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Automatische Texterzeugung – Der digitale Poet
ОглавлениеVorsorglich versichere ich, dass ich diesen Text selbst verfasst habe und er nicht, wie böse Zungen behaupten, von einer Horde Affen an Schreibmaschinen durch wildes Herumhämmern auf den Tasten per Zufall erzeugt wurde.
Pitter sitzt in der Küche am Tisch und malt. Der Vater kommt dazu und betrachtet die Zeichnung (wörtliche Rede in Klevisch-Weselisch, einer niederfränkischen Mundart):
“Wat sall dat gäwen, wenn et ferdig ös?”
“En Päärd, Vadder!”
“Maar dat hätt jo bloß drei Been! Wo ös denn datt verde?”
“Dat ös noch in den Inkpot, Vader!”
Pitter glaubt also, alles zu Zeichnende oder zu Schreibende befinde sich schon oder noch im Tintenfass. Die Vorstellung wirkt kindlich-naiv angesichts der schier unzähligen Vielfalt möglicher Zeichenspuren.
Doch wie verhält es sich bei den Buchstaben? Befinden sich alle Texte dieser Welt bereits in den Produktionskesseln des Herstellers von Buchstabensuppe, so dass man sie aus der Suppe herauslesen könnte? Man ist geneigt zu bestreiten, in einem Topf mit Buchstaben wären alle zu schreibenden Texte bereits enthalten. Wenn dem so wäre, dann müsste jeder Text auch auf mechanische Weise aus einem theoretisch unendlich großen Buchstabensuppentopf hervorzuholen sein, also ohne kreativen Impuls.
Cicero fand die Idee der mechanischen Texterzeugung noch so abwegig, dass er damit die Theorie von der Erschaffung der geordneten Welt aus Atomen zu widerlegen suchte:
„Derjenige, welcher Soartiges für möglich hält, müsste ebenso glauben, dass, wenn man unzählige Formen der 21 Buchstaben des Alphabets auf die Erde schütte, (…), die Annalen des Ennius daraus entstehen könnten.”
Spätestens in der Barockzeit dachte man anders darüber. So errechnet Leibniz die Anzahl der möglichen Kombinationen von 24 Buchstaben des Alphabets mit 620.448.401.733.239.439.360.000. Die Zahl weist die Summe aller Inhalte aus, die sich mit unserem Alphabet ausdrücken lassen.
Ließe man einen Computer die entsprechenden Permutationen durchführen, also eine einfache Buchstabenvertauschung vornehmen, müssten nicht nur die Annalen des Ennius dabei herauskommen, sondern auch dieser Text hier sowie alle anderen je geschriebenen Texte.
Auf der Idee der Permutation fußen auch Textgeneratorprogramme wie ein Liebesbriefgenerator aus dem Internet, der allerdings auf Satzebene arbeitet.
Schon 1974 erschien auf Deutsch der Science-Fiction-Horror-Taschencomputer von Gahan Wilson, eigentlich ein Flussdiagramm, mit dessen Hilfe man einen Film- oder Romanplot generieren konnte. Im Netz zu finden unter http://www.non-volio.de/pup/sf_horror_movie_pocket_computer.html
Die Idee des automatisierten Schreibens auf Satzebene taucht schon bei Jonathan Swift in Gullivers Reisen (1726) auf. Im Jahr 1789 nimmt Jean Paul Richter darauf Bezug und spottet:
So ist noch bis auf diesen Tag die Büchermaschine* in Europa unnachgemacht geblieben, deren Zusammensetzung Swift oder Gulliver allen Buchhändlern unfehlbar in der lieblosen Absicht so deutlich beschreibt, damit ähnliche europäische leichter darnach gezimmert und dadurch gutmeinenden Autoren, die sich bisher vom Büchermachen beköstigten und kleideten, ein jämmerlicher Garaus gespielet würde; denn die letztern haben sich auf nichts anders eingeschossen. Sonst ists freilich unleugbar, daß eine solche Maschine in Menge und ohne Honorar (der Kerl, der sie drehte, wäre fast mit nichts zufrieden) recht gute Sonntagspredigten, Monats-, Quartal-, Kinder- und berlinische Spaßschriften für den Druck ablassen müßte. (Jean Paul1)
* Gulliver sah in Lagado eine Maschine, die gewisse in ihr liegende beschriebene Zettel, wenn man sie umdrehte, so untereinander warf, daß jeder, dem man sie hernach vorlas, freılich nicht wissen konnte, ob er ein gewöhnliches Buch höre oder nicht.
Wie im ZDF-Format „neo royal“ im Frühjahr 2017 zu sehen, hat der TV-Satiriker Jan Böhmermann aus ähnlichen Textversatzzetteln von einer Horde Affen einen Schlagertext schreiben lassen, mit dem er später die Charts eroberte.
Wenn es also grundsätzlich möglich ist, alle Texte des Alphabets mechanisch zu erzeugen, was bedeutet das für unser Verhältnis zur Schrift, zum Schreiben und Lesen? Am Beispiel Liebesbriefgenerator zeigt sich, dass alle dort aufgeführten Wortwendungen sofort zu hohlen Phrasen werden, wenn man den Generator kennt. Es handelt sich hier um eine kuriose Randerscheinung, doch grundsätzlich nehmen die von Automaten erzeugten Texte zu. Sie machen einen Großteil der Briefpost aus, und auch hier ist Schriftsprache zur Phrase verkommen. Insgesamt strebt die Schriftsprache ihrer Banalisierung zu. Zudem werden immer mehr Texte verfasst, was bedeutet, dass sich Wortinhalte rascher abnutzen. Überspitzt formuliert: Das Erzeugen von Information strebt hin zur Sinnentleerung der Information. Der Altertumsforscher Werner Ekschmitt hat schon 1968 auf eine interessante Parallele hingewiesen. Er beschreibt die Bibliothek von Alexandria, die vor ihrer Zerstörung 400.000 Papyrusrollen enthalten haben soll. Für Ekschmitt ist das Anwachsen der Textproduktion ein Zeichen für untergehende Kulturen. Die Menschen untergehender Kulturen könnten die Wörter nicht mehr bei sich behalten.
Eine Bibliothek, in der alle überhaupt zu schreibenden Texte verwahrt werden, hat Jorge Luis Borges in seiner phantastischen Erzählung Die unendliche Bibliothek beschrieben. Darin befinden sich vor allem völlig sinnlose Texte, die sich durch Permutation ergeben würden. Sie sind natürlich in der Überzahl, so dass die Bibliothekswesen der Erzählung nur vom Hörensagen wissen, dass einer ihrer Vorfahren in den unzähligen Räumen der Bibliothek einmal auf einen sinnvollen Satz gestoßen sei.
Während die automatisierte Textverfassung in der öffentlichen Diskussion überwiegend ignoriert wurde, hat man das digitale Schreiben mittels Textverarbeitung in seinen Anfängen überschwänglich gelobt. Segensreich für die Überwindung von Schreibblockaden fand die Süddeutschen Zeitung (SZ) im Juni 1989 die digitale Textverarbeitung und fand digitales Schreiben kreativ, weil es nie „statisch“ sei. Weiter:
„Beim Durchkneten des Textes spüren Sie, wie er Schritt für Schritt dem nahekommt, was Sie sich 'eigentlich' gedacht haben. […] Sie als Autor fühlen sich nicht mehr gezwungen, alles im Kopf auszuformulieren, ehe Sie es zu Papier bringen. Ihre Gedanken zu einem Thema können sich allmählich beim Schreiben verfestigen.“
Das spielt an auf den Essay, „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ von Heinrich von Kleist (1805). Nähert sich digitales Schreiben tatsächlich derart der mündlichen Sprachverwendung an? Hier verwechselt der Autor der SZ etwas. Die Schriftsprache funktioniert so nicht. Es fehlt der Kommunikationspartner, ein Gegenüber. Gesprochene Sprache entsteht im situativen Beziehungsgeflecht der Kommunikationspartner. Geschriebene Sprache ist dazu nicht gemacht, erst recht nicht, wenn der Kommunikationspartner der Computer ist. Schreiben, wie die SZ hier darstellt, ist etwas ganz anderes als Schreiben im Sinne von Ideen fixieren, Aufzeichnungen machen, Texte reflektieren, Gedankenfolgen entwickeln. Mag sein, dass in der von der SZ gefeierten Weise gute Texte entstehen können. Doch ihnen fehlt die Langsamkeit. Das langsame Schreiben zwingt zum genauen Denken.
Im Jahr 1990 war der Presse zu entnehmen, der Semiotik-Professor und Erfolgsautor Umberto Eco halte den Computer für eine „spirituelle Maschine, weil er dem Geist beim Schreiben weniger materielle Hindernisse entgegensetzte. Man könne fast so schnell schreiben wie denken.
Oder etwa sogar schneller? Nachdem die AfD-Politikerin Beatrix von Storch im Februar 2016 bei Facebook befürwortet hatte, in Fällen illegaler Grenzüberschreitung auf Frauen und Kinder zu schießen, erntete sie einen Shitstorm. Tage später ruderte sie zurück und erklärte im Spiegel, sie sei lediglich auf ihrer Computermaus ausgerutscht.
Seit das digitale Schreiben die Verbindung zum Internet aufgenommen hat, erkennen wir seine Schattenseite. Frau von Storchs Mausrutscher und die vielen anderen Entgleisungen in Foren und vor allem im Mikroblogging bei Facebook, Twitter und dergleichen zeigen, dass es nicht wünschenswert ist, so schnell wie Denken zu schreiben.
Wie viel Törichtes denkt und sagt man so daher, ohne es gleich in die Welt zu lassen. Schreibblockaden und die Langsamkeit durch materielle Hindernisse hemmen die Verschriftlichung des Dummen und Banalen. Sie sind der Schließmuskel, der den Wortdurchfall hält und verhindert, dass Torheiten und Hasstiraden in die Welt gelangen, die Teile des Internets so unerfreulich machen. Früher entlarvte sich mancher Narr durch seine unbeholfene Handschrift und barbarische Orthographie. Heute kann er seine ungezügelt schießenden Gedanken ohne Aufwand in gefällige Druckbuchstaben kleiden und per Rechtschreibprüfung seine mangelnde Bildung kaschieren.
Texte im Internet, besonders in Foren oder Kommentarkästen sind in der Regel den mündlichen Äußerungen näher. Sie können in rascher Wechselseitigkeit entstehen.
Besonders der Faktor der Zeitnähe erlaubt keine geistige Distanzierung, kein Zurücklehnen zur Reflexion. Hinzu kommt eine gefühlsmäßige Beteiligung, eine innere Unruhe und Aufregung, die wir aus der gedruckten Schriftlichkeit nicht kennen, gegen die wir folglich nicht gewappnet sind.
Bei Diskussionen im Netz entsteht ein virtueller Stammtisch, auf dem Zettelbotschaften hin- und hergeschoben werden, die kaum einer noch richtig liest und versteht. Vor allem aber geht mit der anwachsenden Flut von Zetteln der Überblick verloren, weil es ermüdende Lesearbeit und strapazierende Erinnerung erfordern würde noch zu wissen, was bereits wie worüber gesagt wurde. So fallen bereits nach dreimaligem Hin und Her Sinn und Verstand unter den Tisch und werden ersetzt durch Emotionen. Da scheint sich zu bewahrheiten, was der Medienphilosoph Vilém Flusser schon 1990 angenommen hat, der Mensch müsse das alphabetische, lineare Denken aufgeben, wenn er sich im digitalen Zeitalter behaupten will.
Am virtuellen Stammtisch gibt es auch keine Autorität, vor allem nicht, wenn sich die Gesellschaft rein zufällig zusammenfindet. Es entsteht eine scheinbare Augenhöhe, die auch der Ungebildete selbstverständlich für sich beansprucht.
Wer sich im Dialog Aug in Aug über eine Äußerung ärgert, wird sein Gegenüber deshalb nicht beschimpfen. Da man sich aber im Internet maskiert begegnet auf einer Einkanalebene, die ihre anderen Kanäle allenfalls simuliert, können die Wogen hoch her gehen. Wer mir eine Beleidigung in Druckschrift entgegenschleudert, der aber tut es mit der weiter oben beschriebenen Macht. Da ist es fast ein Glück, dass diese Macht im Internet überstrapaziert wird und an allen Ecken und Enden bröckelt.
Diese negativen Erscheinungen treten primär in den Internetforen und im Mikroblogging auf. Andere Formen der Internetpublikation wie Weblog und E-Book sind noch stärker an den Maßstäben der Buchkultur orientiert. Hier zeigen sich die Vorzüge des neuen Mediums. Denen ist der folgende Abschnitt gewidmet.