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Marie

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„Ich muss hier einfach mal raus!" So hatte es angefangen!

Vor etwa vier Monaten hatte Marie mit Thea telefoniert und ihren ganzen Frust raus gelassen.

„Was ist denn los?"

„Ach ich weiß nicht, die Kinder machen mich ganz kirre. Eigentlich brauchen sie mich nicht mehr wirklich und anderseits halten sie mich dauernd mit unsinnigem Kram auf Trab. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich habe dazu gar keine, aber auch gar keine Lust mehr! Ich kann verstehen, dass es manche Tierarten gibt, die irgendwann ihren Nachwuchs vertreiben."

„Hast du eine Midlifecrisis?", Thea lachte.

„Vielleicht." Marie zögerte „Kannst du dich noch dran erinnern, wie toll es war, so gänzlich ohne Verantwortung für andere zu sein? Nur auf sich selbst aufpassen zu müssen? Und" sie grinste ein wenig „ natürlich auf die beste Freundin und deren Dummheiten?"

„Ja", Thea atmete tief ein und wieder aus, „das waren schon super Zeiten!" „Weißt du noch, wie all die Typen hießen, die wir zusammen kennengelernt haben?"

„Puh, wo soll ich denn da anfangen? Michael? Nee, das war vor deiner Zeit. Den habe ich mit einer Freundin zusammen in Österreich, glaube ich, kennengelernt. Da war ich fünfzehn oder so. Wie hieß noch der im Urlaub in Schweden? Bjarne oder Björn."

„Keine Ahnung, habe ich vergessen, aber sein Freund war süß, der hieß Carl, wenn ich mich richtig erinnere. Der konnte so gut Windsurfen. Weißt du noch, als er versucht hat uns das beizubringen? Damals war ich zwar noch recht sportlich, aber ich glaube ich bin nicht ein einziges Mal mit diesem Segel aus dem Wasser rausgekommen. Das war echt nicht mein Ding! Aber dafür war der Surflehrer richtig klasse!"

„Ähem!" Thea räusperte sich vernehmlich „beim Surfen, oder was?"

„Nur da! Lass uns mal weiter überlegen, dann gab es da noch diesen dunkelhaarigen in Griechenland."

„Ja, aber der war kein Grieche, der kam aus Wuppertal."

„Sicher? Auf jeden Fall hat der dich jeden Abend in der Hotelbar fast mit den Augen verschlungen. Du wärst fast mit ihm auf sein Zimmer gegangen, nur deine brave, tugendhafte Freundin hat dich vor Schlimmerem bewahrt!" Marie kicherte.

„Dafür sollte ich dir wohl noch immer dankbar sein, du Pappnase, dass du mir meinen ersten One-Night-Stand vermasselt hast, oder was?"

„Sicher, du warst viel zu schade für den!"

„Danke! Aber ich hätte ihn damals genommen!"

Marie grinste, das war nicht die Thea von heute, heute hatte sie strengere Moralvorstellungen, aber damals, na ja, damals war ja auch alles viel einfacher gewesen, oder vielleicht kam es ihr im Rückblick auch nur so vor.

„Mama! Mama! Tessa hat schon wieder mein blaues Top angezogen. Sag ihr, sie soll es sofort ausziehen! Mama!"

Man hörte lautes Gekreisch. Im oberen Stockwerk knallten die Türen, dann ein elefantenähnliches Getrampel. Maries fünfzehnjährige Tochter stürzte im Eiltempo die Treppe hinunter, ihr dicht auf den Fersen Hannah, ihre große Schwester. Sie war, wie Hannah selbst immer wieder betonte nun schon bald siebzehn. Die wilde Jagd ging ins Wohnzimmer, um den Couchtisch herum, vor und zurück. Im allerletzten Moment rettete sich Tessa durch einen beherzten Sprung über den Tisch in den Flur und von dort in das Badezimmer. Mit einem Rums flog die Badezimmertür zu, der Schlüssel wurde gedreht und Hannah blieb nichts anderes übrig, als mit beiden Fäusten heftig an die verschlossene Tür zu hämmern.

„Warte mal ganz kurz Thea ja? Tessa gib Hannah das Top zurück, bitte! Ich möchte mit Thea in Ruhe telefonieren."

„Ich denke ja gar nicht daran! Es passt ihr doch sowieso nicht mehr, sie ist viel zu fett geworden!"

„Arghhhhh" ein Aufschrei aus tiefster Kehle erschütterte das ganze Haus. Marie bekam Angst um die Glasscheibe in der Badezimmertür.

„Was für ein Theater!" Robert kam die Treppe herunter. Langsam, mit ruhigen Schritten, wie es so seine Art war. Er war so ganz anders als seine beiden Schwestern. Sie blond und blauäugig, wie ihre Mutter, er mit dunklen Haaren und ebenso dunklen Augen. Robert war groß, in den letzten Jahren war er fast unaufhörlich in die Höhe geschossen. Jetzt, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, überragte er seine Mutter um mindestens dreißig Zentimeter. Sein Vater hatte schon vor Jahren scherzhaft erklärt, er werde wohl mal einen Vaterschaftstest machen lassen müssen. Marie lachte innerlich, als sie daran dachte. „Wer könnte sonst sein Vater sein, wenn nicht du?" hatte sie ihn gefragt und er grinste, gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und sagte:" Wird schon stimmen, du treue Seele!" Treu war sie wirklich gewesen, all die Jahre, selbst bis heute, wo sie doch schon seit über einem Jahr verwitwet war. Es ging alles so schnell damals, er kippte bei der Arbeit einfach um. Herzinfarkt! Die Nachricht traf die ganze Familie wie ein Schlag, mitten ins Gesicht. Gerade hatten sie und Tom angefangen sich neu zu entdecken, die Kinder wurden langsam selbstständig, gingen mehr und mehr ihre eigenen Wege. Jetzt sollte ihre große Zeit beginnen. Sie war viel zu schnell schwanger geworden vor neunzehn Jahren. Robert kam zur Welt, da waren sie gerade mal vier Monate verheiratet. Nicht dass sie nicht sowieso vorhatten zu heiraten, aber als sich Robert ankündigte, beschleunigte das die Sache doch enorm.

Marie schnappte sich das Telefon und ging in die Küche, sie zog hinter sich die Tür zu und atmete einmal tief durch.

„Das ist das reinste Irrenhaus, verstehst du jetzt was ich meine?"

Thea, die liebe Thea stets so verständnisvoll und voller Mitgefühl schlug sich natürlich sofort auf die Seite der Kinder. „Kümmere dich ruhig erst um die Kids, wir können ja später nochmal miteinander telefonieren." Thea selber hatte keine Kinder, hatte also ihr Herzblut komplett in ihre Patenkinder gesteckt und war stets und immer bereit, ihnen alles zu verzeihen.

„Nein, nein", es ist schon wieder gut!" das Gezänk der beiden Mädchen war durch die geschlossene Küchentür nur noch leise zu hören.

Nun öffnete sich jedoch die Küchentür und die Geräuschkulisse wurde wieder unerträglich laut.

„Thea", Marie seufzte, „ich rufe dich gleich zurück, wenn ich das hier -äh-geklärt habe."

„Kein Problem! Ich bin zuhause. Bis dann!" Marie steckte sich das Telefon in die Jackentasche, ärgerlich über die aufgezwungene Gesprächspause. Robert setzte sich an den Küchentisch, seine langen Beine ausgestreckt und schnappte sich einen Apfel aus dem Korb.

„Ich hau gleich ab.", murmelte er zwischen zwei Bissen, „zu Mike, Mathe lernen."

„Du lässt mich mit diesen wildgewordenen Handfegern allein?" Marie konnte ihren Großen gut verstehen, seit dem Tod seines Vaters hatte er sich zunehmend verantwortlich für seine jüngeren Schwestern gefühlt. Er selbst hatte vermutlich bis heute nicht ausreichend getrauert. Kein Wunder, dass er langsam anfing sich abzunabeln, der Vereinnahmung durch seine Schwestern zu entfliehen.

„Robert!" das war es, was sie meinte.

Tessa hatte inzwischen das Badezimmer verlassen, Hannah das Top vor die Füße geknallt und war nun auf der Flucht vor ihrer Schwester ihrem großen Bruder auf den Schoß gesprungen.

„Robert! Rette mich!"

Sie schnaufte, die wilde Jagd hatte sie aus der Puste gebracht, dabei war deutlich zu merken, dass sie den Tränen nahe war.

„Ist ja gut Kleine, ist ja gut!" Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Marie schaute bewundernd auf ihren Sohn, der jetzt seiner kleinsten Schwester mit der rechten Hand beruhigend über die Haare strich und, seinen Apfel mit den Zähnen festhaltend, versuchte, sie mit der linken Hand bequemer auf seinen Schoß zu ziehen.

In diesem Moment wirkte er so erwachsen, so schrecklich erwachsen und sie fühlte einen unglaublichen Stolz auf ihn. „Er sollte sich mehr um sich selbst kümmern", dachte Marie bekümmert „ wir alle sollten mehr Ruhe und Zeit haben."

Die Aussichten waren gut. In ein paar Monaten würden sie alle mehr Zeit bekommen sich um sich selbst zu kümmern. Hannah würde für das nächste Schuljahr nach Amerika gehen und dort ein Austauschjahr machen und Tessa? Tessa wollte ebenfalls für ein Jahr ins Ausland. Gemeinsam mit ihrer allerbesten Freundin wollte sie nach Spanien zu deren Großeltern reisen. Die Familie würde sich trennen, zumindest für eine gewisse Zeit. Marie war sich sicher, dass es für alle eine gute Entscheidung gewesen war, dennoch blickte sie nicht ohne Sorge in die nächste Zukunft. Was würde in diesem Jahr mit ihren Babys passieren? Nie waren sie länger als ein, zwei Wochen getrennt gewesen. Immer ein Team, aber da war ja auch noch Tom an ihrer Seite, ruhig und ausgeglichen, immer wieder bereit, die Wogen der Weiblichkeit im Hause zu glätten, er fehlte so sehr! So wie es im Moment lief, war es aber auch nicht auszuhalten. Die Mädchen nur noch in Zank und Streit, sie selbst am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte und Robert immer mittendrin, gleichbleibend ruhig und ausgeglichen. Blass war er in letzter Zeit, „ausgezehrt" kam ihr in den Sinn. Es war gut, dass auch er einmal zur Ruhe kam.

Maries Blick fiel auf ihren Sohn, der Tessa vom Schoß geschoben hatte, aufstand, zur Tür ging und seine Jacke vom Haken schnappte.

„Ich bin dann mal weg, Tessa nehme ich mit zu Mike! Sie kann auch ein wenig Mathenachhilfe gebrauchen."

Die Haustür ging auf und wieder zu, es war ruhig im Haus. Hannah hatte sich in ihr Zimmer verkrochen, Marie hörte sie mit ihrer Freundin Lilly chatten. Hannah war also mindestens die nächsten zwei Stunden beschäftigt.

Marie griff in ihre Tasche, nahm das Telefon zur Hand und drückte die Wahlwiederholung. Es tutete zwei, drei Mal, dann war Thea schon am anderen Ende der Leitung zu hören:

„Na Krieg beendet?"

„Vorrübergehender Waffenstillstand, wenn du mich fragst, aber wo waren wir stehen geblieben?"

„Ich glaube bei der Affäre, die du mir vermasselt hast."

„Vor der ich dich beschützt habe!"

„Meinetwegen auch das, und dann" Thea steigerte die Spannung mit einer kurzen Pause „ dann im Jahr danach, waren wir in Frankreich!"

Marie seufzte „Ja, dann waren wir in Frankreich!"

Gleich am zweiten Abend hatten sie Claude und seinen Freund Richard kennengelernt. Anfang zwanzig, wie sie selbst. Es war einer dieser warmen, lauen Sommerabende und Thea und sie saßen nach dem Abendessen noch auf einer Steinmauer an der Strandpromenade und beobachteten die vorbei schlendernden Menschen. Sie wusste noch, dass es eine diebische Freude machte über die ihnen gänzlich unbekannten Leute zu lästern und sie hatten ein Spiel entwickelt, das hieß 'sage mir aus welchem Land die Leute kommen, bevor du ihre Sprache hörst'. Damals rauchte sie noch, Thea hat irgendwie nie geraucht, nun Marie rauchte und blies den Rauch in die warme Luft, während sie beide versuchten, zu raten woher wohl das alte Ehepaar, er mit Sportsocken und Sandalen und sie im einteiligen Flatterkleid, kommen würde. Thea war für Deutschland, aber Marie beharrte auf den USA. Beide lauschten auf die ersten Wortfetzen, das Paar kam nur langsam näher.

Heute würde sie es nicht mehr beschwören können, aber sie glaubte sich zu erinnern, dass in diesem Moment eine kühlere Brise über das Meer zu ihnen wehte und eine zarte Gänsehaut auf ihren Armen verursachte. Hätte sie einen Sinn fürs Übersinnliche gehabt, wäre es wie eine Vorahnung gewesen.

Im gleichen Moment sprang ein Schatten über die Mauer, sehr elegant, sehr sportlich, katzenhaft!

Sie und Thea zuckten zusammen, als so plötzlich eine Gestalt vor ihnen auftauchte.

Marie sog scharf die Luft ein und ihr entfuhr ein kleiner, kurzer Atemstoß. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erfasste, dass es ein junger Mann war, der sich jetzt vor sie hinstellte, ein keckes Grinsen auf dem Gesicht.

Er schien sie ansprechen zu wollen, doch sein schon halb geöffneter Mund blieb wortlos und er starrte sie dabei ebenso verstört an, wie sie ihn. Das Ehepaar schlenderte vorbei, es waren Deutsche!

Wow, was für Augen! Dunkel und umrahmt von ebenso dunklen Wimpern. Er sagte noch immer kein Wort. Marie starrte ihn an und nahm dabei seine ganze Erscheinung in sich auf. Was sie sah gefiel ihr überaus gut:

Er hatte dunkles, welliges Haar. Es stand ihm ein wenig wirr vom Kopf ab, es sah aus, als wäre er gerade schnell gerannt, irgendwie verlieh ihm das ein jungenhaftes Aussehen. Seine Nase war ausgeprägt und unterstrich mit ihrer Kantigkeit vorteilhaft seine hohen Wangenknochen. Sein Mund war, soweit sie das im geöffneten Zustand erkennen konnte perfekt. Er hatte diese seltene Mischung aus Sinnlichkeit und Entschlossenheit, im Moment war das allerdings mehr zu erahnen, als genau zu erkennen. Sein

Kinn passte absolut zu seiner Nase und er sah einfach gut aus. „Zum Niederknien", dachte Marie.

Während sie noch völlig in die Betrachtung dieses faszinierenden Gesichtes vertieft war, kam ein weiterer junger Mann dazu und stellte sich zu ihnen. Er schien sein Freund zu sein, denn er war im selben Alter und es war klar zu erkennen, dass sie sich kannten. Der zweite junge Mann war ein richtiger Sonnyboy, er hatte einen rötlich schimmernden Lockenkopf und einen vollen, breiten Mund, der von Anfang an zu lachen schien. Ein paar Sommersprossen auf seinen gebräunten Unterarmen unterstrichen die ebenso rötlichen Haare auf seinen Armen. Er war nicht ganz so sportlich über die Mauer gesprungen, sein Auftritt war weniger eindrucksvoll gewesen, dafür war er aber wenigstens in der Lage zu sprechen. Er grüßte sie und fragte, ob sie noch auf jemanden warten würden, oder ob sie ihnen Gesellschaft leisten dürften. Thea machte eine einladende Geste in Richtung Steinmauer neben sich. Die beiden begannen schon eine kleine Unterhaltung, während der andere junge Mann immer noch stumm vor ihnen stand. Irgendwann schloss sein Mund sich dann doch und er schluckte ein paar Mal, bevor er Marie nach mehrfachem Räuspern schließlich ansprach.

„Was hat er gesagt?" fragte Marie in Richtung Thea, ohne jedoch den Blick von ihm abzuwenden, sie konnte damals kein Wort Französisch.

„Ob du Feuer für ihn hast!"

Wortlos gab Marie ihm ihr Feuerzeug und er nahm es, hielt es in der Hand. Kein Wort kam über ihre Lippen, eine Ewigkeit, so schien es Marie, starrten sie sich wortlos an und dann begannen sie zeitgleich zu sprechen, die typischen Fragen. Gestelzt, befangen und wenig originell. Erst er auf Französisch, sie auf Deutsch, dann auf Englisch und dann mit Händen und Füßen.

Sein Name war Claude. Claude setzte sich auf die Steinmauer, neben Marie und versuchte sein Schulenglisch herauszukramen, sein Freund

Richard hatte es da besser getroffen, er konnte sich mit Thea wenigstens ein wenig in seiner Muttersprache verständigen.

Claude war groß, sehr groß für einen Franzosen. Bestimmt einen Meter und neunzig.

Ob sie sich die Stadt anschauen wollten, woher sie kämen, wie ihre Namen wären, und dabei dachte Marie eigentlich nur die ganze Zeit „was für eine Stimme!"

Dunkel und melodisch.

Leider erwies sich die inhaltliche Seite der Unterhaltung als weitaus unbefriedigender, denn sein Englisch war eine echte Katastrophe.

Es schien völlig natürlich, dass sie schon nach kurzer Zeit Hand in Hand an der Promenade entlang schlenderten und dabei irgendwann das anstrengende Gespräch einstellten. Thea und Richard kamen hinterher, immer noch in eine scheinbar angeregte Unterhaltung vertieft.

Bisher hatte er das Feuerzeug noch nicht benutzt.

Es war unglaublich! Sie wäre an diesem Abend mit ihm bis zum Ende der Stadt, der Welt weitergelaufen, schweigend.

Apropos schweigend, ihr fiel auf, dass Thea und ihr Begleiter nicht mehr zu hören waren. Marie blickte sich um und sah die beiden in weiterer Entfernung auf einer Bank sitzen, sich immer noch lebhaft unterhaltend. „Wollen wir uns auch setzen?" immerhin, das hatte sie verstanden. Langsam fielen auch Claude wieder mehr englische Vokabeln aus der Schulzeit ein.

Sie wollte sich auf die Mauer setzen, die die Promenade vom Strand trennte, aber Claude zog sie von der Mauer hinunter zum Meer.

Sofort rieselte der Sand in ihre Schuhe und an ein elegantes Laufen war nicht mehr zu denken. „Na toll!" dachte Marie „jetzt stolpere ich hier herum wie so ein Trampeltier, wobei die vermutlich besser für das Laufen im Sand gerüstet sind als ich.

„Du hast damals plötzlich laut aufgelacht und ich habe gedacht, du drehst mir durch. Erinnerst du dich?" Thea half Maries Gedächtnis auf die Sprünge.

Stimmt, so war es gewesen, sie hatte lachen müssen, ein wenig schrill vielleicht, leichte Hysterie? Sie war auf der Flucht gewesen, auf der Flucht, vor der viel zu schnell, viel zu intensiven Stimmung. Das hatte sie so nicht geplant. Das war ihr so auch noch nie passiert. Hätte sie nicht losgelassen, hätte sie für nichts mehr garantieren können, es war ihr zu dem Zeitpunkt schon entsetzlich peinlich, wie schnell sie sich hatte bezaubern lassen. Sie hatte sich eingeredet, dass es nur die Stimmung, das Licht, die warme Luft und ihre leichte Übermüdung gewesen sein konnte, was sie so unkontrolliert hatte werden lassen.

"Danke! Danke Sand, danke, dass du so real dazwischen geplatzt bist!"

Es war wie ein stummes Gebet gewesen. Auf keinen Fall hatte sie oberflächlich wirken wollen. Er hatte nicht denken sollen, sie wäre leicht zu haben. Sie war kurz davor gewesen, alle ihre Vorsätze zu vergessen und ihn einfach zu küssen. Unglaublich, sie hatte ihn da kaum eine Stunde gekannt.

Was war damals bloß los mit ihr? Sie war bis dahin immer so beherrscht gewesen, überlegte sich jedes Date zehnmal hin und her, plante jede Verabredung sorgfältig und wog das Für und Wider schon im Vornherein sorgfältig ab.

Dieses hier hatte sie überrumpelt, ihr keine Luft zum Atmen und Denken gelassen.

Es war erst ihr zweiter Abend in einem fremden Land und sie war im Begriff gewesen sich Hals über Kopf zu verlieben. Zu verlieben in einen, zugegebenermaßen unglaublich gut aussehenden, aber gänzlich unbekannten jungen Mann. Sie hatte am Meer gestanden, die nackten Füße im Wasser, es war kalt und die Kälte schien ihre Gehirnwindungen wieder zum Arbeiten zu bringen. Ein Blick auf ihre Uhr und sie hatte festgestellt, dass es schon auf Mitternacht zuging. Höchste Zeit ins College zurückzukehren.

Thea staunte, „Meine Güte, du erinnerst dich wirklich ziemlich genau an diese Geschichte. Ich schaffe das nur, wenn ich mein Tagebuch zur Hilfe nehme." Marie war selbst erstaunt, wie viele Einzelheiten ihr plötzlich wieder eingefallen waren. „Ja, ist schon erstaunlich. Vermutlich ist was dran, dass im Alter das Langzeitgedächtnis besser funktioniert als das Kurzzeitgedächtnis. Ich habe jetzt schon vergessen, was Robert gesagt hat, wann er wieder zurück sein wollte." „Geht mir nicht anders! Aber um noch mal auf deine ursprüngliche Idee zurück zu kommen." „Welche meinst du? Die Kinder zu vertreiben?" „Nein!", Thea lachte, „Ich meine die Idee mit dem ,hier mal raus müssen‘. Ich denke, das ist eine gute Idee und würde mir auch gefallen." „Und wo wollen wir hin?" „Na, nach Frankreich selbstverständlich. Lass uns doch mal sehen, ob wir die alten Bekanntschaften dort nicht ausgraben können. Aber auch wenn nicht, wäre es doch schön mal ein paar Tage in der Sonne zu sitzen und uns verwöhnen zu lassen. Was meinst du?" Marie war ein wenig unbehaglich zumute. Bisher waren es doch nur Spinnereien von ihr gewesen. Sie hatte nicht ernsthaft geplant die Vergangenheit aufleben zu lassen. Thea ließ jedoch nicht locker. „In zwei Monaten sind deine Mädchen weg und dann starten wir für ein, zwei Wochen in den Süden. Da gibt es gar keine Widerrede. Punkt! Und Robert nehmen wir mit, wenn er will, kann er auch seinen Freund Mike einladen. Dann muss er nicht allein mit uns alten Schachteln reisen. Ich lade euch alle ein." Mit dieser letzten Bemerkung wischte Thea jegliche Einwände Maries vom Tisch und stellte das Ganze als bereits beschlossene Tatsache dar. „Du bist unglaublich", Marie freute sich, obwohl sie immer noch Bedenken hatte, „wäre schon schön, Sonne und Meer!" „Gut, abgemacht! Und weißt du was, ich suche mal in meinen

Tagebüchern. Vielleicht finde ich ja noch die Adresse von diesem Claude. Du schreibst ein paar Zeilen, was du so machst und wie es dir jetzt geht und dann schicken wir das Ganze los und warten ab." „Meinst du wirklich der erinnert sich noch an mich?" „Da bin ich mir sehr sicher!" „Also gut! Ich mach‘s, auch wenn es völlig blödsinnig ist." „Wir schaden ja keinem. Und nun setz dich an deinen Schreibtisch und stoppel ein paar Worte zusammen. Ich schaue heute Abend vorbei und hol den Brief dann ab." Meine Güte, dachte Marie, nun hat Thea es aber eilig! Vermutlich hatte sie recht, wenn sie noch allzu lange darüber nachdachte, würde sie vermutlich der Mut verlassen. „Ist okay, dann bis später!" „Ja, bis später!", sie legten auf.

Ging ja einfacher als ich dachte, Thea legte den Telefonhörer zufrieden aus der Hand.

Am besten, ich mach es gleich, bevor mich der Mut wieder verlässt. Marie setzte sich tatsächlich an den Schreibtisch und legte ein weißes, leeres Blatt Papier vor sich auf die Holzplatte. Ihr Blick ging ins Leere und als wäre es gestern gewesen, fielen Marie immer mehr Einzelheiten jener ersten Begegnung ein.

Sie machte damals einen Schritt auf ihn zu, wie ferngesteuert. Ihre Arme hingen schlaff neben ihrem Körper, sie hatte gar keine andere Möglichkeit gehabt.

Sie hatte registriert, dass er sich keinen Zentimeter bewegte, noch einen weiteren Schritt und sie hätte direkt vor ihm gestanden. Ihre Augen blickten auf seine Brust, langsam hatte sie den Kopf gehoben, ihm direkt in die Augen gesehen. Schwarze Augen, grüne Augen es schien ihr, als wechselten sie unentwegt die Farbe. Starr unbeweglich standen sie dort, völlig gebannt vom Blick des anderen. Eine Ewigkeit.

Nur noch einen Schritt, einen winzigen Schritt. Er hatte sich nicht gerührt. Sie hatte keine Wahl gehabt, sie konnte doch gar nicht anders, ihre Füße bewegten sich damals wie von selbst um diesen einen kleinen, fehlenden Schritt zu tun. Er hatte immer noch völlig still gestanden. Sie hatte sich gefragt, ob er überhaupt noch atmete. Sein Atem ging flach, kaum hörbar. Dann hatte er plötzlich tief eingeatmet und langsam, ganz langsam seinen Kopf gesenkt, sein Mund war über ihren Haaransatz geglitten, hatte ganz sacht ihre Stirn berührt und dort verharrt. Sie hatte den Atem angehalten und er schwerer geatmet und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er mit sich kämpfte, der leichte Druck auf ihre Stirn hatte nachgelassen. Er hatte seine Lippen gelöst und seinen Kopf ein weiteres kleines, minimales Stück gesenkt. Mit seiner Stirn hatte er die ihre berührt und mit seiner Nase vorsichtig über ihre Nasenwurzel gestrichen, bis sein Mund nur noch Millimeter von ihrem entfernt gewesen war. Ein letzter tiefer Atemzug, er hatte die Arme gehoben, mit seiner rechten Hand ihre Taille umfasst und als er sie an sich zog, mit seiner linken in ihren Nacken gegriffen.

Sie hatte geglaubt sich einfach in Luft, in Nichts aufzulösen. Doch in diesem Moment hatten Richard und Thea nach ihnen gerufen.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung hatte er sie sofort freigegeben, seine Arme sinken lassen, sich umgedreht und war, zuerst langsam, dann immer schneller auf die Stimmen zugegangen, die ihre Namen gerufen hatten.

Ohne ein weiteres Wort hatte er sich auf dem Absatz umgedreht und war schnell, fast rannte er schon, über die Strandstraße hinein in das Gewirr der kleinen Straßen gegenüber gelaufen.

Marie hatte noch immer dort gestanden, wo er sie verlassen hatte.

Er war gegangen, hatte sie einfach so stehenlassen. Sie hatte es ja geahnt, niemand wollte etwas mit einem Mädchen zu tun haben, das so leicht rumzukriegen war. Zu leichte Beute. Der Zauber war fort gewesen und mit jeder Sekunde die verstrich, war sie wütender und wütender geworden. Das war gut, denn mit der Wut war auch ihre Energie zurückgekehrt. Sie hatte sich wieder bewegen können.

Thea hatte neben ihr gestanden und sie besorgt gemustert.

„Marie, geht es dir gut? Meine Güte, du bist ja vollkommen bleich, ist dir schwindelig? Willst du dich setzen?"

„Grmmmpf" Marie hatte versucht ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen, sich geräuspert und gemerkt wie ihr die Tränen in die Augen schossen, aus Wut aus Trauer? Sie war sich nicht sicher gewesen, auf keinen Fall aber hatte sie weinen wollen. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, noch hatte Richard oben auf der Promenade gestanden und abwechselnd zu ihnen und zur anderen Straßenseite geblickt, wo Claude verschwunden war. Die ganze Situation schien auch ihm völlig rätselhaft gewesen zu sein.

Sie war die paar Meter zum Meer zurückgelaufen, hatte ihre Schuhe in die Hand genommen und war zur Promenade hinauf gestapft. Sie hatte nur noch weg gewollt.

Aloronice

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