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3 Polyphone Textgestalt 3.1 Oehlenschläger als „Grenzgänger zwischen zwei Kulturen“1

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Die beiden Sprachversionen von Oehlenschlägers Roman bilden gewissermassen zwei gleichwertige „Stimmen“. Der Hinweis des Verfassers am Ende seiner Vorrede zur dänischen Ausgabe lässt offen, welche Version das Original und welche die Übersetzung ist: „Til Efterretning for Oversættere tiener, at jeg selv har besørget en tydsk Udgave af min Roman, som alerede er unter Pressen“ (ØS I: X).2 Diese verschleiernde Ausdrucksweise ist kein Zufall, denn die beiden Fassungen sollen nicht etwa auf Original und Übersetzung festgelegt werden, sondern vielmehr als zwei eigenständige Dichtungen gelten. Dies ergibt sich auch aus Oehlenschlägers vielzitierter Weigerung, die deutschen Ausgaben seiner Werke als Übersetzungen zu bezeichnen:

Man kann sie keine Uebertragungen nennen […]; es sind freie Bearbeitungen und oft verbesserte Umarbeitungen von des Dichters eigener Hand. […] Es ist also gewissermassen eine verbesserte Ausgabe, und diese deutschen Umdichtungen sind eben so original wie die dänischen Dichtungen. (Selbstbiographie 1829, 2: 177; gesperrt im Original)3

Ebenso insistiert er in der „Vorrede“ zu seiner zweiten deutschen Werkausgabe auf dem Charakter der deutschen Fassungen als Originalschöpfungen:

Allein man beurteilt sie ganz schief, wenn man sie als blosse Uebersetzungen betrachtet. Es sind freie Umdichtungen, die bei dieser Wiedergeburt nichts verloren, vielleicht sogar gewonnen haben. (Selbstbiographie 1839, 1: XVII–XVIII)

Auch in diesem Zusammenhang vollzieht der Dichter wieder den Gattungswechsel zur Malkunst, um auf andere Weise nochmals seinen Schaffensprozess zu illustrieren und das Faktum der Originaldichtungen zu betonen:

Wie oft hat nicht ein Maler auch ein Bild zwei Mal gemalt – das zweite ist keine Kopie: hier und da hat er Veränderungen gemacht, hier etwas ausgelassen, dort etwas Neues hinzugefügt; er hat die Aehnlichkeit des ersten Bildes nicht ängstlich in kleinen Zügen nachgepinselt; die Idee hat ihn neu durchdrungen und sich neu gestaltet. So bitte ich diese Schriften zu betrachten. (Selbstbiographie 1839, 1: XVIII)

Die zitierte Vorstellung der Umdichtungen als Wiedergeburt lässt den seine eigenen Schöpfungen in einer anderen Sprache neu „gebärenden“ Dichter geradezu als Verkörperung der intertextuellen Produktionsweise von Texten erscheinen. Oehlenschlägers Schaffen in zwei Sprachen soll deshalb im Folgenden unter Beiziehung von Zeugnissen zur Selbsteinschätzung und Rezeption kurz beleuchtet werden, bevor im Vergleich einiger Textstellen und -elemente auf die Intertextualität zwischen der deutschen und der dänischen Fassung seines Inselromans eingegangen wird. Zu Beginn der erwähnten Vorrede stellt Oehlenschläger fest:

Zwei und dreissig Sommer sind verschwunden, seit Göthe, Jean Paul, Steffens, SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich, Voss mich aufmunterten, ein deutscher Dichter zu werden. Zwei und dreissig Jahre hindurch habe ich deutsch gedichtet. Wenige der jetzt lebenden namhaften Autoren Deutschlands können sich eines längern Schriftstellerlebens rühmen; und so kann ich mich wohl auch einen deutschen Dichter nennen, obschon ich als geborner Däne bis zu meinem vier und zwanzigsten Jahr keine Sylbe deutsch schrieb, und die meisten meiner Werke erst in dänischer Sprache gedichtet wurden. (Selbstbiographie 1839, 1: XVII; gesperrt im Original)

Dass er auch ein deutscher Dichter werden konnte, scheint ihm durch seine deutsch-dänische Abstammung schicksalshaft vorausbestimmt: „So stamme ich von Deutschen wie von Dänen, und es scheint als ob das Schicksal bestimmt hätte, dass ich beiden Nationen angehören sollte“ (Selbstbiographie 1829, 1: 4).

Gleichzeitig betont er aber auch immer wieder – wie in der zitierten Passage der Vorrede –, dass er erst spät angefangen habe, deutsch zu lesen oder gar zu schreiben, obwohl beide Eltern väterlicherseits deutscher Herkunft waren; auf diese Weise gelingt es ihm, neben der Fügung des Schicksals auch seine eigene Leistung darzustellen: offensichtlich soll nicht der Eindruck entstehen, er verdanke seine Ausdrucksfähigkeit im Deutschen weniger der eigenen Arbeit und Begabung, als vielmehr einem zweisprachigen Elternhaus. Zudem kann er so auch mehr Verständnis für Fehler oder Danismen in der deutschen Fassung seiner Werke erwarten. Noch wichtiger sind allerdings die berühmten Namen im erwähnten Zitat: den Anspruch, auch ein deutscher Dichter zu sein, mit der Ermutigung solcher Persönlichkeiten, angeführt vom Dichterfürsten GoetheGoethe, Johann Wolfgang von selbst, begründen zu können – dies kommt einer Legitimation gleich, die wohl nicht einmal von der Dichterkrönung durch Tegnér im Dom zu Lund übertroffen wurde.

Mehrmals berichtet Oehlenschläger, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang von sich zu den Danismen in seinem Deutsch äusserte: Dieser habe ihn oft davon abgehalten, sie zu streichen, weil sie hübsch seien (Selbstbiographie 1829, 2: 24).4Holberg, Ludvig „[…] er meinte, die beiden verwandten Sprachen, aus einer Wurzel entsprungen, könnten einander mitunter mit guten Worten schwesterliche Geschenke machen“ (Selbstbiographie 1829, 2: 24). Auch habe es Goethe Vergnügen bereitet, „die deutsche Sprache […] in einem poetischen Gemüthe entstehen [zu] sehen“ (Selbstbiographie 1829, 2: 25).

Die Vorstellung eines schwesterlichen Austausches zwischen den beiden Sprachen birgt den Gedanken einer Gleichwertigkeit der beiden in ihren Dimensionen so ungleichen Kulturkreise – eine Idee, die Oehlenschläger sehr anziehend erscheinen musste, obwohl er natürlich nicht zu jenen dänischen Schichten gehörte, die sich im Zuge des wachsenden Nationalismus gegen den Einfluss Deutschlands, der auch in der Sprache seine Spuren hinterliess, zu wehren begannen und sich für eine „Reinigung“ des Dänischen von den zahlreichen deutschen Ausdrücken, Redewendungen und Lehnwörtern einsetzten (Winge, V. 2000: 143–153). Von Oehlenschlägers dichterischem Standpunkt aus existierte Deutschland – jedenfalls vor 1848 – vor allem als Stätte bewunderter Dichtkunst, ein Parnass, auf dem auch er sich einen würdigen Platz zu erringen hoffte.5 Zu diesem Zweck übertrug er, wie in Kap.1.2.2 erwähnt, die meisten seiner Dichtungen ins Deutsche (oder, wie er selbst sagen würde, schaffte sie in dieser Sprache neu) und verfasste überdies mehrere Werke zuerst auf Deutsch, darunter – neben den IS auch das Künstlerdrama Correggio,6Cotta, Johann Friedrich das im deutschen Sprachgebiet immerhin so berühmt wurde, dass es nach der Premiere im Jahr 1815 am Wiener Burgtheater in der Zeit bis 1850 an über 30 deutschsprachigen Bühnen (inkl. Prag, Königsberg und Danzig) aufgeführt wurde (Breve B/4: 152–154).7Goethe, Johann Wolfgang von Das ungewöhnliche Unternehmen seiner deutschen Übersetzung von 25 Komödien HolbergsHolberg, Ludvig zum hundertjährigen Jubiläum von dessen Danske Skueplads 1822 rechtfertigt er mit folgenden Worten:

Hätte ich geglaubt, es lebe gegenwärtig ein guter deutscher Komiker, der Dänisch verstände, und der diese Arbeit übernehmen wollte, ich wäre mit Vergnügen zurückgetreten. Dies war aber nicht der Fall, und von einem Dichter musste die Uebersetzung sein, wenn sie nicht das todte Wort, sondern Leben und Farbe wiedergeben sollte. (HolbergHolberg, Ludvig’s Lustspiele 1823, 4: VIII–IX; gesperrt im Original)8Novalis (Friedrich von Hardenberg)Holberg, LudvigTieck, Ludwig

Aber Oehlenschläger übersetzte nicht nur vom Dänischen ins Deutsche, sondern vermittelte als echter „Grenzgänger zwischen den Kulturen“ durch Übersetzungen ins Dänische auch verschiedene Werke deutscher Dichter – in erster Linie handelt es sich um GoetheGoethe, Johann Wolfgang von und TieckTieck, Ludwig – nach Dänemark (vgl. Kap. 1.2.2 dieser Arbeit). Dass er in dieser Übersetzungsrichtung jedoch weit weniger produktiv war, obwohl sie eigentlich die üblichere gewesen wäre – von der „Fremdsprache“ in die Muttersprache –, hängt neben den erwähnten Bestrebungen, sich als deutscher Dichter im deutschen Sprachraum zu etablieren, auch mit der politisch-kulturellen Situation der beiden Länder zusammen: Während in Deutschland dänische Sprachkenntnisse wenig verbreitet waren, bestand in Dänemark noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts „eine selbstverständliche Vertrautheit mit deutscher Sprache und Kultur. […] Deutsche Literatur bedurfte zunächst gar keiner Übersetzung, man las sie in der Originalsprache und weitgehend ohne Verständnisschwierigkeiten“ (Winge, V. 1996: 57).

Mit seiner Ansicht, die deutschen Fassungen seiner Werke hätten gegenüber den dänischen Originalen nichts verloren, sondern vielleicht sogar gewonnen, stand Oehlenschläger allein. Er erlangte in Deutschland nie die Position eines Poeta laureatus, die er in Dänemark innehatte,9Goethe, Johann Wolfgang von eine Tatsache, die in erster Linie der Diskrepanz zwischen seinen dänischen Originalwerken und den deutschen Selbstübersetzungen zugeschrieben wird. Dieses Erklärungsmuster wird aus naheliegenden Gründen vor allem in Dänemark bevorzugt – in Deutschland kannte man die Werke Oehlenschlägers ja kaum in ihrer dänischen Fassung. Auf diese Weise entstand eine Dichotomie zwischen dem nur den Dänen bekannten und zugänglichen Dichter und einem ganz andern, einem „deutschen“ Oehlenschläger, den man von dem einheimischen abspalten und ins Ausland verweisen konnte, wodurch sich dann selbst ein so hartes Urteil, wie jenes, das GoetheGoethe, Johann Wolfgang von über Oehlenschläger äusserte,10Goethe, Johann Wolfgang von leichter ertragen liess, da es ja nicht dem in Dänemark verehrten Dichter galt.11

Die „Spaltung“ Oehlenschlägers auf sprachlicher Ebene stellt BrandesBrandes, Georg in seinem Vergleich der dänischen und der deutschen Fassung des Aladdin folgendermassen dar:

I det Øjeblik, da Oehlenschläger skrider til Oversættelsen og Omarbejdelsen af sin Aladdin paa Tysk, skifter hans Sprogtone paa den forunderligste Maade Karakter. Ikke blot at hvad han paa Dansk besad af Sikkerhed og Ynde forlader ham, men han mister al Stil, alt ejendommeligt og selvstændigt Herredømme over Sproget. (BrandesBrandes, Georg 1899: 245)

In dem Moment, da Oehlenschläger mit der Übersetzung und Umarbeitung seines Aladdin auf Deutsch beginnt, ändert sein Sprachton auf die merkwürdigste Weise den Charakter. Nicht nur verlässt ihn, was er im Dänischen an Sicherheit und Anmut besass, sondern er verliert jeden Stil, jede eigentümliche und selbständige Herrschaft über die Sprache.

BrandesBrandes, Georg sieht in der deutschen Version des Aladdin eine Verbindung der Gedanken- und Ideenwelt der deutschen Romantik mit bürgerlich-christlicher Moral, eine Mischung, die ihm so sehr missfällt, dass er sich nicht darüber wundert, „at man i Tyskland aldrig har begrebet det Værd, de Danske tillægger Oehlenschlägers Aladdin og hans Digterevne i Almindelighed“ (BrandesBrandes, Georg 1899: 264).12 Fast identisch äussert sich Horst Nägele,Baggesen, Jens der Oehlenschlägers deutsche Übersetzung des weitaus grössten Teils seiner Dichtung lediglich als Versuch, „mitunter […] eigene auf Dänisch geschriebene Werke in die deutsche Sprache umzusetzen“ wertet und dabei erwähnt: „Unter einer solchen Prozedur hat sein Märchendrama ‚Aladdin‘ ganz besonders gelitten“ (Nägele 1971: 596).

Auch Hultberg stellt in seiner Untersuchung zur Stellung Oehlenschlägers in der deutschen Literatur fest, dass der dänische Dichter durch den Versuch, sich auf sein deutsches Publikum auszurichten, das Beste seiner Kunst weitgehend zerstört habe (Hultberg 1972: 44). Er sieht einen der wichtigsten Gründe für Oehlenschlägers geringe Durchschlagskraft in Deutschland darin, dass dessen poetische Sprache im Deutschen nicht die gleiche dichterische Qualität erlangt habe wie im Dänischen, weshalb es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er die Übersetzung seiner Werke andern überlassen hätte (1972: 46). Hultberg geht sogar so weit, aus Oehlenschlägers Versuch, seine Dichtungen einem deutschen Publikum zugänglich zu machen, negative Folgen für sein dänisches Werk abzuleiten, da sich in seine poetische Welt nicht nur sprachliche, sondern auch gedankliche und ideelle Germanismen eingeschlichen hätten (1972: 48–49).13Baggesen, Jens

Lohmeier, der bei ähnlicher Thematik in seiner Untersuchung zu wesentlich positiveren Ergebnissen kommt, was Oehlenschlägers Position in Deutschland betrifft, betont zunächst – in Übereinstimmung mit Oehlenschlägers Aussage –, dass man in Deutschland seine Werke nicht in Übersetzungen kennengelernt habe, sondern in „authentischen deutschen Textfassungen, für die der Autor selbst verantwortlich war“ (Lohmeier 1982: 91). Auch erwähnt er, dass Oehlenschläger für die Abfassung seiner deutschen Manuskripte auf die Hilfe namhafter zeitgenössischer Schriftsteller, wie z.B. Heinrich Voss, August Wilhelm SchlegelSchlegel, August Wilhelm, Zacharias Werner und Friedrich Hebbel, zählen konnte (1982: 95). Dennoch vermutet er schliesslich als Grund für die ephemere Natur von Oehlenschlägers Erfolg in Deutschland das Fehlen eines kongenialen Übersetzers, denn „er [Oehlenschläger] selbst war es jedenfalls mit Sicherheit nicht“ (1982: 105).

Das Schwanken in der Kategorisierung von Oehlenschlägers deutschen Werkausgaben, die einmal als „authentische Textfassungen“, dann wieder als „Übersetzungen“ eingestuft werden, entspricht der Situation dieses Dichters zwischen zwei Kulturen, der sich im Grunde nicht auf eine Nationalität festlegen lassen wollte, sondern durch sein zweisprachiges Werk nationale Grenzen und Einschränkungen zu überwinden versuchte, was wie ein spezieller Aspekt des Konzepts romantischer Universalpoesie wirkt,14 vielleicht aber auch den heimlichen Wunsch, zur „Weltliteratur“ zu gehören, offenbart.

Die erwähnten Untersuchungen, in denen Oehlenschlägers deutsche Textfassungen gesamthaft negativ beurteilt werden, lassen sich nur bedingt auch auf die IS beziehen, da sie die spezielle Situation der auf Deutsch entstandenen Dichtungen nicht berücksichtigen. Diese Werke, die nicht in der Muttersprache geschrieben wurden und dennoch keine Übersetzungen sind, geben in sprachlicher Hinsicht zu einigen Fragen Anlass: Stehen sie sprachlich mit Oehlenschlägers deutschen Übersetzungen oder Umarbeitungen auf gleicher Stufe oder ergeben sich hier Unterschiede? Weisen diese ohne dänische Vorlage auf Deutsch entstandenen Dichtungen mehr „poetische Substanz“ auf (Lohmeier 1982: 96) als die Übersetzungen? Dieselbe Frage liesse sich auch in umgekehrter Richtung stellen, d.h. in Bezug auf das „Übersetzungsdänisch“ der ursprünglich deutsch geschriebenen Texte, das man mit der Sprache der dänisch verfassten Werke vergleichen könnte. Albertsen, der sich in seiner Einführung zu Correggio mit dieser Thematik befasst, gelangt zur überraschenden Feststellung, dass sich an Oehlenschlägers dänischer Version dieses Dramas erkennen lasse, „wie sehr sogar ein Dichter, der eigene Werke in seine Muttersprache übersetzt, in der Situation als Übersetzer weniger kreativ und dafür schablonenhafter denkt, als wenn er dichtet“ (Albertsen 1989: 32). Seiner Meinung nach übertrifft der deutsche Correggio aus diesem Grund die dänische Fassung, der die „klassisch-naive[] Frische“ des deutschen Originals fehle (1989: 33). In eine ähnliche Richtung geht die Bemerkung Billeskov Jansens betreffend ØS: Er findet, die deutsche Version des Romans sei frischer und humorvoller als die dänische (Billeskov Jansen 1969: 132).

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