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Vom Leben im Müll

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Von klein auf an haben viele Kinder in Honduras die Erfahrung gemacht, dass ihnen im Leben nichts geschenkt wird, sondern sie sich alles erkämpfen müssen. Sich durch das Leben zu schlagen, ist für die einen in physischer Form alltägliche Realität und für die anderen der Ausdruck des täglichen Kampfes um das Überleben. Wie in vielen Großstädten armer Länder gibt es auch am Rande von San Pedro Sula, der zweitgrößten Stadt von Honduras, eine riesige Müllhalde. Sie erstreckt sich durch ein ganzes Tal, das immer mehr mit den Abfällen aller Art der großen Stadt gefüllt wird. Über die mit Schlaglöchern übersäte Piste quälen sich Lastwagen den Berg hoch, um ihre Ladung dort über dem Tal abzuwerfen. Kaum kommen sie oben an, laufen Kinder und Erwachsene auf sie zu, öffnen oft noch im Fahren die Klappen, springen auf die Ladefläche und ziehen den Müll herunter. An manchen Tagen klauben bis zu 300 Kinder verwertbare Stoffe aus dem Müll. Fast alle haben Säcke in der Hand und wühlen aus den Abfällen hervor, was ihnen verwertbar erscheint: Metall, Elektrosachen, Papier und Pappe, Plastikflaschen und anderes mehr. Auf der riesigen Halde kokeln überall Feuer. Beißender Gestank und Qualm, der einem fast den Atem verschlägt, umgibt die Menschen. Dazu kommt die Hitze. Schlechter kann eine Luft zum Atmen kaum sein. Viele Kinder sind barfuß oder tragen Flip-Flops. Überall an Händen und Füßen sieht man Wunden und Narben unter all dem Schmutz, der an ihnen klebt. Hunderte von Geiern und Krähen hüpfen und flattern zwischen den Menschen herum auf der Suche nach Essensresten, dazwischen Rinder und Ziegen. Es ist ein gespenstisches Bild, wie Menschen mitten unter den Aasfressern und Tieren außerhalb jeder Zivilisation deren Abfälle nach verwertbarem Material durchwühlen. Die Kinder tragen ihre Säcke zu einem Sammelplatz, füllen, was sie herausgeklaubt haben, in größere Säcke und tragen sie später die Piste herunter. Unten an der Straße sitzen die Händler, die die Sachen aufkaufen und dann en gros wieder in den Recyclingumlauf bringen. Kaum ein Kind verdient dabei mehr als einen Dollar am Tag. Doch die Mutter zu Hause, und oft ist es die Mutter allein, ist auf diesen einen Dollar angewiesen, um für sich und ihre Kinder das Überleben zu sichern. Die meisten Familien wohnen direkt am Rand der Müllhalde. Ihre Behausungen sind aus Materialien gebaut, die sie dort finden. In einer Hütte findet sich meist nur ein Bett für alle, an einer Schnur hängen ein paar Kleidungsstücke, ein Hocker oder ein Stuhl, ein kleiner Tisch vielleicht. Unter einem Überdach stehen ein paar Töpfe an einer Feuerstelle. Das ist die Küche. Ärmer kann kaum einer leben. Zur Schule können die Kinder nicht gehen. Und jede Krankheit – und davon gibt es bei dieser ungesunden Umgebung viele – ist eine mittlere Katastrophe, da ein Arztbesuch in der Stadt und Medikamente sehr teuer sind.

Unter den Kindern auf der Halde kommen wir mit Manuel ins Gespräch. Er hat sich auf Papier und Pappe spezialisiert. Da hätte er zwar schwer zu schleppen, aber er verletze sich weniger als an Metall oder Glas. Auch würde er mit einem Freund zusammenarbeiten. Gemeinsam schafften sie die Säcke den Berg herunter. Manuel ist stolz auf das, was er leistet und froh, seine Mutter unterstützen zu können. Er kennt kein anderes Leben. Er führt uns zur Hütte seiner Mutter Linda, die mit einem Baby dort auf ihn wartet. Drei Kinder hat sie, aber keinen Mann, der ihr zur Seite steht. Die Väter der Kinder sind längst weg und kümmern sich nicht mehr um die Familie. Wie Linda geht es vielen anderen Müttern in den Behausungen am Rand der Müllhalde, am Rand des Lebens. Sozialarbeiterinnen einer Nichtregierungsorganisation haben sich mit den Müttern getroffen. Es hat Zeit gebraucht, bis die Frauen untereinander etwas Vertrauen fassten und sich über ihre schwierigen Lebensbedingungen austauschten. Auch Arme grenzen sich voneinander ab. Armut allein macht noch nicht solidarisch. Solidarität kann erst wachsen, wenn es gemeinsame Ziele gibt. Allen Müttern liegt besonders das Leben ihrer Kinder am Herzen. Es schmerzt sie, dass sie nicht zur Schule gehen können, dass die Luft um sie herum verpestet ist und jede Erkrankung eines Kindes sie heftig mit der Hilflosigkeit ihrer Situation konfrontiert. So erarbeiteten sie mit den Sozialarbeiterinnen den Plan, eine kleine Kindertagesstätte aufzubauen. Unter einem Sonnendach zwischen Bäumen sind jetzt etwa 30 Kinder im Vorschulalter versammelt. Die Kinder sitzen an kleinen Tischen und malen, andere wechseln sich an einer Wippe ab. Linda und die anderen Mütter sitzen oder stehen um die Kinder herum. Sie sind glücklich, dass sie das geschafft haben. Und davon erzählen sie auch lebhaft, manchmal alle auf einmal. Mit der provisorischen Kindertagesstätte hat die Zukunft für sie begonnen. Mit ihrer Begeisterung nehmen sie vorweg, was alles noch werden soll. Besonders wünschen sie sich eine Schule für ihre Kinder, die auf ihre Lebensbedingungen zugeschnitten ist. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder nur arbeiten und von den Händlern unten am Berg ausgebeutet werden. Doch noch brauchen sie zum Überleben, was die Kinder verdienen.

Es ist fast die Quadratur des Kreises, Kinderarbeit und Schule zusammenzubringen. Wenn Kinder vom regulären Unterricht ausgeschlossen sind, für sie ein Schulbeginn in ihrem Jahrgang nicht möglich ist oder sie der Schule fernbleiben und eine Rückkehr nach den honduranischen Schulgesetzen ausgeschlossen ist, müssen Alternativen her. Spezieller Förderunterricht, der an die Lebenssituation der Kinder auf dem Müll anknüpft, ist ein guter Weg, Arbeit und Schule zu verbinden. Von ihrer Arbeit im Müll bringen die Kinder sehr viel Durchhaltevermögen und Überlebenswillen mit. Sie wissen um ihre Verantwortung für die Mutter und die Geschwister. Es sind oft starke Kinder, die sich nicht so schnell unterkriegen lassen, auch wenn sie täglich Demütigungen und ihre Ohnmacht gegenüber den Händlern erleben, wenn die nicht den vereinbarten Preis bezahlen wollen. Sie spüren ihre Defizite, weil sie nicht lesen und schreiben können. Außerhalb ihres Milieus begegnet man ihnen mit Verachtung. In den Augen der anderen sind die Müllkinder das, was sie sammeln. Ihr Selbstbewusstsein zu stärken durch einen Schulunterricht, der auf sie zugeschnitten ist, ist ein erfolgreicher Weg. In El Ocotillo haben Kinder diese Chance. Heute gibt es spezielle Klassen für sie, um den Einstieg in die Schule und auch einen Abschluss zu schaffen. Linda und die anderen Mütter haben erfahren, wie der Kreislauf der Abhängigkeit und Armut unterbrochen wird, und Kinder es schaffen, einen anderen Weg ins Leben zu finden. Mütter und Kinder, und soweit vorhanden auch Männer und Väter, entwickeln ein ganz neues Selbstvertrauen. Starke Mütter mit Selbstvertrauen werden nicht so oft Opfer häuslicher Gewalt, der sie vorher oftmals schutzlos ausgeliefert waren. Sie erkennen ihre Situation und nehmen sie nicht mehr apathisch und schicksalsergeben hin, sondern nehmen ihr Leben selbst in die Hand. Hier wandelt sich die Hilfe zur Selbsthilfe. Die Menschen fassen Mut, auch gegenüber staatlichen Stellen Forderungen zu erheben und durchzusetzen. Bei unserem Besuch stand der Wunsch nach einer Gesundheitsstation ganz oben auf der Liste. Damit verbunden war der Plan, das riesige Müllgebiet besser zu überwachen, um die Verpestung der Luft durch brennenden Plastikmüll einzudämmen.

Die Welt braucht starke Kinder

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