Читать книгу Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler - Страница 9
Das Aufmaß des Reichs
ОглавлениеFranz Michael Felders Welt und Lebenswirklichkeit waren mir lange vor der Lektüre seines Werks vertraut. Die Kenntnis architektonischer Codes lässt einen aus Land-, Stadt- und Parzellenplänen Herrschaftsverhältnisse, Lebens- und Wirtschaftsformen „lesen“.
Es war ein Habsburger, der in weltweit einmaliger Weitsicht sein Reich zu Zwecken der Besteuerung vermessen ließ, einzigartige Plandokumente sowie das Fundament unseres Grundbuchs schuf. Das Aufmaß Vorarlbergs datiert exakt zu Felders Lebenszeit. Der Franziszeische Kataster ist eine historische Fundgrube der Sonderklasse und obendrein ein ästhetisches Vergnügen. Die verfertigten Mappenblätter eröffnen Rückschlüsse auf die Wirtschaftsform und Leistungsfähigkeit einzelner Bauern, auf ihre Vermögens- und Familienverhältnisse, auf die Stellung Einzelner in der Gemeinschaft, auf soziale Strukturen in Dorfgemeinschaften und deren Hierarchien. Beispielsweise verrät das Parzellengefüge das ganze Wohl und Weh des Erbrechts und damit wiederum viel von der Lebensfähigkeit der Gehöfte, die etwa durch Vorarlbergs Realteilung immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurde. Ergänzt durch historische Stiche oder Fotografien erschließt der Franziszeische Kataster somit die Biographie ganzer Regionen.
Mit dem Leben und Wirtschaften am Land beginne ich mit einem mich ein Leben lang begleitenden und bewegenden Thema, das durch meine Rückkehr in den Vorderwälder Ort, an dem ich ab 1980 mit meiner Familie sechzehn Jahre lebte, erneuert mein Interesse gewinnt. Im Salzkammergut meiner Kindheit erlebte ich während der Sommerfrische in der Hauswirtschaft, im Gartenbau, in der Werkstatt und in den Dorfverhältnissen meiner Großeltern noch die Reste der alten Vielfalt, Fülle, Logik und Poesie eines Daseins am Land und dessen Einheit mit der Natur und dem Sein. Zudem erklärt das Privileg, den wenigen Architekten anzugehören, die durch die Planung von Landwirtschaftsbetrieben den Verhältnissen bäuerlicher Existenz nahekamen, mein Interesse an der Landwirtschaft und meine Suche nach einem erneuerten Ausgleich zwischen Nachhaltigkeit und Schönheit.