Читать книгу Aloronice - Judith Weber - Страница 7
Lehrjahre
ОглавлениеNoch immer saß Claude gänzlich unbewegt, die Beine angezogen, seine Arme fest darum gelegt und starrte ins Leere. Ein paar Sekunden vergingen, als er plötzlich auflachte und sagte „ gute Story, einen Moment lang habe ich sie euch sogar geglaubt, wirklich eine gute Story!"
Richard ging aus dem Zimmer und kam wenig später mit einem länglichen Paket zurück.
„Alles Gute zum Geburtstag alter Freund!", sagte er und überreichte ihm sein Geschenk.
Es war ein Schwert, wunderschön gearbeitet, mit einer kleinen silbernen Platte auf dem Griff, sie war leer und glänzend.
„Dort wird dein Wappen, dein Tier eingeprägt werden, wenn es soweit ist.", Richard sprach, als ob das alles völlig normal für ihn wäre. Das Geschenk seines Großvaters war ebenso prächtig, es war ein Schild, der perfekt zum Schwert passte und eine ebenso glänzende, leere Stelle aufwies.
Er war fassungslos, das konnte doch alles nur ein Witz sein? Gleich würden die beiden aufstehen und über sein dummes Gesicht lachen, aber sie blieben ernst.
„Komm", sagte Laurent, „es wird Zeit, dir deine neue, deine wirkliche Heimat anzusehen! Und nimm deine Geburtstagsgeschenke mit, wir haben sie auf diesem Weg hierhergebracht und so werden sie auch wieder zurück gelangen." Und dann hatten sie ihm diese neue Welt gezeigt, das Land Aloronice.
Es war gar nicht so schwer dorthin zu kommen, wenn man den Weg kannte, das Tor kannte.
Hinten im Garten gab es eine kleine Laube, darin befand sich nicht viel, außer ein paar Gartengeräten wie Harke, Spaten, ein paar leeren Plastikblumentöpfen. Wenn man den alten Stofffetzen am hinteren Ende des Raumes wegzog, stieß man auf eine kleine Tür, die, da sie sehr niedrig, auch sehr unauffällig war. Ging man durch diese Tür, betrat man einen langen Gang, einem Stollen nicht unähnlich, der einen dann nach etwa fünf Minuten Fußweg aus einer Höhle heraus in ein kleines Tal führte.
Der Ausblick von der Anhöhe, direkt vorm Eingang zur Höhle, war atemberaubend. Als Claude ihn zum ersten Mal sah, war er vollkommen überwältigt von dem Überfluss an Farben in Aloronice. In der Senke schlängelte sich ein Fluss strahlend blau durch eine üppige Vegetation, einem Regenwald nicht unähnlich. Der Himmel über ihm war von einem ebenso strahlenden Blau. Während die Blüten an den Berghängen zahlreiche Farbtupfer in Gelb und Rot als Kontrapunkte setzten, war am südlichen Ende des Tals eine Stadt in hellstem Weiß zu erkennen. Die Burg Irion, etwas oberhalb der Stadt, rundete das Gesamtbild ab.
Dies war also nun seine neue Heimat. Hier sollte er die nächsten Monate oder Jahre damit verbringen, all das zu erlernen, was ein Prinz von Aloronice können und wissen musste.
Es waren dann letztendlich die gesamten letzten drei Jahre gewesen, in denen er lernen musste, die alten Schriftzeichen zu lesen, zu reiten, mit dem Schwert und anderen Waffen zu kämpfen und, was er besonders nervtötend fand, die Hofetikette zu verinnerlichen. Langweilige Tanzschritte, höflichste Konversation und alle Sprachen des Landes standen auf seinem Stundenplan. Er musste lernen, sich angemessen mit den Vertretern des Rates auszutauschen, lernte politische Winkelzüge, wer mit wem konnte und wer nicht und er lernte schnell.
Richard war die ganze Zeit an seiner Seite geblieben. Auch er war in den strengen Stundenplan mit eingebunden, fast alles übten und probierten sie gemeinsam. Lediglich in Claudes Politikstunden trennten sich ihre Wege. Richard musste in dieser Zeit lernen, wie man Waffen säubert, aus nichts ein Lagerfeuer macht und auch ein wenig Kochen stand für ihn auf dem Stundenplan.
Ihre liebste gemeinsame Stunde war jedoch das Wandeltraining. Sie hatten gelernt durch bestimmte Gedankenmuster ihren Körper vom Geist zu lösen und sich in ihre Tierkörper umzuwandeln.
Als es das erste Mal klappte, war Claude sehr erschrocken, wie normal und richtig es sich anfühlte, dass er einen Tierkörper besaß. Sein Großvater war bei dieser ersten Verwandlung dabei gewesen, der ganze Rat war anwesend. Es war von elementarer Bedeutung welches Tier sich bei seiner ersten Wandlung in ihm manifestieren würde. Sollte es kein Raubtier sein, dann wäre die Rechtmäßigkeit seiner Thronfolge in Frage gestellt und der Rat müsste sich ernsthafte Gedanken um einen möglichen anderen Nachfolger von Laurent machen.
Claude war extrem angespannt. Richard stand neben ihm und schnaufte vernehmlich.
„Gedanken aus, Gefühle raus", Richard murmelte alle Anweisungen seines Wandlungslehrers immer wieder vor sich hin. Er war zuerst dran, so war es üblich, der Gefährte musste seine Wandlung unmittelbar vor dem Thronfolger vollziehen.
„Ich wär lieber vor dir dran", Claude flüsterte, „das Warten macht mich ganz wahnsinnig!"
„Bitte, gerne nach dir", Richards Stimme bekam durch das leichte Knurren, was er zur Einstimmung auf die Umwandlung unentwegt praktizierte, einen merkwürdig weggetretenen Klang.
„Nichts lieber als das", grinste Claude, „aber ich darf ja nicht und außerdem", sein Grinsen wurde immer breiter, „muss ich doch sehen, wie du dich zum Affen machst!"
„Pfff! Das würde dir so passen!"
In den letzten Wochen war diese Bemerkung eine Art Running Gag zwischen ihnen geworden. Sie überlegten beide, in welches Tier sich der jeweils andere wohl verwandeln würde und waren äußerst gespannt auf das tatsächliche Ergebnis.
Der Rat hatte sich vollständig versammelt und bildete einen Kreis um die beiden jungen Männer.
„So werden wir jetzt die Wandlung des Gefährten erwarten. Er trete vor." Richard trat vor und verbeugte sich, so wie er es gelernt hatte, vor den Vertretern aller Stämme, die anwesend waren.
„Er möge beginnen!", Laurent in seiner Robe stand inmitten der Ratsmitglieder, seine herausgehobene Position konnte man nur an der Andersfarbigkeit seines Umhanges erkennen.
Richard trat vor, sofort begann er sein Knurren zu verstärken. Er fiel in eine Art Trance und in dem Moment, wo Claude dachte, dass Richard gleich in Ohnmacht fallen würde, verdrehte dieser die Augen, fiel auf die Knie und rollte sich dann auf dem Boden zusammen. Seine Gliedmaßen streckten und zogen sich zusammen, in immer schnellerem Wechsel. Durch seine Haut sprossen immer mehr rote Haare, mit einem letzten Aufbäumen war die ursprüngliche Gestalt Richards verschwunden und in der Mitte des Kreises stand ein junger Fuchs. Schnüffelnd, leicht orientierungslos taumelte der Fuchs auf Laurent und die Mitglieder des Rates zu, drehte sich unmittelbar vor ihnen einmal um die eigene Achse und stakste dann mit unsicheren Schritten auf Claude zu, um sich direkt vor dessen Füßen zu Boden zu legen.
Jetzt war es an Claude.
„Nun werden wir also die Wandlung des Thronfolgers erwarten. Er möge beweisen, dass er in allem den Anforderungen der Wandlung entspricht und sein Blut das Blut der Herrschenden ist." Laurent hatte gesprochen und Claude trat in die Mitte des Kreises. Der Fuchs wollte folgen, aber Laurent hielt ihn mit einer Handbewegung auf seinem Platz zurück. „Später!", sagte er, „Der Prinz möge beginnen!"
Claude konzentrierte sich, ein tiefes Knurren kam aus seinem Innersten, es schien ihm als ob die Welt um ihn herum sich langsam auflöste, immer stärker wurde sein Knurren und er fühlte, wie sich seine Arme und Beine immer wieder zusammen krampften. Ihm wurde schwindelig, er musste sich hinlegen und glitt auf den Boden. Heftige Zuckungen rüttelten seinen ganzen Körper durcheinander und er stöhnte auf als seine Finger sich verkürzten, in seinem Kopf dröhnte es und als er schon glaubte den Verstand zu verlieren, bemerkte er, dass sich seine Wahrnehmung langsam wieder auf die Außenwelt umlenkte. Er konnte plötzlich weiter sehen als zuvor und er roch Dinge und Lebewesen, die noch weiter entfernt waren, als er gucken konnte. Er schaute hoch zu Laurent, mühsam erhob er sich und ging ihm entgegen. Schwarze Pfoten kamen in sein Blickfeld, waren das seine? Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er nur noch wenige Zentimeter vor Laurent stand. Hatte er die Prüfung bestanden? Wie sah er aus? Seine Pfoten erinnerten ihn deutlich an Raubtierfüße, aber an welche?
Laurents Gesichtszüge entspannten sich. Claude legte sich vor Laurent ab und der Fuchs war sofort an seiner Seite.
„Mitglieder des Rates", hob Laurent zu sprechen an „ ich stelle euch hiermit meinen legitimen
Nachfolger vor", er machte eine ausladende, alle Ratsmitglieder einschließende Armbewegung, „seht! Die Regentschaft des Wolfes wird eines Tages abgelöst werden durch Prinz Claude, durch die Regentschaft des schwarzen Panthers!"
Das alles passierte etwa nach der Hälfte seiner Lehrzeit, so dass ihm und auch Richard nun noch anderthalb Jahre blieben bis zum Abschluss ihrer Ausbildung.
In diesen anderthalb Jahren waren sie beide so vertraut mit ihrer Tiergestalt geworden, dass es ihnen fast leichter fiel als Fuchs und Panther durch die Gegend zu streifen, als in ihren Menschenkörpern zu agieren. Wie Laurent es vorausgesagt hatte, erwies es sich als äußert nützlich, dass sie beide die Menschenwelt in den ersten achtzehn Jahren ihres Lebens derartig verinnerlicht hatten.
Als besonders hilfreich erwiesen sich auch ihre häufigen Ausflüge zurück in die Menschenwelt, die jetzt im letzten Ausbildungsjahr sogar auf dem Stundenplan standen.
„Es ist wichtig", sagte Laurent, „dass ihr euch immer wieder dort oben umseht. Nutzt unser altes Haus als Basisstation und macht einfach das, was andere junge Männer in eurem Alter auch machen würden."
Anfangs noch zögerlich, genossen sie bald diese Ausflüge in ihr altes Leben zunehmend. Die alten Schulfreunde waren hoch erfreut sie wieder zu sehen und schnell waren alte Verbindungen neu geknüpft. Man hing am Strand ab, feierte Partys und immer wieder gab es auch das ein oder andere Abenteuer mit dem anderen Geschlecht. Sein altes Jugendzimmer erwies sich dabei als äußerst nützlich und so manchen Morgen kam Claude die Treppe nicht allein hinunter. Richard war allerdings auch kein Kind von Traurigkeit und nutzte das vorhandene Gästezimmer auch hin und wieder einmal.
Obwohl sie Laurent nie erzählt hatten, was sie in der Menschenwelt so trieben, war es Laurent, der Claude eines Tages zur Seite nahm und ihn dabei eindringlich ansah.
„Es ist gut", sagte er, „dass du Erfahrungen sammelst, es ist gut, dass du dich als Mann ausprobierst, aber pass auf, wenn es ernst wird. Wenn nicht nur dein Körper auf eine Frau reagiert, sondern dein ganzes Wesen in Aufruhr gerät. Dann musst du verflucht noch mal, aufpassen!"
Claude schaute ihn irritiert an, so heftig hatte er Laurent noch nie sprechen hören.
„Hör mir zu", fuhr er fort, „ ich werde dir jetzt den Rest deiner Geschichte, unserer Geschichte erzählen und ich möchte, dass du aufmerksam zuhörst!"
Laurent atmete tief durch und sprach mit tiefer Ernsthaftigkeit.
„Was du jetzt erlebst, gehört zum Erwachsenwerden dazu, jeder probiert sich aus und das gilt ganz besonders in Verbindung mit dem anderen
Geschlecht. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange es auf beiderseitigem Einverständnis beruht. Es ist auch völlig normal, wenn sich dabei ein Gefühl der Verbundenheit, der Verliebtheit einstellt."
Claude wurde zunehmend befangener, das war doch kein Thema das zwischen Großvater und Enkel besprochen werden sollte, aber ehe er etwas einwenden konnte, fuhr Laurent schon fort:
„ Wir, als Oberste der Stämme haben jedoch auch für den Fortbestand der Dynastie zu sorgen und dazu beizeiten einen Thronfolger zu zeugen. Wann das sein wird ist ungewiss, aber das es kommen muss steht außer Frage.
Ich zeugte deinen Vater vor etwa fünfzig Jahren. Ich war wie du, oben in der Außenwelt unterwegs, auch ich hatte so meine Abenteuer", ein leicht amüsiertes Grinsen huschte über Laurents Gesicht, als ob er sich noch recht gut an die vergangenen Zeiten erinnerte.
„Man hatte mir gesagt, dass ich es merken würde. Es merken würde, wenn die Eine, die Richtige käme, mit der ich einen Sohn haben würde. Man hatte mich auf die Mächtigkeit der Gefühle hingewiesen, die mit dieser Verbindung einhergehen würden und doch traf es mich unerwartet heftig als ich sie das erste Mal sah. Deine Großmutter war eine wunderschöne Frau. Ich sah sie zum ersten Mal in einem Cafe'. Wir verliebten uns auf der Stelle ineinander und machten die tollsten Zukunftspläne. Noch ahnte sie nichts von meiner wahren Identität, aber ich plante sie mitzunehmen hierher, sie zu meiner Königin zu machen wenn es soweit wäre. Ich hatte ja keine Ahnung!"
Laurent blickte müde und mit großem Schmerz auf Claude und fuhr leise fort, „ Wir heirateten in der Außenwelt, denn ich musste ja vor ihr und ihren Eltern den Schein waren. Ich war mir sicher, dass sie mir folgen würde, wenn wir erst verheiratet wären."
Er seufzte „ Sie wurde schwanger, mit deinem Vater, und der Rat der Stämme schien äußerst zufrieden mit mir. Ich war glücklich und ich war dumm und naiv. Der Rat verweigerte die Aufnahme von Louise in unser Land. Keine rein menschliche Frau sollte Aloronice betreten. Ich war verzweifelt, mein Vater, der Regent verstarb, noch während Louise unser gemeinsames Kind unter dem Herzen trug. Ich musste den Vorsitz des Rates sofort übernehmen, dazu musste ich mich aber in Aloronice aufhalten, gleichzeitig wollte ich bei Louise sein. Der Rat gewährte mir eine Gnadenfrist und ich durfte zwischen der Außenwelt und Aloronice hin und her pendeln. Dein Vater Jerome wurde geboren und ich musste mich entscheiden. Ich blieb in Aloronice, wie es unsere Bestimmung war und ist, seit Anbeginn. Ich sorgte dafür, dass mein Sohn einen Gefährten zur Seite bekam und einen weisen Begleiter, einen erfahrenen Metamorph. Er wohnte im selben Haus wie Louise und war der gute Onkel von nebenan. Dann verließ ich die beiden Menschen, die ich mehr als alles auf der Welt liebte und ging zurück zu meiner Pflicht. Ich habe Louise damit das Herz gebrochen, ich weiß es. Sicher fragst du dich, warum ich nicht weiter zwischen Aloronice und der Außenwelt gependelt bin, aber wir dürfen unsere Söhne in der Außenwelt nicht sehen. Sie sollen aufwachsen wie ganz normale Menschenkinder und was noch viel wichtiger ist, die Mütter dürfen auf gar keinen Fall von Aloronice erfahren, schon zu ihrem eigenen Schutz. Louise zog unseren Sohn auf, doch sie war zart und kränklich, kurze Zeit nach Jeromes fünfzehntem Geburtstag starb sie, ich hatte sie nicht mehr wiedergesehen. Dein Vater kam in die Obhut seiner Großeltern. Als seine Zeit gekommen war, erhielt er die gleiche Ausbildung wie du jetzt und ich war überglücklich ihn bei mir zu haben. Wenigstens ein Teil von Louise war mir geblieben."
Laurent griff zur Wasserkaraffe, die auf einem kleinen Tischchen vor ihm stand, goss sich ein Glas davon ein, nahm einen tiefen Schluck, schloss kurz die Augen und fuhr leise fort." Dein Vater war ein ebenso ungestümer junger Mann wie du heute, du siehst ihm übrigens recht ähnlich, nur deine Augen erinnern an deine Mutter. Deine Mutter, sie hieß Sarah, lernte dein
Vater auf einem seiner Streifzüge durch die Stadt kennen. Es war wie bei Louise und mir, Liebe auf den ersten Blick. Jerome und Sarah mussten nicht heiraten, die Zeiten hatten sich geändert. Bevor die Sache zu ernst wurde, habe ich mit Jerome gesprochen, so wie jetzt mit dir. Ich habe ihn auf die Notwendigkeit eines Thronfolgers hingewiesen, habe ihm aber auch die Bedingungen und die daraus folgenden Konsequenzen eindeutig geschildert. Ich hatte den Eindruck, er hatte mich verstanden und war bereit, die Konsequenzen ebenso zu tragen wie ich es einst getan hatte. Aber er war auch ein Kind von Louise und dass wohl mehr, als ich geglaubt hatte. Er brachte Sarah heimlich mit hierher, hier in die Burg, sie war schwanger, schwanger mit dir und Jerome bestand darauf, dass sie bei ihm bliebe. Die Zeit der Schwangerschaft waren sie überglücklich miteinander, ich brachte es nicht übers Herz die beiden zu trennen. Wir alle drei versuchten das drohende Unheil zu ignorieren, denn auch der Rat hielt ganz still und schien Sarahs Aufenthalt in Aloronice zu dulden. Es war noch nie eine rein menschliche Frau für eine derart lange Zeit in unserem Land gewesen. Sarah lebte unter uns wie unter Ihresgleichen. Es war abgesprochen, dass sie nach der Geburt das Land wieder verlassen sollte, schon damals gab es Tränke die sie Aloronice und ihren Aufenthalt hier hätten vergessen lassen. Dann kam der Tag der Geburt, deiner Geburt. Du hattest es sehr eilig und kamst zu früh auf diese Welt. Ich spürte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Die Schatten kamen näher, die Schatten sammelten sich um Sarah, ich konnte sie spüren, ich konnte sie sehen, aber es war zu spät. Die Zeit war zu knapp um sie zurück zu bringen, die Geburt stand unmittelbar bevor. Es war ein Tag der Freude, du wurdest geboren und Aloronice hatte seit ewigen Zeiten wieder einen Thronfolger, der im eigenen Land geboren war, du bist also in mehrfacher Hinsicht etwas besonderes, selbst hier in Aloronice. Es war aber auch ein Tag der Trauer, denn unmittelbar nachdem du geboren warst und somit das Einzige was Sarah körperlich mit uns verbunden hatte aus ihrem Körper entschwunden war, verlor sie die Fähigkeit in diesem Land am Leben zu bleiben. Kurz nach der Geburt verstarb sie, wir konnten sie nicht mehr rechtzeitig zurück bringen. Jerome stürzte in tiefste Verzweiflung. Als wir auch dich von ihm trennen mussten, verlor er zunehmend seinen Lebensmut. Ich versuchte ihn zu trösten, indem ich deine Erziehung übernahm, ich bin nicht dein Vater und konnte diese Regelung vor dem Rat durchsetzen. Jerome reichte dieser Trost jedoch nicht, er stürzte sich als Tiger in unsinnige und überaus gefährliche Kämpfe an der Grenze des Reiches. Er war zum Kamikaze geworden und eines Tages erreichte uns die Nachricht von seinem Tod, ich glaube er hat ihn gewollt."
Laurent unterbrach seine Erzählung und schaute Claude intensiv in die Augen. „Das musst du wissen, Claude! Du musst wissen: Wenn dir die Eine begegnet, dann wirst du sie haben können, aber nicht behalten. Genauso wenig wird sie dich behalten können! Das musst du wissen und - bedenken - !"
Die Erzählungen seines Großvaters gaben Claude eine Menge Stoff zum Nachdenken und nach einer längeren Pause sah er Laurent an und fragte: „ Du sprichst immer von DEM Erben, ist es denn noch nie passiert, dass eine Erbin geboren wurde?"
„Soweit ich zurückdenken kann nicht, es mag sein, dass unter der Regentschaft anderer Stämme eine Thronfolgerin geboren wurde, es spricht ja auch im Prinzip nichts dagegen, aber bisher hat sich in unserem Hause nur die männliche Linie durchgesetzt."
„Verzeih, „ Claude schien seine Gedanken weiterhin zu sortieren, „ aber ist das Ganze nicht ein wenig, wie soll ich sagen, an der Zeit vorbei? Ich meine heutzutage warten die Frauen doch nicht wirklich mehr auf den einen Prinzen, dem sie dann einen Erben gebären können, oder?" „Nein", seufzte Laurent, „das tun sie heutzutage wirklich nicht mehr. Darum ist es für dich ja auch besonders schwer mit dieser Bestimmung umzugehen. Und auch wieder nicht."
„Wieso nicht?", fragte Claude „ Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich ein Mädchen in meine Arme wirft und sagt: „Ich will ein Kind von dir! " Abgesehen davon, dass ich das auch reichlich bizarr fände!" er schüttelte sich ein wenig bei der Vorstellung.
Laurent musste lachen, „Nein, bei aller Achtung deiner Qualitäten, so leicht wird es dir wohl keine machen. Darum sagte ich ja auch, dass es für dich und deine Generation schwerer sein wird die Linie fortzuführen. Allerdings sind die Frauen heute so unabhängig, dass die Geburt eines Kindes ohne den passenden Vater an ihrer Seite nicht mehr zur Ächtung der Gesellschaft führt, das meinte ich mit leichter."
„Du meinst so wie bei dir und Louise?"
Laurent seufzte „Ja, das habe ich gemeint. Die Frauen früherer Generationen mussten sich die abenteuerlichsten Geschichten zum Verschwinden ihrer Männer ausdenken und das", sein Blick verklärte sich „obwohl sie nicht einmal wirklich wussten wo wir geblieben waren." „Hmmm", Claude dachte nach „ aber, wie leben wir dann weiter? Unser Sohn", er sprach dieses Wort sehr zögerlich aus, denn die Vorstellung, dass er irgendwann ein Kind haben sollte, machte ihm ein wenig Angst und Unbehagen, „ lebt doch getrennt von uns. Wie leben wir damit? Wie leben wir hier damit weiter? Bleiben wir danach allein? Oder finden wir hier in Aloronice eine Frau, mit der wir unser Leben teilen können? Vergessen wir die Mutter des Kindes? Zumindest nach einer Weile?", fügte er noch hinzu, da ihm die Geschichte seines Großvaters immer noch vor Augen stand.
Laurent sah seinen Enkel an, wie er so vor ihm saß, die Augen weit geöffnet und das Gesicht leicht erhitzt. Er wusste, der Schmerz ließ nach mit der Zeit, aber er verschwand nie völlig. Immer würde ein Rest der großen Liebe in einem zurück bleiben. Das war ihm so gegangen und auch seinem Sohn, nur sein Sohn hatte damit nicht leben wollen.
Er wollte Claude nicht unnötig ängstigen, darum stand er jetzt auf und sagte:" Doch Claude, wir vergessen und wenn es furchtbar schlimm wird, gibt es auch noch die Möglichkeit der Heiltränke, die es uns leichter machen."
„Heiltränke? Was für Heiltränke?", im Geiste ratterte Claude alle Bezeichnungen von Heiltränken durch, die er während seiner Ausbildung auswendig gelernt hatte.
„Lass es für heute gut sein", Laurent legte ihm seine Hand auf die Schulter, „es wird sich beizeiten schon finden. Noch hast du ja Zeit, noch hast du die Frau die du suchst gar nicht gefunden!"
„Ich suche nicht!". Claude sprang auf, „ich will nicht suchen und ich will dieses ganze Erbe-Theater auch nicht mitmachen!" Er war wütend, er war frustriert, welcher junge Mann wollte auch hören, dass sein Lebenszweck überwiegend darin bestand einen Sohn zu zeugen, das war doch absurd!
„ Es ist gut", Laurent drehte sich zu seinem Enkel um „ es ist gut! Du wirst nicht gezwungen etwas zu tun, was du nicht möchtest. Genieße dein Leben, noch bin ich da und kann dir die meiste Verantwortung abnehmen. Genieße dein Leben, aber vergiss nie, was ich dir eben erzählt habe. Sei dir deiner Verantwortung stets bewusst."
Es war gut, dass Claude den Ausdruck auf Laurents Gesicht nicht sah, als dieser den Raum verließ, dieses wissende Gesicht, welches Erwachsene gern machen, wenn sie den Ausführungen ihrer Kinder lauschen. Dieses wissende Gesicht, das zu sagen schien: „Warte nur ab! So war ich auch einmal, auch ich habe geträumt, aber auch du wirst merken, dass es anders kommt als du glaubst!"