Читать книгу Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler - Страница 14
Wer sich selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt
ОглавлениеWährend der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen zwischen Linz und Bregenz fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!
Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern.
Es gibt eine Daseinsform, die keine Rückkoppelung mit der Welt kennt, weder mit der persönlichen Geschichte noch mit der kollektiven. Psychologisch würde eine Existenz ohne wechselhafte Bezüge zur sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wirklichkeit wohl als Autismus diagnostiziert, oder als Narzissmus – deren Beschaffenheit uns seit ihrer amerikanischen Personifizierung so drastisch vor Augen steht. In dieser Weise programmiert wird die äußere Welt zum schändlichen Abbild der inneren. Schon bei Hugo von Hofmannsthal ist nachzulesen: „Es ist den Menschen im Allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“7
Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr geheim halten ließ, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“
Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes,
im Hinterhalt der Werbung brainwashed,
verloren in virtuellen Welten,
gebannt von der Sorge um die eigene Existenz,
vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben,
aufgelöst im Sog großer Ideen,
geblendet vom eigenen Wertemaßstab
und von Vorurteilen konditioniert,
bedrängt von Zielen und Ansprüchen,
im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert,
vereinnahmt von Selbstmitleid
oder versunken in Resignation,
wirr von medialer Dauerbeflutung,
vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt,
von fremden Imponiergesten eingeschüchtert,
außer Atem gesetzt vom eigenen Stress,
von Ehrgeiz gejagt,
besetzt von Sehnsüchten und Gefühlsüberschwang und
gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung,
vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet,
angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards,
absorbiert von faszinierenden Entdeckungen,
gefangen gehalten in Konzepten
und in Ideologien verrannt,
erschöpft von Ersatzhandlungen,
im Füllen innerer Leere ausgebrannt,
abgetaucht in der Permanentunterhaltung,
besessen von Verschwörungsfantasien,
elektrisiert vom Kitzel des Risikos,
vom eigenen Erfolg betört oder
gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben,
geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung,
und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.
In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich.
Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von mir und dem eigenen Erleben. Und ich nehme mich selbst nicht aus. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt.