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Straßenkinder – ihr Leben, ihre Hoffnung

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Er sah elender aus als die anderen in dieser Nacht an der Puente Estocolmo. Seine Augen aber suchten nach einem Leben, das es dort nicht gab. Die Hose war zerrissen und um den hageren Körper hing ein viel zu großer Mantel, Kleidung und Zudecke zugleich. Er strotzte vor Schmutz. Diego hieße er, sagte er uns, als wir ihn barfuß in der Nähe der Brücke in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras trafen. Von zu Hause sei er weggelaufen. An seinen Vater erinnere er sich kaum noch. Die wechselnden Partner seiner Mutter hätten ihn geschlagen und im Alkoholrausch missbraucht. An seine Mutter denke er oft. Irgendwann würde er zu ihr zurückkehren mit Geld in der Tasche und ihr und seinen Geschwistern helfen. Vierzehn Jahre sei er alt, sagte er und fügte gleich hinzu, dass er es bald schaffen werde, aus dem Elend herauszukommen. Doch jetzt brauche er noch die Clique. Ohne die anderen könne er auf der Straße nicht überleben.

Es war kein Zufall und bis zuletzt noch ungewiss, ob wir Diego und die anderen Straßenkinder treffen könnten. Gemeinsam mit Christina Rau, Stiftungsrätin der Kindernothilfe, und einer kleinen Delegation war ich in Honduras unterwegs. Alleine hätten wir in der Dunkelheit der Nacht diesen Treffpunkt der Straßenkinder nie gefunden. Wir wären auch kaum bis zu ihnen durchgekommen, ohne vorher überfallen und ausgeraubt worden zu sein. Sozialarbeiter von Casa Alianza, einer honduranischen Partnerorganisation der Kindernothilfe, waren bei uns. Sie nahmen uns mit auf ihren nächtlichen Wegen zu den Straßenkindern. Mir war etwas mulmig zu Mute. Und wir hatten vereinbart alles abzubrechen, wenn die Situation eskalieren sollte. Unser Kommen konnte nicht, wie es bei anderen Projektbesuchen üblich ist, vorher angekündigt werden. Zwei Sozialarbeiter gingen voran. Einer von ihnen war Sergio. In seiner Kleidung sah er aus wie ein älterer Bruder der Straßenkinder. Mit seinem gewinnenden Lachen und der Gitarre in der Hand mischte er sich unter sie. Er spielte und sang, und schon war er von einigen Mädchen und Jungen umringt. Sergio, so merkte ich es bald, war ihre Vertrauensperson. Die Gitarre und das Singen waren Symbol und Ritual zugleich, um bei den Straßenkindern anzukommen. So wie ihn einige euphorisch umringten, wirkten andere apathisch. Sie standen etwas abseits. In ihren Händen hielten sie Plastiktüten. Darin war ein Klebstoff und Lösungsmittel. Immer wieder steckten sie ihre Nase in die Tüten, um die Ausdünstungen des Klebstoffs einzuatmen. Um ihren Hunger und ihr Elend zu betäuben, schnüffeln viele Kinder dieses Gift, die Droge der Armen. Es bewirkt einen Rausch, macht das Elend für kurze Zeit vergessen, stumpft die Sinne ab und hat langfristig verheerende Folgen für das Leben der Kinder. Als schleichendes Gift für den Organismus töten diese Stoffe Nerven und Gehirnzellen ab.

Jeden Abend ist die Situation auf der Straße anders. Hätte Gewalt in der Luft gelegen, hätten wir den Besuch abbrechen müssen. Die Straßenkinder hätten wegen der Drogen oder auch aufgestauter Aggressionen untereinander eine Gefahr sein können. Doch die größte Gewalt geht nicht von ihnen aus, sondern von denen, die sie als Plage und Last empfinden und von der Straße haben wollen. Durch plötzliche Razzien sind die Kinder selbst immer wieder Opfer sogenannter „Säuberungsaktionen“. Allein die Mitarbeiter von Casa Alianza haben seit 1998, dem Beginn der Dokumentation, bis heute mehr als 4.000 Morde an Straßenkindern nur in der Hauptstadt Tegucigalpa registriert. An Grausamkeit sind diese Morde kaum zu überbieten. Oft werden die Opfer erst gefoltert und dann gezielt erschossen. Manchmal sind es einzelne, die ins Schussfeld geraten. Auch Hinrichtungen von ganzen Gruppen gab es schon. Vor einigen Jahren noch fanden Jagden aus Autos heraus auf die Kinder statt. Diese Morde sind ein erheblicher Teil der skandalösen Statistik, dass in Honduras alle zwei Stunden ein Mensch getötet wird. Das kleine Land in Mittelamerika hat bezogen auf die Bevölkerungszahl die höchste Mordrate. Diese Morde gingen und gehen auf das Konto privater Sicherheitsdienste, aber wegen der als impunidad bezeichneten Straffreiheit auch zu einem erheblichen Teil auf den Waffengebrauch regulärer Polizeikräfte.

Daneben spielen auch die Rivalitäten von Banden und Drogendealern eine Rolle. Kaum ein Mordfall wird strafrechtlich verfolgt. Die Kinder, die sterben, werden allenfalls von ihren Freunden und hier und da von ihren Familien vermisst. Viele haben keine Geburtsurkunde. Amtlich nicht registriert, haben und hatten sie keine Existenz. Wer auf der Straße überleben will, muss sich beschaffen, was er zum Leben braucht. Betteln, Gelegenheitsjobs wie Autowaschen, Trägerdienste auf dem Markt, aber auch Mundraub, Diebstahl, Gewalt gegen andere und der Verkauf des eigenen Körpers sichern den Kindern das Überleben. Daher sind die Kinder zunehmender Repression ausgesetzt. Man will sie von der Straße haben.

In dieser Nacht blieb es ruhig. Die Kinder kannten die Sozialarbeiter. Sie vertrauten ihnen, denn viele Male hatten sie durch sie Hilfe erfahren: Wunden hatten sie verbunden, etwas zu essen dabei gehabt und immer wieder Gespräche und Angebote, von der Straße und vor allem von der Schnüffeldroge wegzukommen. Viele Kinder kannten durch kurze Aufenthalte auch die Casa Alianza, eine ehemalige Schule. Jetzt ist es ein Schutzhaus für etwa 170 Kinder, um ihren Weg in ein anderes Leben vorzubereiten. Doch der Sog der Straße ist groß. Die Sucht ist manchmal weit fortgeschritten, und die Gewöhnung an das Elend lässt andere Lebensbilder verblassen. Denn wer in das Schutzhaus aufgenommen wird, muss die Regeln eines festen Tagesablaufs beachten, sich in eine neue Gemeinschaft einfinden, im Haus beim Tischdienst helfen, bereit sein zur Schule zu gehen oder sich in Lerngruppen auf den schulischen Anschluss vorbereiten. Was uns normal und erstrebenswert vorkommt, ist für viele Straßenkinder eine Welt, die sie niemals kennengelernt haben und daher auch nicht suchen.

Die Welt braucht starke Kinder

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