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Kapitel 7
ОглавлениеYwen
Dezember 1308
Der Schnee türmte sich fast meterhoch im Hof des Anwesens. In diesem Jahr hatte es einen zeitigen Wintereinbruch gegeben und seit Tagen herrschten Minusgrade. Es würde ein schwerer Winter werden, denn ein kalter Sommer und ein verregneter Herbst hatten die Ernte schlecht ausfallen lassen und die Scheunen nur halb gefüllt.
Heske saß in der Halle des Gutshauses an ihrem Spinnrad vor dem Kamin und summte leise vor sich hin. Zu ihren Füßen spielte ihr jüngerer Bruder mit seinen hölzernen Rittern, die ihm der Großknecht Hannes an den langen Herbstabenden geschnitzt hatte. Sie sahen allesamt verdächtig wie Tempelritter aus. Zwei hohe Kerzenleuchter neben ihrem Sessel verbreiteten mit ihrem sanften Licht eine gewisse Behaglichkeit.
Als lautes Rufen und Gelächter im Hof zu hören waren, huschte ein Lächeln über Heskes Gesicht. Gleich würde die Tür aufgehen und ihr Bruder mit seinen Freunden hereingepoltert kommen.
Ihre Gedanken schweiften zurück. Rudger war vor einigen Tagen mit vier anderen Männern hier in Ywen erschienen, drei Rittern und einem jungen Mönch. Die Familie Ulrichs von Ywen hatte sich gerade um den Kamin versammelt, die Mägde und Knechte waren bereits auf ihre Lager im hinteren Teil der Halle gekrochen, als jemand so heftig unten an der Wehrmauer gegen das Tor schlug, dass sie selbst hier in der Halle es wahrgenommen hatten. Ulrich von Ywen war mit gezogenem Schwert hinausgeeilt, begleitet von seinen Waffenknechten, in der Annahme, dass Räuber das Anwesen überfallen wollten. Sein ältester Sohn Arnald, der sie alle hätte beschützen können, war seit Wochen nicht zu Hause. Er trieb sich mit Heinrich von Schellenbergs Erben Hencke herum. Wahrscheinlich waren sie irgendwo oben im Gebirge, wo der Schellenberger Spross eine Burg besitzen musste.
Als nach einer ganzen Weile keiner zurückkehrte, machten sich die Frauen Sorgen und schlichen sich leise zur Tür. Doch staunten sie nicht schlecht, als im Hof eine Gruppe Männer mit ihren Pferden stand, die von ihrem Vater aufs herzlichste begrüßt wurde. Scheu betrachtete Heske die Ankömmlinge, die allesamt von hohem Wuchs waren und deren Rösser größer zu sein schienen, als die, die im Stall ihres Vaters standen. Mit einem Schrei war Heskes Mutter Matilda auf die Ritter zugerannt und hatte den größten unter ihnen in ihre Arme gerissen. Der Mann ließ die stürmische Begrüßung ohne Gegenwehr über sich ergehen und küsste Matilda auf die Wangen. Dann fiel es Heske wie Schuppen von den Augen und sie erkannte ihren Bruder, den sie seit über fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Rudger stellte ihnen seine Begleiter vor, drei seiner Ritterbrüder und Bruder Anselm, einen Ordensmönch aus Wichmannsdorf.
Natürlich hatten sie hier auf Ywen von den Ereignissen gehört, die das Abendland erschütterten. Ihr Vater lag mit dem obersten Richter des Pleißenlandes, Heinrich von Schellenberg, in Korrespondenz. Dieser hielt ihn über die Begebenheiten im Reich auf dem Laufenden. Ulrich von Ywen hatte seine Familie beruhigt und ihnen erzählt, dass der deutsche König sich nicht an der Verfolgung der Templer beteiligen würde. Von der Belagerung der Burg Beyernaumburg und dem Kampf der Templer gegen den Erzbischof von Magdeburg hatte er ihnen nichts erzählt, wollte er Frau und Kinder nicht beunruhigen. Später, als ihr Bruder und seine Freunde in der Halle saßen, erfuhren sie allerdings ausführlich von den jüngsten Ereignissen. Heske dankte im Stillen Gott dafür, dass er ihren Bruder gerettet hatte. Ihre Mutter schien allerdings nicht gerade begeistert zu sein, vier weitere Esser über den Winter bringen zu müssen. Doch die Freude darüber, dass ihr Sohn am Leben war, ließ Matilda bald ihre Sorge vergessen.
Mit Schwung wurde die Tür aufgerissen und der Lärm holte Heske zurück in die Gegenwart. Rudger und drei seiner Freunde kamen unter großem Gelächter und sich gegenseitig spielerisch schubsend herein. Ihre Stiefel waren voller Schnee, der jetzt in der Wärme der Halle zu schmelzen begann und um ihre Füße große Pfützen bildete. Heske sah sie mit hochgezogenen Brauen streng an, wagte jedoch nicht, das Wort zu ergreifen. Noch immer hatte sie ein wenig Angst vor ihrem Bruder, der sie durch seine bloße Anwesenheit einschüchterte, so groß und stattlich wie er ihr erschien. Doch auch das Aussehen der anderen Männer trug nicht wesentlich dazu bei, sie zu beruhigen. Besonders der eine – wie hatte ihn ihr Bruder genannt? Endres, ja, so hieß er. Immer wieder sandte sie ihm verstohlene Blicke zu. Die düstere Ausstrahlung des Mannes ließ sie erschauern. Aber sie verspürte eine gewisse Faszination, wenn sie ihn heimlich beobachtete, und sie bemerkte, dass es kein Gefühl der Furcht war, was sie bei seinem Anblick durchfuhr. Er war groß gewachsen wie ihr Bruder. Doch war er im Gegensatz zu diesem eher schlank und geschmeidig. Gestern hatte sie beobachtet, wie er und Rudger sich, um in Form zu bleiben, einen Schwertkampf lieferten, und sie bewunderte das Spiel seiner Muskeln und die Eleganz, mit der er sich bewegte.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Endres das Mädchen. Ihm entging keineswegs, dass sie ihn mit Wohlwollen und Interesse betrachtete. Bereits am Abend ihrer Ankunft war ihm die große Schönheit von Rudgers Schwester ins Auge gefallen. Obwohl sie höher gewachsen war, als die meisten Frauen, war sie von graziler Statur. Ihr liebliches Gesicht zeigte einen sanftmütigen Ausdruck, und über ihre großen moosgrünen Augen legten sich lange dunkle Wimpern, wenn sie den Blick züchtig senkte. Endres wusste nicht, was ihm mehr gefiel, der Schwung ihrer zarten dunklen Brauen oder der ihres kirschroten Mundes. Ihr Haar, das sie offen trug, glich dem ihres Bruders, goldglänzend und gelockt fiel es ihr über den Rücken, nur lose von einem Band gehalten. Überhaupt war die Ähnlichkeit der Geschwister verblüffend. Endres Blick fiel auf Rudgers kleinen Bruder, der zu Füßen des Mädchens saß. Michel hatte im Gegensatz zu seinen beiden Geschwistern dunkles Haar, was er wohl von der Mutter geerbt haben musste. Doch auch er wirkte für seine zehn Jahre schon groß. Mit Sicherheit würde er seinem Vater eines Tages viel Ehre machen, und wer weiß, vielleicht kämpfte er ja an der Seite seines Bruders Rudger einst gegen die Feinde der Christenheit.
Endres schüttelte sich kurz, verwundert darüber, was für Hirngespinste ihm so durch den Kopf gingen. Da riss ihn die Stimme von Rudgers Vater aus seinen Gedanken. Ulrich war nach ihnen in die Halle gekommen, auch seine Kleidung von Schnee bedeckt, der seit Stunden unaufhörlich vom Himmel fiel.
„Wo ist eure Mutter?“, fragte er seine Kinder und riss sich den Umhang von den breiten Schultern. Da er keine Kappe getragen hatte, war auch sein Haar, das er relativ kurz geschnitten trug, nass geworden. Er warf seinen Kopf ruckartig nach vorn, dass die Tropfen umherflogen, und im Schein des Kerzenlichtes aufleuchteten.
Beim Klang von Ulrichs Stimme zuckte Heske zusammen. Auch sie hatte wieder ihren Träumereien nachgehangen, in denen Endres keine unerhebliche Rolle spielte. Erschrocken blickte sie ihren Vater an. „Sie ist mit Bruder Anselm in die Kirche gegangen“, beeilte sie sich, zu antworten.
Ulrich war kein harter Mann. Seine Frau und seine Kinder waren ihm wichtig, dennoch ließ er eine gewisse Strenge walten.
„Allein?“, fragte er erzürnt und seine dunkelgrünen Augen nahmen einen unheilvollen Glanz an. Heske nickte etwas ängstlich.
„Wie oft habe ich ihr schon gesagt, nach Einbruch der Dunkelheit den Hof nicht mehr zu verlassen“, polterte er los. „Erst kürzlich haben sie in Wiesa einen armen Wanderer niedergeschlagen und ausgeraubt, obwohl bei ihm wahrlich nicht viel zu holen war. Aber es sind unsichere Zeiten. Da treibt sich mancherlei Gesindel herum.“ Ulrich raufte sich verzweifelt die von grauen Strähnen durchzogenen Haare. Die Sorge um seine Frau stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Sie ist ja nicht allein gegangen“, wagte Heske einzuwenden.
„Als wäre der schmächtige Bursche ein Schutz für sie“, schnaubte Ulrich.
„Ich werde sie holen gehen“, meinte Rudger. „Doch unterschätzt den armen Anselm nicht, Vater. Er ist zäher, als er aussieht.“
Rudger schnappte sich seinen Mantel, den er kurz zuvor auf einen Stuhl gelegt hatte und ging zur Tür.
„Warte!“, rief Endres. „Ich begleite dich.“ Er musste kurz frische Luft schnappen, denn beim Anblick Heskes waren ihm heiße Gedanken gekommen. Es wäre besser, wenn er für eine Weile ihre Nähe mied.
Die Kirche von Ywen lag einige hundert Meter oberhalb des Anwesens auf einer kleinen Anhöhe. Das schlichte, hölzerne Gotteshaus war bereits vor fast einhundertfünfzig Jahren von den ersten Siedlern hier errichtet worden. Diese waren aus Franken gekommen und mit ihnen Tiderich von Ywen, ein fränkischer Ritter aus einem reichsfreien Adelsgeschlecht, das in der Nähe von Ansbach noch immer seinen Stammsitz hatte.
Der Herrensitz von Ywen war nie zu einer festen Burg ausgebaut worden. Obwohl ihn eine hohe Mauer umschloss, gab es nur eine steinerne Halle, der ein in Fachwerk ausgeführtes Obergeschoss aufgesetzt war. Mehrere Stall- und Wirtschaftsgebäude, eine Schmiede, ein Sudhaus und ein steinernes Backhaus, in dem auch die Küche untergebracht war, umgaben kreisförmig das Haupthaus. An der südlichen und der westlichen Seite des Anwesens verlief außerhalb der Mauern ein tiefer Wassergraben. Der Zugang zum Hof führte über eine Brücke aus dicken Holzbohlen. Doch hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, sie mit einer Vorrichtung zu versehen, um im Notfall diese nach oben ziehen zu können. Lediglich ein hohes eisenbeschlagenes Tor, in das eine kleine Tür eingelassen war, sicherte den Eingang. Ebenfalls südlich neben dem Gutshof gab es eine Mühle, der sich ein großer Teich anschloss. Dort wurden außer dem Korn der Bauern auch Knochen gemahlen, die man später zu Leim verkochte. Ein talabwärts fließendes Bächlein regulierte die Wasserstände von Graben und Teich. An der nördlichen Seite stießen schmale Felder bis fast an die Mauer des Gutes, deren Raine mit dichtem Buschwerk begrenzt waren. Noch weiter im Norden zogen sich die Reste des Urwaldes hin, der einst von Rudgers Vorfahren gerodet worden war. Ursprünglich lag das Dorf der fränkischen Siedler südöstlich des Hofes. Doch da sich die Gemeinschaft im Laufe der Jahrzehnte immer mehr vergrößert hatte, reihten sich jetzt auch links und rechts des Baches etliche Häuser das Tal hinunter.
Rudger und Endres hatten nach wenigen Minuten die Kirche erreicht, die auf einer leichten Anhöhe stand. Hier war alles still. Ein kleines, hölzernes Pfarrhaus schmiegte sich in die Ecke des Kirchhofes, hinter einer Mauer erstreckte sich der Gottesacker, der jetzt unter einer dicken weißen Schneedecke lag, aus der hier und dort ein schiefes, steinernes Kreuz hervorlugte.
„Mutter!“, rief Rudger mit lauter Stimme. Von einer alten Eibe, die mitten auf dem Hof vor der Kirche stand, rieselte der Schnee. Endres schrak leicht zusammen. Irgendwie war dieser Ort unheimlich.
„Mutter!“, rief sein Freund erneut. Die Tür der Pfarrershütte öffnete sich, und eine hochgewachsene Frau mittleren Alters erschien. Fragend blickte sie sich um. Dann entdeckte sie die beiden Freunde. Sie winkte ihnen kurz zu, nur um nochmals in der Hütte zu verschwinden. Rudger und Endres schauten sich verwundert an.
„Was will sie hier bloß?“, murmelte Rudger. „Lass uns hineingehen.“ Entschlossen ging er zur Behausung des Geistlichen. Nach kurzem Zögern folgte Endres ihm. Ohne anzuklopfen betraten sie den einzigen niedrigen Raum. Sie brauchten einen Moment, um etwas erkennen zu können. Nur ein einzelner Kienspan erleuchtete das Innere. Eine eiserne Feuerschale stand an der hinteren, dem Eingang gegenüberliegenden, Wand, und der Rauch des Feuers zog durch eine kleine Öffnung knapp unter der Decke ab. Der Qualm des nassen Holzes war jedoch so stark, dass er zwischen den groben Dachbalken dahinwaberte. Rudger musste husten.
„Pater Wito?“, fragte er. Der überraschte Gottesmann nickte zustimmend. „Gott zum Gruße, Pater. Wie haltet Ihr das hier bloß aus mit diesem Rauch? Ihr solltet Euch einen Herd mauern lassen mit einem richtigen Schornstein.“
„Nun mein Sohn, nichts lieber als das“, antwortete Wito ohne weitere Begrüßung. „Aber dazu fehlen mir die Mittel, bin ich hier ja wahrscheinlich auch nur vorübergehend, wie die meisten meiner Amtsbrüder.“ Er warf einen kurzen Seitenblick auf Matilda, welche schweigend neben dem Geistlichen stand. Rudger schien es, als hätten sie beide ein Geheimnis, dass sie jedoch nicht mit den anderen teilen wollten.
„Was willst du hier?“, fragte sie ihren Sohn mit etwas barscher Stimme, ohne auf Witos Rede einzugehen.
„Vater schickt uns“, antwortete der jungen Ritter. „Und er ist nicht gerade erfreut darüber, dass Ihr allein in der Dunkelheit den Gutshof verlassen habt, Mutter“, fügte er hinzu.
„Ich bin ja nicht allein gegangen. Immerhin hat mich Bruder Anselm begleitet“, verteidigte sich Matilda.
Rudger lächelte. „Genau das habe ich Vater auch gesagt. Er war jedoch der Meinung, dass unser lieber Anselm...“ Er hielt inne und zwinkerte seinem Freund zu.
„Was soll das heißen?“, ereiferte der junge Ordensmönch sich, der bis jetzt still neben Wito gestanden hatte. „Glaubt er, dass ich nicht in der Lage bin, einer hohen Frau Beistand zu leisten, wenn es von Nöten ist?“
„Nun, ich hätte schon auf dich aufgepasst“, hänselte Rudgers Mutter ihn. Doch das schelmische Lächeln in ihren Augen zeigte Anselm, dass sie es im Spaß meinte. Der junge Mönch mochte zwar von schmächtiger Statur sein, doch war er kein Schwächling, denn der tägliche Umgang mit häuslichem Gerät in Hof und Garten des Ordenshauses hatten seine Muskeln durchaus gestärkt. Und einen Stock wusste er trefflich zu schwingen, denn das hatte ihm Rudger beigebracht, so dass er einen Angreifer ohne weiteres in die Flucht schlagen könnte.
„Und was willst du hier, Anselm?“, fragte Rudger ernsthaft.
„Ich werde nicht in Ywen bleiben, Rudger“, begann der Mönch. „Warte.“ Beschwichtigend hob er die Hände, als der junge Ritter ihn mit einem fassungslosen Ausdruck auf dem Gesicht unterbrechen wollte.
„Ich habe es mir genau überlegt. Als ich mit unserem Ordensmeister Friedrich und den anderen Ritterbrüdern dort unten im Verlies des Erzbischofs saß, hatte ich mit Gott und der Welt bereits abgeschlossen. Unsere wundersame Rettung aber gab mir meinen Glauben zurück. Und so habe ich geschworen, mein Leben als Mönch weiterzuführen, in den Reihen des Deutschen Ordens. Ich wollte Pater Wito um Vermittlung bitten, dass er für mich einen Platz im Kloster in Zschillen aushandeln kann, da er selbst von dort hierhergekommen ist.“
Rudger blickte fragend zu Wito. Er wusste zwar, dass dieser eigentlich ein Augustinermönch war, jedoch nicht, dass er aus Zschillen kam „Ich habe Bruder Anselm das Angebot gemacht, mich für ihn zu verwenden“, sagte dieser.
Ihre Kirche in Ywen errichteten die Siedler einst selbst. Da die Bauern nicht ohne geistlichen Beistand sein wollten, baten sie ihren Grundherrn, sich an den Bischof von Meißen zu wenden. Dieser verfügte, dass Mönche aus dem Kloster Zschillen diesen Dienst mit versahen. Aber die Pfarrer von Ywen wechselten oft. Als Zschillen in den Besitz des Deutschen Ordens überging, spendete der den Bauern einen Schrein mit der Heiligen Ursula und fortan stand ihre Kirche unter dem Schutz dieser Märtyrerin, ohne ihr jemals geweiht worden zu sein.
„Ach. Und wann hast du beschlossen, aus Ywen wegzugehen? Oder besser, wann wolltest du es mir sagen?“, fragte Rudger und schaute Anselm herausfordernd an. Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. „Wir sind doch gerade erst hier angekommen.“
„Mein Entschluss stand bereits am ersten Abend fest, als ich gesehen habe, wie viele Mäuler hier zu stopfen sind und deiner Mutter die Sorge ins Gesicht geschrieben stand, wie sie die vielen neuen Esser satt kriegen soll.“
Rudger schaut nun erstaunt zu seiner Mutter. „Und da habt Ihr es nicht als notwendig erachtet, mit mir selbst zu sprechen? Denn letztendlich bin ich es gewesen, der alle hierhergebracht hat.“
„Rudger“, verteidigte sich Matilda. „Ich wollte dich nicht kränken mit meiner Sorge. Irgendwie werden wir es schon schaffen. Das Wichtigste für mich ist doch, dass du am Leben bist. Aber Anselm hat mich heute am frühen Morgen gefragt, ob ich jemanden wüsste, der ihn nach Zschillen bringen kann. Ich fragte ihn, warum? Doch er sagte nur, er möchte Mönch bleiben und in den Deutschherrenorden eintreten. Ich versprach ihm, mit Vater Wito zu sprechen, da dieser aus Zschillen zu uns gekommen ist. Doch habe ich jetzt erst Zeit gefunden und Anselm gleich mitgenommen.“
Resigniert ließ Rudger die Schultern nach unten sinken. Er nickte langsam mit dem Kopf. Er war traurig und fragte sich, warum Anselm ihm seinen Entschluss nicht selbst mitgeteilt hatte.
„Nun, wenn ihr alles besprochen habt, können wir uns ja jetzt auf den Rückweg machen. Es schneit immer heftiger, und auch wenn es nur ein kurzes Stück ist. Der Pfad führt am Mühlgraben vorbei und ich habe wahrlich keine Lust, in das eisige Wasser zu geraten, nur weil der Weg nicht mehr zu erkennen ist.“ Dann schaute er Anselm mit ausdruckslosem Gesicht an. „Wann willst du aufbrechen, Anselm?“, fragte er tonlos.
„Ich werde erst abwarten, wie die Antwort aus Zschillen ausfällt. Und jetzt im Winter, wo die Straßen schlecht passierbar sind, könnte das einige Zeit in Anspruch nehmen.“ Ein zaghaftes, entschuldigendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Dann ist ja alles gesagt“, meinte Rudger und wandte sich zum Gehen. „Kommt Ihr, Mutter“, bedeutete er, ohne sich umzuwenden. Ob Anselm ihm folgte oder hier bei Pater Wito blieb, war ihm im Moment herzlich egal.
Doch Anselm entschied sich, mit zum Gutshof zurückzugehen. Der Pater besaß noch weniger Vorräte als der Gutsherr selbst, denn er war von der Gnade der Bauern hier abhängig, die im Gegenzug für seine Seelsorge für seinen Unterhalt zu sorgen hatten.
Den Heimweg legten sie schweigend zurück. Es dauerte nur wenige Minuten und sie erreichten den Gutshof. Der Torwächter schloss ihnen die kleine Tür auf und wünschte ihnen eine gute Nacht. Er würde hier noch ein paar Stunden ausharren, bevor ein Kamerad kam, um ihn abzulösen. Die Zeiten waren im Moment relativ friedlich. Kriegshandlungen gab es hier schon seit langer Zeit nicht mehr und es war deshalb recht unwahrscheinlich, dass jemand das Anwesen überfallen würde. Doch auf Grund der Tatsache, dass es keine Zugbrücke gab, ließ Ulrich das Tor Tag und Nacht bewachen.
Vor der Tür nahmen sie ihre Umhänge ab und schüttelten sie aus. Sie würden sie über Nacht in der Halle zum Trocknen ausbreiten müssen.
Ulrich erwartete sie bereits und seine Miene drückte seinen Unmut darüber aus, dass Matilda nach dem Dunkelwerden den Hof verlassen hatte. Schon wollte er sie deshalb zur Rede stellen, da fiel ihm die starre Miene seines Sohnes auf. Verwundert schaute er ihn fragend an. Rudgers Freunde saßen zusammen mit den vier Waffenknechten von Ywen an der Tafel in der Nähe des Kamins. Um die Kälte aus der Halle fernzuhalten, hatte Ulrich zwei Holzkohlebecken im Raum aufstellen lassen. Der beißende Rauch zog sich in Schwaden an die Decke, wo er wabernd zum Stillstand kam. Rudger, der beileibe nicht verwöhnt war in der Wahl seiner Wohnstätten, tränten die Augen.
„Wollt Ihr uns alle umbringen, Vater?“, schnauzte er. „Der Dunst hier drin haut den stärksten Mann um.“
„Nun übertreibe mal nicht“, konterte Ulrich. „Sag mir lieber, was dich so verärgert, dass du ein Gesicht machst, als wäre der Satan hinter uns her.“
„Vielleicht ist der Antichrist ja wirklich unter uns“, antwortete Rudger bissig und schaute in Anselms Richtung.
„Jetzt überspannst du aber den Bogen“, sagte Endres, der bislang noch kein Wort gesagt hatte, tadelnd. Ihm erschien der Entschluss Anselms ja auch etwas überstürzt. Aber der Junge war kein Krieger. Was sollte er auch anderes tun, als wieder in ein Kloster zu gehen? Und eigentlich war sein uneigennütziger Entschluss, der Familie Ulrichs nicht weiter zur Last zu fallen, doch recht lobenswert. Nun ja, Rudger war halt etwas empfindlich, weil ihn Anselm nicht vorher um seine Meinung gefragt hatte. Aber das rechtfertigte nicht seine schlechte Laune. „Du tust unserem jungen Bruder mit solcherlei Gerede zutiefst unrecht.“ Damit ließ er seinen Freund einfach stehen.
„Du versündigst dich, Rudger“, mahnte ihn auch seine Mutter. „Was ist nur in dich gefahren?“ Nachdenklich ließ sie ihren Blick auf ihrem Sohn ruhen. Rudger schaute trotzig wie ein Knabe zu Boden. „Komm Anselm“, fuhr sie an den Mönch gewandt fort. „Setz dich zu uns ans Feuer. Gerlis wird uns einen gewürzten Wein bringen, damit wir uns aufwärmen können. Es war recht kalt draußen.“ Sie winkte der Magd zu, die mit einer Handarbeit am Ende des Tisches saß.
Matilda war eine gütige Herrin. Und auch Ulrich behandelte seine Knechte und Waffenträger gut und gerecht. Die Menschen dankten es ihnen und erledigten bereitwillig ihre Arbeiten. Ywen war kein reiches Gut. Die Erträge auf den kargen, schieferdurchwachsenen Böden waren gering. Die freien Bauern, die die Felder in Erbpacht bearbeiteten, lieferten den zehnten Teil ihrer Ernte an den Gutsherrn ab, der ihnen im Gegenzug dazu Schutz und im Kriegsfall Unterschlupf gewährte. Aber es war oft nicht genug und auch die Familie des Lehnsherrn musste hin und wieder den Gürtel enger schnallen.
Missmutig ließ sich Rudger auf einem Schemel in der Nähe des Feuers nieder und starrte in die Flammen. Er wusste selbst, dass er Anselm unrecht getan hatte. Doch kam er sich hier wie ein Bittsteller vor, der anderen auf der Tasche lag. Vielleicht hatte der Mönch ja recht. Der Gedanke, es ihm gleich zu tun und nach Zschillen zu gehen, um dem Deutschherrenorden beizutreten, gefiel ihm zusehends. Er würde sich wohl bei seinem jungen Freund entschuldigen müssen.
Nach einer Weile gesellte sich Valten zu ihm. “Glaub mir, mein Freund. Auch mir legt sich das alles hier aufs Gemüt“, begann er. „Ich vermisse unser Training im Kreis der Brüder, einen ordentlichen Schlagabtausch, und immer die Bereitschaft dazu, zu einem richtigen Kampf gegen die Ungläubigen geholt zu werden. Ja, Rudger. All das vermisse ich.“ Er sah seinen Freund eindringlich an. „Aber beschimpfe ich deshalb meine Freunde?“, fragte er. Seine Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. „Anselm ist mir meistens auf die Nerven gegangen. Aber dir ist er ein echter Freund. Das hat er nicht verdient. Du bist nur sauer, dass er selbst mal eine Entscheidung getroffen hat, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Denk mal drüber nach.“ Valten erhob sich. Er ließ seine Hand schwer auf Rudgers Schulter sinken und drückte kurz zu. Dann ging er zurück zu den anderen, zu denen sich auch der junge Mönch gesellt hatte.
Rudger verspürte einen Knoten im Magen, Übelkeit stieg in ihm auf. Er atmete tief durch. Was hatte er nur angerichtet? Wieso verhielt er sich so? Keiner dieser Menschen hier war ihm jemals unfreundlich gegenübergetreten. Aber die Tatsache, untätig herumsitzen zu müssen, machte ihn ungeduldig. Nach einer Weile erhob er sich von seinem Schemel und ging langsam auf die Gruppe seiner Freunde zu. Vor Anselm blieb er stehen. „Was kann ich tun, damit du mir vergibst?“, fragte er mit etwas heiserer Stimme.
Der Mönch erhob sich sichtlich gerührt. Er wollte alles – nur nicht mit seinem besten Freund im Streit liegen. Dennoch, Rudger hatte ihm sehr unrecht getan. Auch wenn er selbst zugeben musste, dass seine Geheimniskrämerei dem Freund gegenüber eine Kränkung gewesen war.
„Wir haben wohl beide nicht unseren besten Tag gehabt, Rudger“, sagte er mit Bedauern in der Stimme. „Ich hätte es dir sagen sollen, dass ich nach Zschillen will. Deine Mutter wusste es. Aber irgendwie hatte ich Angst, dass du mich nicht weggehen lassen würdest.“
„Und was sagst du dazu, wenn wir zusammen hingehen?“, meinte Rudger unvermittelt. Anselm schaute überrascht auf.
„Wann hast du dir das ausgedacht?“, fragten Endres und Valten zugleich. Jorge starrte seinen Freund nur wortlos an.
„Nein, Freunde“, verteidigte sich Rudger. „Ich habe nichts vor euch verheimlicht.“ Ein kurzer Seitenblick auf Anselm ließ diesen schuldbewusst nach unten zu Boden schauen. „Der Gedanke kam mir gerade eben. Vielleicht hat Anselm recht. Wir haben hier nichts zu tun, sind nur unnötige Esser. Mein Vater braucht uns eigentlich nicht. Was spricht denn dagegen, in den Deutschen Orden einzutreten? Den Templerorden wird es nicht mehr lange geben, seien wir doch mal ehrlich. Ich glaube nicht mehr daran.“
„Vielleicht“, meinte Valten. „Aber irgendwie gefällt es mir auch, kein Ordensritter zu sein.“ Er grinste etwas verlegen. „Klar, ein Erbe habe ich nicht zu erwarten. Aber es gibt immer irgendwelche Herren, die fähige Kämpfer brauchen. Ich glaube, da stehen meine Chancen gar nicht so schlecht.“
Endres und Jorge nickten zustimmend. Denn in ihrem Innersten hatten auch sie mit dem Ordensleben abgeschlossen.
„Du ebenfalls, Jorge?“, fragte Rudger erstaunt. „Es war doch dein ganzer Lebensinhalt, ein Ritter Christi zu sein.“
„Das dachte ich auch, Rudger. „Ich bin mir noch nicht sicher, was ich tun werde und wohin ich gehe. Wer weiß, was das Schicksal bestimmt.“
„Endres?“ Rudger schaute seinen Freund eindringlich an. Endres zuckte nur mit den Schultern. Dann schweifte sein Blick heimlich zu Heske, die mit ihrer Mutter vorm Kamin saß. Rudger war das Interesse, das sein Freund an seiner Schwester zeigte, nicht entgangen, und ihn beschlich das Gefühl, zu wissen, warum Endres sich nicht durchringen konnte, mit ihnen wegzugehen.
„Nun gut, wir müssen das ja nicht heute Abend klären. Aber ich denke, mein Entschluss steht fest. Ich werde mit Anselm nach Zschillen gehen.“
Ulrich, der zu den jungen Rittern getreten war, schaute seinen Sohn nachdenklich an. „Bist du sicher, dass du das wirklich willst. Oder ist es nur eine Trotzreaktion auf alles, was vorgefallen ist?“
Rudger schüttelte den Kopf. „Nein Vater, ich bin mir meiner Sache eigentlich sehr sicher. Es müsste schon etwas sehr Unvorhergesehenes passieren, um mich von meinem Entschluss abzubringen.“ Er lächelte kurz. „Aber hier in Ywen ... Nichts für ungut, Vater, aber was soll sich hier schon groß ereignen. Eines Tages wird Arnald den Hof übernehmen. Wenn er sich überhaupt dafür interessiert. Im Moment scheint ihm das Lotterleben mit Heinrich von Schellenberg mehr zuzusagen, als dir hier zur Hand zu gehen.“ Rudger verzog schmerzlich das Gesicht. „Doch du hast auch noch Michel. Der wird schneller erwachsen werden, als du denkst.“
„Siehst du, Rudger“, antwortete sein Vater, und tiefe Traurigkeit zeigte sich auf seinem Gesicht. „Deinem älteren Bruder ist es doch eigentlich egal, was aus uns hier wird. Sonst wäre er hier und würde sich um das Wohl der Menschen in Ywen sorgen.“
Verzweifelt starrte Rudger Ulrich an, doch dieser wusste, dass der Unmut seines Sohnes nicht ihm, sondern dem älteren Bruder galt.
„Und deshalb soll ich hierbleiben Vater?“, fragte er ungläubig. „Das geht nicht. Arnald ist dein Erbe, für mich ist hier kein Platz. Ich habe schon vor langer Zeit meine Bestimmung gefunden, als ihr mich zur Ausbildung nach Frankenhausen gegeben habt. Ich war noch ein Knabe, fernab der Heimat. Glaubt mir, Vater, damals fühlte ich mich von meiner Familie verraten.“ Rudgers Vater öffnete den Mund, um Einspruch zu erheben. „Nein, lasst mich ausreden, Vater. Heute sehe ich das anders. Ihr selbst seid niemals von hier weggegangen. Großvater hat Euch nie irgendwo in der Fremde zum Ritter ausbilden lassen. Ich verstehe es, dass Euer ganzer Stolz darin liegt, einen Templer als Sohn zu haben. Auch wenn Ihr das Schwert trefflich zu handhaben wisst“, setzte er versöhnlich lächelnd hinzu. „Und nachdem für mich gesorgt war“ fuhr er fort, „habt Ihr Arnald nach Schellenberg zu Heinrich geschickt, damit er wenigstens die Knappenausbildung erhält, die Euch versagt blieb. Nur Heinrichs Vermittlung hat er es zu verdanken, dass Markgraf Friedrich ihn zum Ritter geschlagen hat. Es gab keine Schlacht, kein Gefecht, wo er sich besonders auszeichnen konnte.“ Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Das wurmt ihn mächtig, und deshalb treibt er sich mit Hencke und seinen Spießgesellen herum. Der Schellenberger ist sein Vorbild, der ist wild und verwegen, alles das, was Arnald nie sein wird. Nur, dass er sich da mit Sicherheit den falschen ausgesucht hat, dem er nacheifern sollte.“
Ulrich nickte zustimmend, doch konnte er seine tiefe Enttäuschung über den ältesten Sohn nicht verbergen.
„Ihr habt noch Michel, Vater“, wiederholte er. „Vielleicht ist mein kleiner Bruder der rechte Erbe.“
„Die Zeit wird es weisen“, sagte Ulrich nur. „Doch komm, Rudger, lass uns zu den anderen gehen. In wenigen Tagen ist Weihnachten. Wollen wir mit deiner Mutter besprechen, was sie für wichtige Aufgaben für uns hat.“
Rudgers Freunde hatten die beiden in ihrem Zwiegespräch alleingelassen und sich bereits mit den anderen um den Tisch versammelt. In der Mitte standen Schüsseln mit dickem Hirsebrei und gekochten Äpfeln und eine Platte mit geröstetem Fleisch.
„Dafür, dass uns ein harter Winter bevorsteht, habt Ihr aber ganz schön aufgetafelt, Mutter“, meint Rudger mehr im Scherz und ließ seinen Blick über den Tisch schweifen.
„Iss, mein Sohn, solange du noch Gelegenheit dazu hast. Wer weiß, was uns die nächsten Monate bringen.“ Damit widmete sie sich ihrem Mal. Doch entging Rudger nicht der besorgte Ausdruck in ihren Augen.