Читать книгу Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler - Страница 23
Nachwort
ОглавлениеEs gibt keine Autobiographie von Yvan Goll. Sein Werk ist seine Autobiographie. Seine früheste autobiographische Äußerung stammt aus der 1919 von Kurt Pinthus edierten Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung: „Iwan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet. Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem Irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten.“
Den Namen Iwan Goll hatte sich der 1891 als Isaac Lang in Saint-Dié-des-Vosges Geborene schon 1915 zugelegt. Bereits im Oktober 1911 zeichnete er einen Brief an Max Brod mit Iwan Lazang. Drei Vornamen-Pseudonyme, 15 Nachnamen-Pseudonyme: Das lebenslange Unbehaustsein des Isaac Lang lässt sich deutlicher nicht zeigen. Während er sich mit Pseudonymen maskierte, erhob er in seiner Dichtung jedoch den Anspruch auf Klarheit: „Ein Dichter soll ein Kind seiner Zeit sein.“ Doch schon wenige Monate später schrieb Goll selbstbewusst an Kurt Wolff, den jungen Verleger des ebenso jungen Kurt Wolff Verlags: „Sehr geehrter Herr! Bezüglich meiner Sendungen vom 27. Okt. u. 21. Nov. frage ich Sie ergebenst, was Sie beschlossen haben: ob die Ihnen übersandten Gedichte die Hoffnung haben, mit dem Wasserzeichen versehen Ihre handgreiflichen Objekte werden zu können. Ich würde sicher nicht so drängen, wenn ich nicht verpflichtet wäre, auf anderweitige Anfragen (Bachmair) eine bestimmte Antwort zu geben. Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst Iwan Lang, cand. jur. (PS: Iwan Lassang).“
Die Literaturgeschichte zählt Yvan Goll zu den Expressionisten, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg bekannt wurden und die die literarische und kulturelle Entwicklung der nachfolgenden Jahrzehnte stark beeinflussten. Als er 1919 aus der Schweiz nach Paris übersiedelte, fand Goll schnell Anschluss an die französische Avantgarde: Paul Eluard, André Malraux, Louis Aragon, André Breton und Wladimir Majakowski suchten in Paris seine Freundschaft. Seine Zweisprachigkeit war dabei Erleichterung und Hindernis zugleich, wie seine Werke der 1920er Jahre zeigen.
Am 29. März 1891 in Saint-Dié-des-Vosges als Sohn eines Elsässers und einer Lothringerin geboren, hatte Goll schon früh die Probleme dieses Grenzlandes erfahren. Obwohl Franzose, erhielt er 1909 auf Antrag seiner Mutter die deutsche Staatsbürgerschaft. Er wuchs zweisprachig auf, studierte in Straßburg und Paris. Als ihm nach Kriegsausbruch 1914 die Einberufung in das reichsdeutsche Heer und damit der Kampf gegen seine eigenen Landsleute drohten, flüchtete er in die Schweiz. Sein Leben hielt sich zwischen den Welten oder „zwischen zwei Stühlen“, wie es ein Kritiker 1929 ausdrückte. Heimatlosigkeit im Leben – Heimat im Gedicht, vor allem im frühen Gedicht – vertraute Kindheit im Elsass – Welthunger von bezwingender Vitalität. Der Dichter als immer wieder neues, gewandeltes Ego: Schon mit der zwischen 1912 und 1924 entstandenen Dichtung Der Panamakanal hatte Goll Anschluss an die Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden. Es war „eine Lyrik von realistischer Bildhaftigkeit und hymnischer Lebensbejahung“. 1914 erschien sein Requiem. Für die Gefallenen von Europa, die gewaltige Anklage an die kriegführende Menschheit.
Claire Studer, geboren am 29. Oktober 1890 in Nürnberg, hatte im Jahr 1911 den Schweizer Verleger Dr. Heinrich Studer geheiratet und lebte zunächst mit ihrer 1912 geborenen Tochter Doralies Studer in Leipzig. 1917 wurde sie von Heinrich Studer geschieden und übersiedelte in die Schweiz, um dort Medizin zu studieren. In Genf lernte sie im Frühjahr Yvan Goll kennen. In Zürich lebten beide im Kreis zahlreicher ebenfalls exilierter Schriftsteller und anderer Künstler, in der Hauptsache Dadaisten. Wegen der politischen Turbulenzen verließen sie die Schweiz wieder. Als sie am 1. November 1919 in Paris eintrafen, hatte Goll sich ganz bewusst für Frankreich entschieden.
Immer schon stand in Golls Dichtung der Mensch im Mittelpunkt: Seine Zeit wird zur Ewigkeit, sein Wort definiert die Welt, Bilder zeichnend von antiker Symbolik und mystischer Klarheit. Drei Themen kristallisieren sich heraus: Liebe, Tod und Unvergänglichkeit. Sie erscheinen in den Gedichten an Claire Studer-Goll, seine ebenfalls dichtende Ehefrau, verwirklicht in den Hymnen an Liane, später den Zehntausend Morgenröten, den Visionen des Todes aus dem Straßburger Münster und dem Pariser Spital, zuletzt in Traumkraut und in Neila. Nach den Turbulenzen des Ersten Weltkriegs folgte für Yvan Goll und für seine Frau Claire (1890 – 1977) ein Jahrzehnt intensiver literarischer Produktivität. Er schrieb mehr und mehr Gedichte in französischer Sprache, die jedoch erst ab 1925 mit den zusammen mit Claire Goll verfassten Poèmes d’amour gedruckt wurden. Mit dem Gedichtband in französischer Sprache, Le Coeur de l’ennemi. Poèmes actuels traduits de l’allemand. Illustrés de 16 bois gravés par Louis Moreau (Paris: Edition de la Revue Littéraire des Primaires LES HUMBLES 1919) und dem zusammen mit Claire Studer-Goll in deutscher Sprache veröffentlichten Band Das Herz Frankreichs. Eine Anthologie französischer Freiheitslyrik (München: Georg Müller Verlag 1920) bewies Goll die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um die Freundschaft zwischen den beiden immer noch verfeindeten Ländern. Zu den Beiträgern dieser Lyriksammlungen gehörten Johannes R. Becher, Alfred Wolfenstein, Georg Trakl, Franz Werfel und Stefan Zweig auf deutscher Seite und Georges Duhamel, Henri Guilbeaux, Marcel Martinet, Jules Romains und Charles Vildrac auf französischer Seite. An seinen Berliner Schriftstellerfreund Walter Rheiner hatte Goll bereits am 31. Oktober 1919 aus dem Zug Zürich – Paris geschrieben: „Ich teile Ihre unermessliche Sehnsucht nach Paris – und doch ein Schrecken fasst mich, denke ich an alles, was man mir darüber berichtet hat. Zudem bin ich von heute an Franzose – o nur so, meine Seele ist so deutsch, dass kein Paris sie wird ändern können.“
Seine Vermittlertätigkeit zwischen Deutschland und Frankreich dokumentierte Goll auf einer Ende der 1920er Jahre gedruckten Visitenkarte: „IVAN GOLL. CORRESPONDANT LITTÉRAIRE ET THÉATRAL DU BERLINER BOERSEN-COURIER (BERLIN) – NEUES WIENER JOURNAL (VIENNE) – HAMBURGER ANZEIGER (HAMBURG) – PRAGER TAGBLATT (PRAGUE) – FRANKFURTER GENERALANZEIGER (FRANCFORT) – MUNCHNER NEUESTE NACHRICHTEN (LEIPZIG [sic!]). PARIS XVI – 19, rue RAFFET“. An Ephraim Frisch schrieb er am 20. Juli 1923 aus Paris: „Auf Ihre freundliche Einladung will ich Ihnen gern eine dauernde, regelmäßige Mitarbeit versprechen, und zwar etwa so: alle drei Monate eine allgemeine, kulturelle und künstlerische Übersicht über das Leben in Paris. Ich kann Ihnen z. B. für Ihr nächstes Septemberheft einen ‚Pariser Sommer‘ senden – im Dezember einen ‚Pariser Herbst‘, im März einen ‚Pariser Winter‘, dann den wunderlichen Pariser Frühling: und Sie wissen, keineswegs feuilletonistisch, sondern tiefschürfende Essays, wo irgend möglich.“
Aus dem „deutschen Franzosen“ wurde in Paris ein „französischer Europäer“. Sozialkritische Romane in deutscher und in französischer Sprache wie Germaine Berton, Le Microbe de l’Or, Die Eurokokke und Der Mitropäer entstanden in dieser Zeit neben drei Bänden Liebesgedichte: Claire et Ivan Goll, Poèmes d’amour. Avec 4 dessins de Marc Chagall. (Paris: Jean Budry et Cie 1925), Claire et Ivan Goll, Poèmes de jalousie. Avec une eau-forte originale de Foujita. (Paris: Jean Budry et Cie 1926), Claire et Ivan Goll, Poèmes de la vie et de la mort. Avec deux radiographies des crânes des poètes. (Paris: Jean Budry et Cie 1927). Eine weitere, bereits gemeinsam mit seiner Ehefrau begonnene Sammlung von Liebesgedichten blieb zunächst ungedruckt wegen seiner seit 1931 bestehenden engen Beziehung zu der österreichischen Lyrikerin Paula Ludwig. Zeugnisse dieser Liebe wurden Golls Chansons malaises (Malaiische Lieder) und Paula Ludwigs Gedichte: Dem dunklen Gott. (Dresden: Wolfgang Jess Verlag 1932). Kurz vor der Emigration der Golls nach USA im Jahr 1939 konnte Golls Zyklus La Chanson de Jean sans Terre. Poème en 9 chants. (Editions Poésie et Cie, Quai d’Anjou, Paris IV, 1936), Deuxième Livre de Jean sans Terre (Paris: Editions Poésie et Cie, 1938) und Troisième Livre de Jean sans Terre (Paris: Editions Poésie et Cie 1939) noch in Paris in seinem Selbstverlag, den Editions Poésie et Cie, veröffentlicht werden. Ein halbes Jahrhundert nach dieser lyrischen Schaffensperiode von Goll dokumentiert eine vierbändige Sammlung Golls gesamte Lyrik: Yvan Goll, Die Lyrik in vier Bänden. Band I: Frühe Gedichte. 1906 – 1930. Band II: Liebesgedichte. 1917 – 1950. Band III: Jean sans Terre/Johann Ohneland. Band IV: Späte Gedichte. 1930 – 1950. Alle Bände herausgegeben und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse im Auftrag der Fondation Yvan et Claire Goll, Saint-Dié-des-Vosges. Berlin: Argon 1996. Die Dramatik der Beziehungen Yvan Golls zu seiner Ehefrau und gleichzeitig zu Paula Ludwig dokumentiert der postum erschienene Briefwechsel zwischen den drei Partnern: Claire Goll, Yvan Goll, Paula Ludwig, „Nur einmal noch werd ich dir untreu sein.“ Briefwechsel und Aufzeichnungen 1917 – 1966. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse. Göttingen: Wallstein 2013.
Paula Ludwig wurde im Januar 1900 in Altenstadt (Vorarlberg) geboren. In der 1929 erschienenen Anthologie jüngster Lyrik erklärte sie: „Geboren bin ich im Jahre 1900 in Vorarlberg, mitten im Wald.“ Sie lebte zunächst mit ihrer Mutter in Linz und zog nach deren Tod, 1914, nach Breslau zu ihrem Vater. 1917 lernte sie den Druckereibesitzer und Schriftsteller Walter Rose kennen. Im gleichen Jahr wurde der gemeinsame Sohn Friedel geboren. Nach einer Zeit in München übersiedelte sie mit ihrem Sohn nach Berlin. Als Malerin und mit kunstgewerblichen Tätigkeiten hielt sie sich über Wasser. Erste Gedichte entstanden. Auf einer Abendgesellschaft im Berliner Haus des Schriftstellers Fritz Schwiefert lernten sich Yvan Goll und Paula Ludwig 1931 kennen. Eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit großen Komplikationen war die Folge, denn Goll war bereits verheiratet und lebte in Paris. Nur ein einziges Mal besuchte Paula Ludwig ihn dort. 1934, kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, siedelte sie nach Ehrwald in Tirol über, flüchtete jedoch im März 1938 über Zürich nach Paris. Die folgenden beiden Jahre waren überschattet „von Krankheit, von der Sorge um den Sohn, vom Scheitern gemeinsamer Emigrationspläne mit Iwan Goll“. (Heide Hellwig, „Ob niemand mich ruft“. Das Leben der Paula Ludwig. Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 2002, S. 186).
Der Krieg zwang Goll und seine Frau im August 1939 zur Flucht in die USA. Am 12. Oktober 1939 berichtete er seinem Freund, dem Schriftsteller Wolfgang Cordan, nach Amsterdam: „Die Grenzen, die Herzen, die Meere haben sich geschlossen. Die Schalmeientöne fegte der Trompetenwind weg … Der polnische Herbst hatte seine blutenden Wälder. Aber im Westen die Buchen sind noch die einzigen, die auf den Schlachtfeldern bluten … Ich bin in Amerika und befrage in Long Island den Schatten Walt Whitmans. Seine weise Stimme streichelt Europas nackte Schulter …“. Goll hatte die sich anbahnende Katastrophe für Europa erkannt und suchte nach Fluchtmöglichkeiten aus Frankreich. Am 13. September 1938 informierte er Claire Goll während einer Reise aus Brüssel: „Hitler hat gesprochen! Die Bombe saust – und fällt nicht ein! Unerträgliches Gefühl. Die Menschen wandern weiter lustig ins Geschäft. In Brüssel ist es, als ginge nichts vor. […] Indes habe ich einen Plan jetzt: wenn es schlimm wird, geht von Anvers aus alle Freitage ein Schiff nach Goutenbourg (Göteborg: Centerwall) und Oslo: das schon am Sonntag dort ankommt, direkte Fahrt noch ohne Hafenanlage, verhältnismäßig nicht teuer, und vorläufig ohne Visa. Von dort aus gibt es direkte Schiffe nach New York. – Da also ist ein Weg, für’s Schnellste.“ Am 26. August 1939 fuhren Yvan und Claire Goll von Paris aus nach Boulogne/s. Mer und bestiegen am gleichen Tag die t. S. S. VEENDAM. Am 1. September 1939 begann Hitlers Angriff auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg. Am 3. September 1939 erklärten Frankreich und England Deutschland den Krieg. Auf hoher See hatten Yvan und Claire Goll vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erfahren. Am 6. September 1939 landeten sie auf amerikanischem Boden, in New York, und wurden zunächst als Staatenlose bis zum 18. September in dem Einwandererzentrum Ellis Island interniert. Nach einer Anhörung durch amerikanische Einwanderungsbeamte durften sie nach Hinterlegung einer Kaution von je 500 Dollar in die Stadt New York einreisen. Ihr Aufenthalt im amerikanischen Exil – vorwiegend in New York – dauerte von 1939 bis 1947. Vermutlich erst im Dezember 1940 floh Paula Ludwig nach einem Spanienaufenthalt von Lissabon aus nach Brasilien. Yvan Goll und Paula Ludwig sahen sich nicht wieder. Als sie 1953 nach Deutschland zurückkehrte, erfuhr sie von Golls Tod 1950 in Paris.
Während des Exils schrieb Yvan Goll eine große Anzahl von Widerstandsgedichten, die in amerikanischen Zeitschriften sowie in französischen und deutschen Exilzeitungen veröffentlicht wurden. Er wurde zwangsverpflichtet und arbeitete drei Jahre lang im Archiv des Office of War Information, New York, Seite an Seite mit André Breton. Dort bereitete er Rundfunksendungen vor, die täglich – und vor allem nächtlich – in das besetzte Frankreich ausgestrahlt wurden.
Ein besonderes Zeugnis von Golls Zugehörigkeit zu Frankreich stellt das in dieser Sammlung 80 Jahre später abgedruckte Widerstandsgedicht Croix de Lorraine dar („Poème. Caligraphié par Thomas Naegele. Edité par Lucien Vogel. Publié par FRANCE FOREVER. New York. 24. Dezember 1940“). Der kalligraphisch eindrucksvoll gestaltete Text wurde als Weihnachtskarte für 1943 mit dem Wunsch von Claire und Yvan Goll versandt: „Bon Noël. Victoire et Libération pour la Nouvelle Année 1944.“
Zum wichtigsten Sprachrohr der New Yorker französischsprachigen Emigranten wurde Golls Zeitschrift Hémisphères, betitelt: „Revue Franco-Américaine de Poésie. French-American Quarterly of Poetry“. Am 5. August 1940 erklärte er gegenüber Thomas Mann seine Absichten, die neue Zeitschrift betreffend: „Ich muss Ihnen über die geplante Zeitschrift Neues berichten … Meine Grundidee ist, eine Zeitschrift ins Leben zu rufen, die den aus Frankreich ausgestoßenen Schriftstellern und Dichtern die Gelegenheit geben wird, ihre Werke gedruckt und verbreitet zu sehen, denn: das Schaffen allein ist heute ein freiheitlicher Akt. ‚Esprit en liberté‘ ist gemeint. War das nicht auch die Grundidee von ‚Maß und Wert‘? ‚Esprit en liberté‘ gruppiert alle guten Geister Europas … und auch Amerikas, en théorie. Hoffentlich auch in der Verwirklichung.“ Hémisphères erschien zunächst in Golls Selbstverlag, den Editions Hémisphères, New York, danach im Verlag Editions da la Maison Française, ebenfalls in New York. Das Hauptwerk in Golls New Yorker Exilzeit, Jean sans Terre. Landless John, entstand in den frühen 1940er Jahren und wurde 1944 in San Francisco in einer Luxusausgabe gedruckt (The Grabhorn Press). Sein neues literarisches Alter Ego findet Goll in der Figur des Jean sans Terre, des Johann Ohneland, des Heimatlosen: Er wird zum Ahasver der neuen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die erfolgreiche Aneignung der englischen Sprache gehörte zu den Glücksmomenten in Golls Exilleben. Zeugnis davon gibt die 1946 noch in New York entstandene Sammlung Fruit from Saturn (New York, Hemispheres Editions), die nur original englisch verfasste Gedichte enthält, geschrieben unter dem Eindruck des Abwurfs der ersten Atombombe am 6. August 1945.
Mitte Juni 1945 entdeckten New Yorker Ärzte Yvan Golls tödliche Krankheit. Seinem Dichterfreund Johannes Urzidil teilte er mit: „Ich bin nicht gesund: mein Arzt hat einen starken Überschuß weißer Blutkörperchen festgestellt und will mich ins Spital schicken, weil ich mich sehr schwach fühle.“ Yvan und Claire Goll entschlossen sich zur Rückkehr nach Frankreich. Am 22. Mai 1947 verließen sie New York an Bord der MAURETANIA und erreichten Frankreich am 4. Juni 1947. Ab September 1947 lebten sie im Hôtel Palais d’Orsay in Paris. An die Schriftstellerin Ré Soupault in Paris hatte Goll schon im März 1947 aus New York geschrieben: „Les médécins chuchotent entre eux que je vivrai plus longtemps. Ils ne savent rien, les pauvres. Ils ne savent pas que je suis déjà enterré, à Paris. As-tu lu mon nom, dans un seul journal, ou dans une lettre? Finalement, nous arriverons peut-être à Paris. Nous n’aurons pas d’appartement, pas de chambre, mais cela n’est rien. Il n’y aura personne à la Gare St. Lazare. Il n’y aura personne au cimétière Montparnasse.“ („Die Ärzte flüstern sich zu, dass ich nicht mehr lange leben werde. Sie wissen nichts, die Ärmsten. Sie wissen nicht, dass man mich schon in Paris begraben hat. Hast du meinen Namen dort irgendwo gelesen, in einem einzigen Journal, einem einzigen Brief? Schließlich werden wir vielleicht eines Tages wieder in Paris ankommen. Doch wir werden keine Wohnung besitzen, kein Zimmer. Aber all das bedeutet noch nichts. Niemand wird am Bahnhof Saint Lazare sein. Niemand am Friedhof Montparnasse.“ (Deutsch von Barbara Glauert-Hesse)
In Yvan Golls letzter Schaffensperiode entstanden The Elegy d’Ihpétonga (postum 1954 veröffentlicht: New York, The Noon Day Press), Four Poems of the Occult (Multiple Woman, Magic Circles, The Myth of the Pierced Rock, Ihpétonga Elegy) (San Francisco: The Allen Press 1962) Le Char triomphal de L’Antimoine (Paris: Editions Hémisphères 1949). Mit der ersten Veröffentlichung seiner Traumkraut-Gedichte unter dem Pseudonym Tristan Thor kehrte Goll spontan und endgültig zur deutschen Sprache zurück: In der „Monatsschrift für Literatur und Kunst“, Das Goldene Tor, herausgegeben von Alfred Döblin (Lahr, Schwarzwald: Verlag von Moritz Schauenburg 1948) veröffentlichte er sein letztes Credo, seine berühmtesten Gedichte wie Die Angsttänzerin, Der Regenpalast, Das Wüstenhaupt, Der Salzsee, Der Staubbaum und Die Aschenhütte:
Wir hatten kein Haus wie die andern an sicherem Berghang
Wir mussten immer weiterwandern
Im Schnee der weder Salz noch Zucker war
An runden Kegeln des Mondes entlang
Du riefst nach deinen Schutzvögeln
Die hoch im Äther zu den Gräbern Afrikas flogen
Die Straße des Vergessens machte große Schleifen
Und keine blasse Blume sann am Weg
Gen Mitternacht fand sich eine Aschenhütte
Man hörte das lachende Bellen der Wölfe
Mit Fackeln hielt ich sie fern
Und fing im Nesselbach einen Ölfisch
Der uns lange erwärmte
Breit war das Bett aus geschnitztem Schnee
Und da geschah das Wunder:
Dein goldener Leib erstrahlte als nächtliche Sonne
Nach mehreren Krankenhausaufenthalten in Straßburg und Paris starb Yvan Goll am 27. Februar 1950 im amerikanischen Hospital in Neuilly bei Paris und wurde am 3. März 1950 auf dem Cimétière Père Lachaise in Paris provisorisch beigesetzt. Am 20. Dezember 1955 fand er ebendort seine letzte Ruhestätte gegenüber dem Grab des Komponisten Frédéric Chopin. Das Grabrelief mit der Zeichnung Marc Chagalls aus dem Jahr 1925 schuf Jean Longuet, ein Urenkel von Karl Marx. Die Totenrede hielt der französische Dichter Jules Romains. Der Spruch auf der Grabplatte stammte aus Golls Gedicht Identité de Jean sans Terre:
Je n’aurai pas duré plus que l’écume
Aux lèvres de la vague sur le sable
Né sous aucune étoile un soir sans lune
Mon nom ne fut qu’un sanglot périssable
*
Bald geh ich wie ein flüchtiger Schaum verloren
Den auf den Strand die Wogenlippe schob
Mondlos und unter keinem Stern geboren
Mein Name war ein Seufzer der zerstob
Deutsch von Lothar Klünner
Yvan Goll: Tagebucheintrag am 15. Dezember 1939
„Einmal öffnet sich in jedem menschlichen Leben ein goldenes Tor. Es dreht sich langsam wie eine Drehtür, in ein niegesehenes Licht gebadet, dich mit tausend Strahlen blendend. Du ahnst es nicht, daß dies der Einlaß ist zur Erfüllung deines Lebens. Du gehst, die Hände ausgestreckt, denn eine seltsam warme Stimme ruft von innen. Es hängt von deinem Genius ab, von deinen Gaben, instinktiven Erfahrungen, ob du hindurchgelangst. Gelingt es, so wird alles einfach und leicht, du wirst ein Hochgeborener, du hast das Wunder erlebt ein Sieger zu sein. Wenn nicht, schließt sich die Pforte für immer. Sie wird schwarz und schwer. Eine hohe Wand trennt dich vom ewigen Licht. Du fällst in die Nacht der Sklaven zurück. Nie wieder öffnet sich das helle Tor.“
(In: Barbara Glauert-Hesse, Yvan und Claire Goll, Bücher und Bilder. Katalog der Ausstellung im Gutenberg-Museum zu Mainz. Mainz: von Zabern 1973, S. 86)