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Kapitel 8

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Ywen

6. Januar 1309

Die Sonne sandte ihre Strahlen von einem wolkenlosen Himmel und tauchte die schneebedeckte Landschaft in ein Meer von glitzernden Juwelen.

Rudgers Pferd schnaubte leise. Der brave Norvid hatte seinen Herrn schon durch so manches Schlachtgetümmel getragen und zählte jetzt über sechzehn Jahre. Auf seine alten Tage war der schwarze, feurige Hengst jedoch ruhiger und bedächtiger geworden. Ross und Reiter bildeten eine regelrechte Einheit, und mit Wohlwollen betrachtete Heske ihren stolzen Bruder.

Hoch aufgerichtet saß Rudger im Sattel. Sein Blick schien in die Ferne auf die Gebirgszüge des Dunkelwaldes, der von den Einheimischen Erzgebirge genannt wurde, gerichtet. Um die Schultern hatte er seinen dunklen, wollenen Mantel gelegt, der ihm bis zu den Waden reichte. Seine Füße steckten in kurzen ledernen Stiefeln, die mit breiten Riemen bis zu den Knien hoch geschnürt waren. Auf seinem Kopf saß ein keckes Barett, unter dem seine dunkelblonden Locken hervorquollen. Doch jeglicher Anflug von Weichheit verflüchtigte sich beim Anblick seines Gesichtes. Seine schön geschnittenen Züge, deren Makellosigkeit von einer kleinen Narbe auf seiner Wange durchbrochen wurde, zeigten Härte, und der Blick seiner moosgrünen Augen war herausfordernd und unnachgiebig. Ihn umgab eine trügerische Unnahbarkeit, die Fremde zunächst auf Distanz zu ihm gehen ließ. Dass er in seinem Inneren eigentlich ein netter Kerl war, wussten sie ja nicht. Sein Leben auf den Schlachtfeldern der Christenheit hatte ihn unbeugsam werden lassen. Und wenn er, wie jetzt, tief in Gedanken versunken war, kam diese Seite seines Ichs zum Vorschein.

„Rudger?“ Anselm hatte seinen Freund schon eine ganze Weile beobachtet. Er wechselte mit Heske einen kurzen Blick. Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich auch nicht erklären, was ihren Bruder so abwesend wirken ließ.

Das Verhältnis zwischen Rudger und Anselm war zwar immer noch etwas angespannt. Aber der junge Mönch hatte seinem Freund schon längst verziehen. Denn waren sie nicht alle enttäuscht von den Ereignissen der letzten Monate? Der Papst hatte sich nun endgültig auf die Seite Philipps von Frankreich gestellt, und auch der deutsche König schien nicht mehr abgeneigt, die Templer zu verfolgen oder zumindest die Kirche nicht daran zu hindern. Auch, wenn der Kirchenbann gegen Burchard noch Bestand hatte, so hielt sich keiner daran, den Erzbischof zu meiden. Einzig Albrecht von Anhalt, der Halberstädter Bischof, stand noch zu seinem Wort, und mit ihm einige Landesfürsten des Reiches. Allerdings spielten die Auseinandersetzungen um die Templer hier im äußersten Osten des Landes keine große Rolle.

„Rudger!“, rief Anselm erneut. Der Ritter zuckte leicht zusammen. Dann atmete er tief durch und kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Gesicht. Er schaute Anselm fragend an.

„Schau, da hinten. Ein Trupp Reiter scheint sich zu nähern.“

Rudger sah in die angezeigte Richtung. Sein Vater war mit Heske und den drei anderen Templern den Ankommenden schon ein Stück entgegengeritten und er ahnte, wer es war.

„Komm, Anselm. Folgen wir ihnen. Es sind die Schellenberger. Heinrich hat sich mit meinem Vater zur Jagd zu Hochneujahr verabredet. Das machen sie schon, seit ich denken kann. Die anderen werden Hencke, Clement und mein Bruder sein. Und die Jagdknechte des Schellenbergers.“

„Und ich dachte, nur wir sieben reiten gemütlich durch den Wald, im Höchstfall auf einen Hasen stoßend.“ Lachend gab Anselm seinem Pferd die Sporen. Er selbst war trotz seines geistlichen Standes ein hervorragender Reiter, war mit Pferden praktisch aufgewachsen. Sein Vater besaß ein Gestüt, dass unter anderem auch die Templer in Wichmannsdorf mit Tieren versorgt hatte. Seine Schecke gehörte dazu und er schätzte sich glücklich, dass er immer dieses Ross hatte reiten dürfen. Bei ihrem Weggang aus Wichmannsdorf führte Rudger auch etliche Pferde mit nach Mücheln. Und so war es ihnen gelungen, einige der kostbaren Tiere vor dem Zugriff der Magdeburger zu retten. Bei ihrer Flucht vom Ordenshof nach Beyernaumburg hatten Rudger und seine Gefährten alle Pferde mitgenommen. Ein Pferd war ein kostbares Gut, zumal eines, das einen Ritter in einer Schlacht tragen konnte. Und so kam es, dass Rudger und seine vier Gefährten ein starkes Ross besaßen, das sie nach Ywen gebracht hatte.

„Gott zum Gruße, Ulrich“, empfing Heinrich seinen Nachbarn. Die Schellenberger waren einst im Auftrag Kaiser Barbarossas als mächtige Ministeriale hierhergekommen. Sie besaßen etliche Dörfer und ausgedehnte Ländereien, die sich bis zur böhmischen Grenze hinzogen. Ein Teil ihres Besitzes grenzte an die Gemarkung von Ywen.

„Ist es nicht ein herrlicher Tag zum Jagen? Meine Treiber waren auch schon fleißig und haben einen prächtigen Keiler aufgespürt.“ Heinrich von Schellenberg lachte über das ganze Gesicht. Er war ein lebenslustiger Mensch und den erfreulichen Seiten des Daseins nicht abgeneigt, wie seine mächtige Statur verriet. Seine Züge waren angenehm, ein kurzer, grauer Bart verlieh ihm eine gewisse Würde. Immerhin war er der oberste Richter des Pleißenlandes, und ihm oblag es, alle Streitigkeiten zwischen den Adligen des Landes zu schlichten. Keine einfache Aufgabe, wie er im Laufe der Jahre erfahren musste. Doch hatte das seinem freundlichen Wesen keinen Abbruch getan.

„Ich wünsch Euch auch einen guten Tag, Heinrich“, antwortete Ulrich und schlug in die Hand ein, die der andere ihm reichte.

„Wie ich sehe, habt Ihr heute eine muntere Schar mitgebracht“, schmunzelte Heinrich. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Rudger. Und wer sind die kräftigen Burschen, die dir nicht von der Seite weichen?“, wandte er sich an den jungen Ritter.

„Es sind meine Ordensbrüder, Herr Heinrich. Endres, Jorge und Valten. Und das hier ist Bruder Anselm.“

„Ein Mönch?“, fragte Heinrich erstaunt und musterte die braune Kutte des jungen Mannes. „Na, wie ich sehe, hat er den Gaul gut im Griff“, meinte er augenzwinkernd.

„Anselm mag zwar kein Ritter sein, doch was Pferde anbelangt, macht ihm keiner so schnell etwas vor.“

„Du bestimmt nicht. Du hast dich ja nie groß für Pferde interessiert“, warf Arnald, Ruders Bruder, mürrisch dazwischen. Er war, zusammen mit seinem Busenfreund Hencke, dessen jüngerem Bruder Clement und den Jägern herangeritten.

„Auch dir einen guten Morgen, Arnald“, konterte Rudger gelassen. Er würde sich von seinem Bruder nicht aus der Reserve locken lassen.

Arnald hatte das Weihnachtsfest auf Ywen verbracht, war jedoch bereits am Neujahrstag wieder auf die Isenburg ins Gebirge geritten, wo sein Kumpan Hencke von Schellenberg die meiste Zeit hauste. Sein Vater hatte ihm das Versprechen abringen können, in Kürze wieder nach Ywen zurückzukommen. Ulrich fühlte sich seit einiger Zeit kränklich und es könnte nicht schaden, eine kräftige Hand auf dem Hof zu haben. Denn Rudgers Entschluss, dem Deutschen Orden beizutreten, stand fest. Bald würde er das Gut verlassen.

„Siehst du, Vater, wir hätten Eneyde gestatten sollen, mit uns zu reiten. Wie Ihr seht, ist Heske auch da“, meldete sich jetzt Hencke zu Wort. Eigentlich hieß der Sohn des Schellenbergers genau wie sein Vater, Heinrich. Um jedoch Verwechslungen auszuschließen, rief ihn alle Welt Hencke, genau, wie ihn seine Mutter zu nennen pflegte, die aus der Nordmark kam und dem Geschlecht der früheren Grafen von Stade entstammte. „Ich grüße Euch, Ulrich von Ywen. Heske.“ Er deutete eine Verbeugung an und lächelte dem Mädchen zu.

Endres Faust ballte sich in seinem Handschuh wie von selbst zusammen. Dieser Kerl schien Heske ganz gut zu kennen, wie der vertrauliche Ton, den er anschlug, zeigte. Er würde doch nicht gar mit dem Mädchen verlobt sein? Doch nein, davon hätte ihm Rudger mit Sicherheit erzählt. Allerdings passte es ihm überhaupt nicht, mit welchem Blick Hencke Ulrichs Tochter anschaute.

„Und ihr seid also die Helden von Beyernaumburg?“, wandte sich Hencke nun freundlich an Rudgers Begleiter. „Man hat so einiges gehört hier im Hinterland. Die Zeiten, dass bei uns in der Gegend wirklich mal was Aufregendes passiert, scheinen vorbei zu sein“, sagte er mit Bedauern in der Stimme.

Rudger stellte seine Freunde dem Schellenberger und dessem jüngeren Bruder vor. Clement schien das völlige Gegenteil von Hencke zu sein. Er war von mittelgroßer Statur und seine braunen Haare fielen ihm in Wellen über die Schultern. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zusammenzubinden oder, trotz der Kälte, unter einer Kappe zu verbergen. Sein hübsches, jungenhaftes Gesicht war einnehmend und der Blick aus seinen blauen Augen wirkte aufrichtig.

Gemeinsam ritten sie in den Wald hinein, der sich hinter den Feldern von Ywen bis in das Tal der Zschopau hinabzog. Große, mächtige Tannen wechselten sich mit alten Eichen ab. Doch schienen diese immer weniger zu werden, und oft standen tote Bäume zwischen den anderen, deren Äste hin und wieder mit gewaltigem Krachen herabfielen. Gerade jetzt im Winter war es nicht ungefährlich durch den Wald zu reiten, wenn der schwere Schnee auf ihnen sie zum Brechen brachte.

Schon nach wenigen Minuten hatten sich kleine Grüppchen gebildet. Ulrich und Heinrich ritten etwas hinter den anderen her, in ein ernsthaftes Gespräch versunken. Rudger, Endres, Valten und Heske bildeten zusammen mit Clement den Mittelteil der Jagdgesellschaft, während Hencke zusammen mit Rudgers Bruder Arnald und Jorge vorangeritten war. Rudger schien es, dass sich der junge Schellenberger und sein Freund auf Anhieb gut verstanden. Eine leise Eifersucht nagt in seinem Inneren.

Eigentlich waren sie sich sehr ähnlich, Hencke und er. Nicht, was das Aussehen betraf, obwohl sie beide hochgewachsen und von kräftiger Statur waren. Heinrichs Sohn hätte mit Sicherheit einen guten Templer abgegeben, was seine körperlichen Eigenschaften betraf. Doch da endeten die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen Rudger und Hencke auch schon, denn der Schellenberger Spross hatte rabenschwarzes Haar und tiefblaue Augen, und man munkelte, dass er das Ebenbild seines Urahns Falk von Schellenberg wäre. Doch woher die Leute das wussten, war Rudger ein Rätsel, denn keiner von ihnen kannte den Ritter von Schellenberg mehr persönlich, da er bereits vor nahezu einhundert Jahren gelebt hatte. Die markanten Gesichtszüge Henckes wiesen eine gewisse Härte auf und an ihm war nichts Weiches oder Versöhnliches.

Hencke war ein rauer Geselle, keinem Kampf abgeneigt. Das bewies er oft genug, da er jeden Streit nahezu magisch anzuziehen schien, allerdings auch fast immer als Sieger daraus hervorging. Die Leute begegnetem ihm mit großem Respekt, wenn nicht sogar Angst, da er für seine Schwertkunst und seinen tödlichen Umhang mit dem Morgenstern bekannt war. Aber war er bei weitem kein Griesgram, sondern ein eher fröhlicher Geselle. Auch wenn er oberflächlich zu sein schien, kannte Rudger ihn besser. Der Sohn Heinrichs wusste durchaus, wem er Loyalität schuldete. Das Wort seines Vaters war für ihn Gesetz, auch wenn es ihm meist sehr schwerfiel, sich daran zu halten. Nicht zuletzt deshalb hatte er oben im Dunkelwald einem Grenzadeligen eine kleine Burg abgekauft oder in Pacht genommen. Ehemals nur ein steinerner Turm zum Schutz der Grenze nach Böhmen hatte Hencke sie ausbauen lassen und einen Palas errichtet. Jetzt hielt er sich meistens dort auf. Böse Zungen behaupteten, dass es sich dabei um ein Raubritternest handelte, doch Rudger glaubte nicht daran. Auch konnte er sich nicht vorstellen, dass sich sein Bruder einem Räuber anschloss. Nicht, dass er dazu nur zu feige gewesen wäre, nein, das Erbe von Ywen war ihm zu wichtig, als dass er es aufs Spiel gesetzt hätte. Und auch, wenn Rudgers Vater der Meinung war, dass Arnald kein Interesse am Hof hätte, wusste Rudger es besser. Er war überzeugt davon, dass sein Bruder nur auf den Tag wartete, wo er sich als Gutsherr aufspielen konnte.

Die Sonne neigte sich im Westen schon langsam dem Horizont zu und ihr rotes Licht verhieß neuen Niederschlag in den nächsten Tagen. Rudger schaute gebannt auf den Schnee, der durch den Schein der Sonnenstrahlen blutrot schimmerte. Dem jungen Templer wurde etwas unheimlich zumute. Der Schrei eines Greifvogels ließ ihn zusammenzucken. Ihn hatte schon den ganzen Tag eine innere Unruhe ergriffen, die er sich nicht erklären konnte.

Die Treiber aus Schellenberg errichteten am Waldrand ein kleines Lager. Heske, die sich in der Gesellschaft der Ritter ein wenig langweilte, ging ihnen zur Hand, und bald brannte ein lustiges Feuer, um das sie sich alle versammelten. Die erlegten Wildschweine, zwei Rehböcke und ein halbes Dutzend Hasen lagen in einiger Entfernung zum Abtransport bereit. Die Jagd hatte sich gelohnt und sowohl die Schellenberger als auch die Leute aus Ywen würden eine Weile genug zu essen haben.

Heinrich spendierte einen kräftigen Imbiss und ein Weinschlauch machte die Runde.

„Wie kommt es, dass Ihr immer so einen köstlichen Tropfen in Eurem Keller habt“, fragte Ulrich. „Der rote Wein, den mir hin und wieder ein Händler aus Chemnitz bringt, ist bei weitem nicht so wohlschmeckend.“

„Ich würde eher sagen, er ist ungenießbar“, warf Arnald dazwischen. „Gut, dass unsere Mutter Bier braut, sonst müssten wir verdursten.“

„Wie wäre es mit Wasser“, meinte Rudger bissig. Sein Bruder war schon immer den geistigen Getränken mehr zugetan, als ihm guttat. Das Wasser aus ihrem eigenen Brunnen war durchaus bekömmlich, und sie konnten es gefahrlos trinken. Nicht wie in der nahen Stadt Chemnitz, wo die öffentlichen Zisternen oft von Unrat verseucht waren.

„Nun, wie auch immer“, konstatierte Heinrich, „Mein lieber Ulrich, ich lasse mir den Wein aus Meißen kommen. Wie Ihr wisst, haben die Markgrafen seit Jahrhunderten Erfahrung in der Winzerei. Und ihr Wein kann selbst den edelsten Tropfen vom Rhein das Wasser reichen.“

Nach und nach entwickelten sich einzelne Gespräche. Hencke gesellte sich zu Rudger und seinen Freunden. Sie mussten ihm nochmals in allen Einzelheiten erzählen, wie ihnen die Flucht aus Mücheln nach Beyernaumburg gelungen war und wie es dazu kam, dass der Erzbischof die Belagerung aufgab. Heske, die zunächst bei ihrem Bruder geblieben war, ging alsbald hinüber zu ihrem Vater.

„Ich glaube, Heidenreich von Lichtenwalde versteckt auf seiner Burg Templer“, sagte Hencke unvermittelt. Er erntete ein ungläubiges Staunen der Ordensritter.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Rudger. „Ich denke, hier in der Nähe zu Böhmen verfolgt man uns nicht.“

„Das hättest du gern, was?“, höhnte Arnald, der zu ihnen getreten war. Rudger ignorierte ihn.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte Hencke genervt.

Aber Arnald zuckte nur desinteressiert mit den Schultern.

„Den ganzen Tag schon hackst du auf deinem Bruder herum“ fuhr der junge Schellenberger fort. „Ich dachte, du wärst froh, dass er mit heiler Haut aus der ganzen Verfolgungsgeschichte rausgekommen ist. Und“, wandte er sich jetzt wieder den Templern zu, „noch gibt es hier keine Hetzjagden, von denen ich weiß. Aber oben im Gebirge haben einige Klöster angekündigt, keine Templer in ihren Reihen aufnehmen zu wollen. Der Abt von Grünhain sprach sogar davon, dem Wort des Papstes zu folgen.“

„Nun, so viele unserer geflohenen Glaubensbrüder werden nicht im Gebirge unterwegs sein“, mutmaßte Jorge.

„Dass du dich da mal nicht irrst“, meinte Rudger, denn Henckes Erzählungen hatten ihn hellhörig werden lassen. „Immerhin zieht sich hier hinter dem Wald die Straße nach Böhmen hin. Auch unsere Bierstraße trifft auf den alten Steig über den Pass. Und vom Kloster Aue aus geht über Grünhain ein Weg direkt zum Gebirgskamm nach Böhmen hinüber. Also verdammt nah an den Abteien vorbei.“

„Genau“, fuhr Hencke fort. „Und alle, die von der Mark Meißen nach Böhmen wollen, müssen da entlang. Und ich weiß von einigen, die unter dem Schutz des Markgrafen von Frankreich aus hier durchgekommen sind.“ Verschwörerisch blickte er die anderen an.

„Und was hast du mit all dem zu tun, Hencke?“, fragte Rudger. „Ist dein Vater als Richter des Pleißenlandes nicht dem König Rechenschaft pflichtig?“

„Das war bis vor kurzem so. Jetzt gibt es immer wieder Streit. Du weißt, die Meißner Markgrafen, denen das Pleißenland über ihre Mutter, der Enkelin Barbarossas, als Erbe zugefallen war, lagen mit dem kürzlich ermordeten König Albrecht in Fehde. Bereits dessen Vorgänger Adolf von Nassau hatte ihnen das Pleißenland wieder weggenommen. Sie sahen sich als Opfer einer Intrige, durch die der König das alte Reichsland erneut an sich bringen wollte.“

„Genau“, meinte Clement eifrig. „Und als Adolf von Nassaus Nachfolger auf dem Thron das Land nicht wieder rausgerückt hat, haben die Wettiner zu den Waffen gegriffen.“

„Sie haben doch vor knapp zwei Jahren in der Schlacht bei Lucka König Albrecht von Habsburg besiegt“, warf Endres dazwischen. „Er musste ja das ehemalige Reichsland wieder rausrücken.“

„Leider hat der ja anschließend ins Gras gebissen. Und noch ist es nicht vom jetzigen König Heinrich bestätigt“, warf Hencke ein.

Endres lachte kurz auf. „Ha, es muss ja auch schrecklich sein, solch einen Vater zu haben wie die beiden Wettiner Brüder. Albrecht, der Entartete, so nennen ihn die Leute in Meißen. Leider wurde sein armer Sohn Dietrich, kurz nachdem er sein Erbe wieder in den Händen hielt, von einem Verwandten des früheren Königs ermordet. Nun gehört dem Bruder, Markgraf Friedrich, alles – Thüringen, die Mark Meißen und das Pleißenland.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.

„Ja, manche haben halt Glück im Leben“, meinte Valten lakonisch. „Aber wenn ihr mich fragt, Albrecht von Wettin ist ein unberechenbarer Mann. Ich sage euch, es sind die Weiber, die ihn zu Grunde gerichtet haben. Und dabei nannte er eine Kaisertochter sein Weib. So ein Trottel. Das hätte mir mal passieren müssen ...“

„Keine Angst, Valten, du kriegst mit Sicherheit keine Kaisertochter ab. Außerdem bist du ein Mönch, schon vergessen?“, hänselte ihn Jorge.

„Ja, es ist schon schlimm gewesen, dass er am Ende seinen gesamten Besitz an irgendwen verpfändet hat, nur um sein Lotterleben finanzieren zu können“, fügte Valten hinzu, ohne auf die Neckereien seines Kameraden einzugehen.

Das Gespräch geriet ins Stocken. Jeder schien über die verworrenen Machtverhältnisse im Reich nachzudenken. Im Mai des Jahres 1307 war es den Söhnen Markgraf Albrechts dem Entarteten zwar gelungen, ihr Erbe in der Schlacht bei Lucka zurückzugewinnen. Ihr Vater hatte sechzehn Jahre zuvor die Mark Meißen mit dem Pleißenland und die Landgrafschaft Thüringen an König Adolf von Nassau verpfändet hatte. Nach dem gewaltsamen Tod seines Bruders Dietrich nannte Friedrich sich jetzt nicht nur Landgraf von Thüringen, sondern auch Markgraf zu Meißen. Er selbst sah sich in der direkten Nachfolge seines Ururgroßvaters, Kaiser Barbarossa. Sein Vater Albrecht hatte bereits vor Jahren abgedankt, nachdem ihm seine dritte Ehefrau, Elisabeth von Arnshaugk, ins Gewissen geredet hatte, dass er sich mit seinen Söhnen vertragen sollte. Albrecht war daraufhin nach Erfurt gegangen, wo er unter einem bürgerlichen Namen sein Dasein fristete.

Doch sein Sohn Friedrich stellte jetzt für den erst kürzlich von den anderen Landesfürsten gewählten deutschen König, Heinrich von Luxemburg, ein Risiko dar. König Heinrich hatte Friedrich in seinen Besitzansprüchen noch nicht offiziell bestätigt. Und so stand die Herrschaft des Wettiners derzeit auf sehr töneren Füßen. Was diesen allerdings nicht daran hinderte, seine Rechte als Herr über Thüringen und Meißen voll auszuspielen.

„Wenn ich es recht bedenke, ist der neue König Heinrich eher auf der Seite der Templer“, sagte Rudger unvermittelt. Die anderen schauten ihn gespannt an. „Denn durch seine Bemühungen, den früheren Glanz des Reiches, wie unter Barbarossas Zeiten, wieder zu erlangen, hat er sich in Philipp von Frankreich einen großen Feind geschaffen. Philipp bangt um die Beschränkung seiner Macht.“

„Dabei vergisst du nur, dass Heinrich auch Kaiser werden will, gerade weil Friedrich Barbarossa sein Vorbild ist“, meinte Hencke. „Und das heißt, er muss sich mit dem Papst gutstellen. Du kannst es also drehen und wenden, wie du willst – ihr Templer habt bei keinem einen echten Rückenhalt, seid mehr oder weniger auf euch allein angewiesen.“

„Und was ist mit dem Halberstädter Bischof?“, fragte Anselm unschuldig.

„Albrecht von Halberstadt ist nur ein kleiner Bischof. Auch er wird letztendlich vor seinen mächtigeren Amtskollegen in Mainz und Köln einknicken. Und die wenden sich niemals gegen den Papst, nachdem es sich doch rechnet, die Templer zu verfolgen. Sie haben sich schon einige fette Pfründe mit unseren Ordenshöfen und Burgen einverleibt.“ Rudger schnaubte abfällig.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Anselm.

„Ich werde nach Lichtenwalde reiten.“, sagte Rudger. „Mal sehen, ob ich dort etwas in Erfahrung bringe.“ Rudger schaute Hencke von Schellenberg forschend an. Doch dieser reagierte nicht weiter darauf, und die eigentliche Frage, was der junge Schellenberger mit den Lichtenwaldern und ihren geheimnisvollen Machenschaften zu tun hatte, blieb unbeantwortet.

„Wir wollten doch nach Zschillen“, protestierte Anselm halbherzig.

„Das rennt uns ja nicht weg.“ Aber sein junger Freund schaute ihn enttäuscht an.

„Anselm“, versuchte ihn Rudger zu beschwichtigen. „Ich muss wissen, was in Lichtenwalde vor sich geht. Wenn es nun wirklich unsere Brüder sind, die dort Schutz gesucht haben? Was soll aus ihnen werden? Willst du sie ihrem Schicksal überlassen? Sie können sich nicht ihr ganzes Leben lang auf der Burg verstecken. Und überhaupt, vielleicht stimmt es ja auch gar nicht.“ Wieder traf sein herausfordernder Blick Hencke, der sich aber weiterhin in Schweigen hüllte.

„Ich mach dir einen Vorschlag. Zwei unserer Waffenknechte werden dich nach Zschillen begleiten. Im Moment scheint es ja hier recht ruhig zu sein, dass wir sie wahrscheinlich für kurze Zeit entbehren können. Und wenn ich weiß, was es mit den Gerüchten über Lichtenwalde auf sich hat, komme ich nach.“

Anselm nickte stumm. Das war wohl das Beste, was er rausholen konnte. Solange Rudger nicht wusste, ob sich ihre Brüder in Not befanden, würde er nicht von hier weggehen. Und überhaupt, vielleicht war es auch nur ein willkommener Vorwand für ihn, um in Ywen bleiben zu können, denn sicher würde er nur ungern das Erbe seines Vaters durch den älteren Bruder vergeudet sehen.

Schritte näherten sich und die jungen Männer schauten auf. Heinrich und Ulrich gesellten sich zu ihnen. Sie waren bester Dinge, hatten sich angeregt über dies und das und die Lage im Allgemeinen unterhalten und mit Sicherheit waren ihre Gespräche ähnlicher Natur gewesen, wie die ihrer Söhne.

„Es ist dunkel geworden“, meinte Heinrich. „Lasst uns aufbrechen, wir haben noch ein Stück des Weges vor uns. Zum Glück hat es tagsüber nicht mehr geschneit, und unser Pfad vom Vormittag wird noch zu sehen sein. Das erleichtert das Vorankommen.“

Die Jagdknechte hatten ihr Wild bereits auf hölzerne Pritschen geladen, die zwei kräftige Gäule zogen. Jetzt packten sie die Felle des Lagers zusammen und löschten das Feuer, an dem sie vorher vorsorglich einige Fackeln entzündeten, die ihnen in der Finsternis den Weg durch den Wald erhellen sollten. Auch Ulrich und seine Begleiter hatten noch ein kleines Stück des Marsches vor sich, aber mussten sie nur über die Felder reiten und nicht durch den dichten Wald. Als alles bereit war, bestiegen die Männer aus Schellenberg ihre Pferde.

Heinrich gab seinem Ross die Sporen und galoppierte voran. „Gehabt Euch wohl, Ulrich!“, rief er zum Abschied.

„Ihr auch, Heinrich. Und achtet auf den Weg!“

Es kehrte Stille ein. „Nun denn, lasst uns nach Hause reiten“, meinte Ulrich und hob Heske mit einem Schwung auf ihr Pferd. Ihren Anteil an der Jagd hatten sie auf zwei Packpferde geladen. Der Mond stand hoch am Himmel und sein gleißendes, weißes Licht ließ die Eiskristalle des hartgefrorenen Schnees wie kostbare Diamanten geheimnisvoll aufblitzen. Der kleine Trupp setzte sich in Gang. Doch zogen bereits dichte Wolken am Horizont auf. Wenn sie nicht in Gefahr geraten wollten, vom Weg abzukommen, mussten sie sich sputen. Als sie endlich den Hof von Ywen erreichten, begann zu schneien.

„Hoffentlich kommt Heinrich ohne Gefahr zu seiner Burg“, meinte Ulrich mit einem Blick zurück in das undurchdringliche Dunkel der Landschaft. Dann schloss der alte Wärter das Tor hinter ihm.

Baphomets Jünger

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