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Casa Alianza – die Spirale der Gewalt unterbrechen
ОглавлениеAn diesem Abend tauchten keine Maras auf. Alles blieb ruhig. Einige der Kinder und Jugendlichen wollten wissen, warum wir zu ihnen gekommen waren. Wir sagten, dass wir Freunde von Casa Alianza seien und Sergio und die anderen unterstützen würden. Auch hätten wir von den Straßenkindern aus Tegucigalpa in Deutschland schon viel gehört, vor allem von ihrem Willen zu überleben und ihrer Hoffnung, einmal ein besseres Leben zu finden. Deswegen interessiere uns ihr Leben. Und wir erklärten ihnen, dass wir mit Sergio und seinen Leuten überlegen und von ihnen hören wollten, wie noch mehr Straßenkinder erreicht werden könnten und welche Hilfe für sie die beste sei.
Diego, der nicht schnüffelte, hatte aufmerksam zugehört. Ich merkte auch, dass Sergio ihn im Blick hatte. Sein Alter und sein bisheriger Weg in dieses Milieu machten ihn anfällig für die Verlockungen der Maras. Auch hätte er ihren Drohungen wenig entgegenzusetzen. So war es zwischen den beiden eine stille Übereinkunft, dass er, wie einige andere auch, mit zur Casa Alianza fuhr. Dort wollte er duschen, die Kleider wechseln, essen, ein paar Kumpels treffen und noch einmal überlegen, wie es mit ihm weitergehen sollte. Ihn habe ich nicht wieder gesehen. Der Sog der Straße sei enorm stark, hatte mir Sergio am nächsten Tag erklärt. Am Morgen sei Diego wieder verschwunden. Wieder hatte es ihn nach draußen getrieben. Aber er, Sergio, gebe die Hoffnung nicht auf. Gerne hätte er an diesem Morgen Diego zusammen mit etwa 20 Mädchen und Jungen aus der Casa, die den Absprung von der Straße geschafft hatten, mitgenommen auf einen Hügel, der oberhalb eines Armenviertels liegt und einen weiten Rundblick über die Stadt bietet. Die Aussicht war wirklich beeindruckend, doch unser Blick fiel immer wieder auf Kreuze und Grabsteine, die oft von Büschen und Gras überwuchert den Hügel hinauf unseren Weg säumten. Die Kinder, die bei uns waren, kannten den Weg genau. Es war so etwas wie ihr persönlicher Kalvarienberg. Die Menschen dort nennen den Armenfriedhof „Divino Paraíso“ – göttliches Paradies. Das zeigt, was sie für ihre Toten und sich selbst einmal erhoffen. Weit oben an einer flachen Stelle lag unser Ziel. Hier steht das Mausoleum der ermordeten Straßenkinder von Tegucigalpa. Als Rundgebäude mit einem freien Blick zum Himmel waren in seinen Mauern die Särge von über 36 getöteten Straßenkindern eingelassen. Bei manchen waren Namen und Lebensdaten vorhanden, andere trugen den Namen, unter dem sie in der Clique bekannt waren, bei vielen war das Todesdatum die einzige sichere Auskunft über ihr kurzes Leben. Ob ihr Geburtsdatum jemals eingetragen wurde, wird keiner mehr wissen. Sie kamen zur Welt, waren vielleicht nie gewollt und doch an manchen Tagen geliebt. Eine Geburtsurkunde hatten sie nie. Ihre Armut machte sie anonym. Doch im Tod sollen sie nicht vergessen sein. Es war die Idee der Kinder der Casa Alianza selbst, das Mausoleum zu bauen. Sie hatten ihre Freunde und Freundinnen sterben sehen, waren selbst den Kugeln oder Schlägen entkommen. Doch es sollte Schluss damit sein, die toten Kinder einfach irgendwo zu verscharren. So bewahrt das Mausoleum die Würde der Kinder über den Tod hinaus, die sie zu Lebzeiten so gut wie nie erfahren haben, die ihnen aber doch geschenkt ist. Für die Straßenkinder ist das Mausoleum auch ein Ort, an dem sie Zusammenhalt und Kraft finden, um durchzuhalten auf dem Weg in ein anderes Leben. Und es ist ein Mahnmal über der Stadt, die Gewalt gegen Kinder sozial und politisch zu überwinden und der Verpflichtung nachzukommen, die auch Honduras als Vertragsstaat der Kinderrechtskonvention eingegangen ist.
Es war sehr bewegend, als wir schweigend in dem Rund standen. Tränen flossen. Ein Schock erfasste die Kinder, weil zwei Särge in der Mauer offensichtlich gewaltsam geöffnet worden waren und die Einbruchslöcher bisher nur notdürftig verschlossen waren. Wie von selbst fassten wir uns an den Händen, standen still im Kreis mit unseren Gedanken und dann doch mit dem Wunsch nach einem Wort der Ermutigung und einem Gebet für die toten und lebenden Straßenkinder.