblick und dem Ort, die Bewusstheit für Zeit und Raum zurückzugewinnen.
Mein Freund C. T. liebt es, eine Begegnung mit der Frage zu eröffnen: „Was ist gerade in dir lebendig?“ Er erzählt mir, dass diese Nachfrage den Menschen als Zumutung erscheint, dass sie darauf verstört oder verärgert regieren. Ist es ungehörig, ernsthaftes Interesse am Befinden des Gegenübers zu bekunden? Ist deshalb ein interessiertes „Wie geht es dir?“ im schnellen „Wie geht’s?“ zu einer Phrase verkommen, von der sich niemand mehr wirklich angesprochen fühlt? Wir scheinen es vorzuziehen, von unserem Befinden gesteuert zu werden statt bewusst zu ihm vorzudringen.
Den Prototypus verflachten Innenlebens und eines sich selbst fremd gewordenen Menschen hat Stefan Zweig in der Figur des Baron Friedrich Michael von R… geschaffen, der bei sich bemerkt:
„[…] ich sagte es ja schon, dass ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, dass dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war […], und sosehr ich mich auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre zurück.“6
Oft erstaunt mich, mit welcher Ausdauer sich mancher Intellektuelle an ohnehin jederzeit ersetzbaren Mächtigen, Verführern und Manipulatoren in Politik und Wirtschaft abarbeitet, an deren moralischer Halt- und Orientierungslosigkeit, ohne das grundlegendere Dilemma zu benennen.
Von mangelnder Anteilnahme sind auch die Struktur und das Bild unserer Städte und Dörfer geschunden. Wie wäre anders erklärbar, dass kein Schrei von uns ausgeht angesichts einer Hässlichkeit, zu der sich in unserer Geschichte kein Vergleich finden lässt? Monoton, fantasie- und endlos gleich ist die effizienzgetrimmte Stadtgestalt jedem Einklang mit Menschen überdrüssig. Sie lässt keinen Ort, kein Dorf und erst recht keine Stadt entstehen und gibt keiner Begegnung oder Gemeinschaft Struktur und Zuhause.
Zeitgleich hat sich der Landbau im Sog des Marktes von seiner Tradition verabschiedet, tatkräftig unterstützt auch von Bauern, ihren Beratern und Vertretern. Ohne Respekt und Sinn für die Kultur der Land- und Bodenpflege, befreit vom Blick auf die Folgen des eigenen Tuns, ohne Perspektive und Vision und ohne Mitgefühl gegenüber dem unermesslichen Leid in den Tierfabriken, hat der älteste und elementarste Wirtschaftszweig seine Bestimmung pervertiert.
Und doch, auch wenn mich über Jahre die Frage sorgte, wie meine Studierenden, ohne dem historischen Modell ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweise persönlich je begegnet zu sein, neu eine nachhaltige Architektur und Lebensweise entwickeln können: Heute gärtnern viele von ihnen – selbst in beengten und urbanen Räumen –, sie bauen selbst an ihrem Zuhause und verweigern sich dem verordneten Leistungszwang. Das sinnliche, körperlich konkrete Tun und Erfahren erlebt Zuspruch. Landwirte und Handwerker erzählen mir von Studierenden und Akademikern, die sich um Praxisplätze bewerben. Selbst Hofübernahmen bleiben nicht mehr am Letzten hängen, zunehmend interessieren sich die am besten Ausgebildeten dafür. Und ebenso nimmt die Zahl der Bäuerinnen und Bauern zu, deren Eigenversorgung zum Auftakt ihrer wachsenden Produktpalette wird.