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Vorwort

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Preußen und die Juden, die Juden und Preußen – was markierte, was bestimmte ihr gegenseitiges Verhältnis vor dem Hintergrund der epochalen Umbrüche ab Ende des 18. Jahrhunderts? War es nur kühler Pragmatismus, Distanz, so etwas wie ein hoffnungsvolles Annähern – oder doch eher Gespaltenheit und Hass-Liebe? Welches Bild auch immer entsteht: Am Anfang stand zweifellos eine Art Nichtverhältnis – oder genauer formuliert: eine Nichtbeziehung.

Wohl bemühten sich Juden, nachdem man einigen von ihnen, die aus Wien mit ihren Familien zugezogen waren, im Jahre 1671 gestattet hatte, in Brandenburg ansässig zu werden, um die Erlangung dauerhafter Aufenthalts- und Bleiberechte. Diese wurden ihnen aber in der Regel seitens der jeweiligen Herrscher und Behörden nur in einigen wenigen Ausnahmefällen gewährt. Normalerweise wurden ihnen diese verwehrt.

Spätestens ab dem späten 18. Jahrhundert sollten, ja mussten diese Zustände zum Kampf um die rechtliche Emanzipation herausfordern. Vertreter der jüdischen Bevölkerung, meist Kaufleute, die bestimmte Privilegien besaßen, erkannten rasch, dass es um mehr ging als nur um ein paar gesetzliche Änderungen von Rahmenbedingungen. Ein ganzes Land war zu reformieren – und notfalls auch zu „revolutionieren“. Der Weg dorthin aber war steinig, gefährlich und langwierig.

Preußen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war mehrheitlich von einer christlich geprägten Bevölkerung bewohnt und von traditionell gewachsenen, religiösen Vorurteilen geprägt. Die Juden, das waren in den Augen der Mehrheitsgesellschaft die Anderen, die Zugezogenen, diejenigen, von denen man sich abgrenzte. Diffuse Hassgefühle und soziale Konkurrenzängste, meist mit Neidgefühlen verbunden, bestimmten die Sicht auf die jüdische Minderheit. Bei den tonangebenden Eliten herrschte Konsens, dass es „sinnvoll“ sei, die jüdische Minderheit auf Abstand zu halten und ihr keine allzu großen politischen bzw. rechtlichen Zugeständnisse zu machen.

Aus (damaliger) jüdischer Sicht könnte man wohl bei dieser höchst problematischen Beziehung mit Bezug auf den Kafka-Freund und Schriftsteller Max Brod deshalb wohl eher von einer Art „Distanzliebe“ sprechen. Dieser Begriff, den Brod bekanntlich in den 1920er Jahren geprägt hat, diente diesem dazu, das komplizierte Beziehungsverhältnis von Deutschen und Juden, oder präziser das Verhältnis von Deutschtum und Judentum in der Zeit vor 1933 zu beschreiben.

Einiges spricht dafür, dass der Begriff „Distanzliebe“, wie er einst von Max Brod formuliert wurde, auch auf das Verhältnis von Juden und Preußen in der Epoche des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts angewendet werden kann – zumindest, wenn man die Konstellation aus der jüdischen Perspektive betrachtet. Man lebte als Jude beziehungsweise als Jüdin in Preußen, war halbwegs zufrieden, hatte aber Schwierigkeiten, sich mit den rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu arrangieren.

Bis zum beginnenden 19. Jahrhundert hatten Nichtjuden und Juden in den deutschen Staaten nur in Ausnahmefällen Umgang miteinander, was damit zusammenhing, dass das Verhältnis zueinander mit einem deutlichen rechtlichen Gefälle versehen war. Reglementierungen bestimmten den Alltag der jüdischen Bevölkerung. Bis auf einige wenige Privilegierte, die Sonderrechte besaßen, lebte die Mehrzahl der Juden und Jüdinnen nicht integriert, sondern ausgegrenzt und am Rande der Gesellschaft. Sie waren Fremde, Nichtdazugehörige, so etwas wie Marginalexistenzen in einer Welt, die unbeirrt glaubte, ohne Juden einfach besser auszukommen.

Ein erster hoffnungsvoller Durchbruch setzte mit dem Preußischen Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 ein, mit dem die Schutzjudenschaft aufgehoben, den Zwangs- und Sonderabgaben ein Ende bereitet und die preußischen Juden zu „Einländern“ und „Staatsbürgern“ erklärt wurden. In den Synagogengemeinden von Berlin bis Breslau ist dieses Edikt seinerzeit überschwänglich gefeiert worden. Für die Juden, so lässt sich das rückblickend zum Ausdruck bringen, markierte es das Ende des Mittelalters und den Eintritt in die Neuzeitgeschichte.

Die Welt, in die die preußischen Juden nun eintraten, war allerdings noch immer eine Art „Gegenwelt“. Es war zwar nicht die Welt der säbelrasselnden Militärs, der hochnäsigen Beamten und adeligen Gutsherren, sondern es war die Welt des sich herausbildenden selbstbewussten Bürgertums, die Welt der Aufklärung, des Aufbruchs und des Fortschritts, in der sie sich heimisch zu fühlen begannen. Juden, die sich zu dieser Welt bekannten und in sie eintauchten, nahmen für sich in Anspruch, selbst auch das „andere Preußen“, das „fortschrittliche Preußen“ zu verkörpern.

In diesem Buch gehe ich unter anderem der nicht ganz einfachen Frage nach, ob und inwieweit jüdische Männer und jüdische Frauen zur Demokratisierung Preußens und Deutschlands im Vormärz und in der Revolution von 1848 einen erkennbaren Beitrag geleistet haben. Waren sie Anhänger bzw. Anhängerinnen des demokratischen Prinzips, weil sie sich von der Schaffung demokratischer Verhältnisse die Verwirklichung ausstehender staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten für die jüdische Bevölkerung versprachen? Oder, so müssen wir uns fragen, gibt es sogar so etwas wie eine Affinität der Juden zur Demokratie, die schon in der religiösen Tradition und Überlieferung des Judentums verwurzelt und angelegt ist?

Vermerkt werden sollte an dieser Stelle, dass mich, den Autor des vorliegenden Buches, das Identitätsproblem der deutschen Juden schon immer außerordentlich beschäftigt hat. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich mich darangemacht habe, vorliegendes Buch zu schreiben. Denn immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, wie sich ein Jude damals wie auch heute definiert. Ist es jemand, der sich wegen seines Judentums zur Demokratie und zum Liberalismus hingezogen fühlen sollte? Oder ist das nur eine Art von Wunschdenken und Einbildung, die durch nichts belegt werden kann?

Eine andere Frage, die sich hier stellt, ist die, ob ein Jude beziehungsweise eine Jüdin sich zu konservativen politischen Positionen bekennen kann oder ob das ein nicht aufzulösender Widerspruch ist. Eine befriedigende Antwort darauf zu geben, ist verständlicherweise nicht ganz einfach. Es kommt auf die jeweiligen Umstände an. Denn Juden, so lässt sich sagen, unterscheiden sich, was ihre politischen Einstellungen angeht, darin im Prinzip nicht wesentlich von Nichtjuden. Beispiele dafür gibt es genügend. Der Rechtsphilosoph und Politiker Friedrich Julius Stahl, der in jungen Jahren zum Christentum übertrat und auf dessen konservative Einstellungen im Buch näher eingegangen wird, ist für die Hinwendung von Juden zum konservativen Denken im 19. Jahrhundert ein prägnantes Beispiel.

Aber, so möchte ich in diesem Zusammenhang weiter fragen, was hat das alles mit mir zu tun? In der Zeit der Studentenbewegung in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren befasste ich mich zeitweise nicht nur mit linksliberalen Ideen, sondern auch mit dem konservativen Gedankengut und konservativen Gedankengängen, wohl deshalb, so vermute ich heute, weil mir die radikalen Überzeugungen mancher meiner studentischen Freunde übertrieben und wenig überzeugend erschienen.

Letzteres hat mich nicht davon abgehalten, mich als jemanden zu bezeichnen, der sich zu demokratischen Ideen bekennt. Das geschah zugegebenermaßen zumeist dann, wenn mir bestimmte konservative Ansichten meiner Umgebungsgesellschaft suspekt vorkamen und ich mit ihnen nichts zu tun haben wollte. In meinen autobiographischen Erinnerungen „Mein Weg als deutscher Jude“ (2002) bin ich auf diesen Umstand an verschiedenen Stellen eingegangen.

Im Verlauf der Jahrzehnte haben sich meine politischen Überzeugungen spürbar verfestigt, und zunehmend habe ich begonnen, mich stärker mit demokratischen und linksliberalen Positionen zu identifizieren. Wie ich heute meine, haben nicht nur die aufgeregten Studentenbewegungszeiten dazu mit ihren Theorien und Träumereien entscheidend beigetragen, sondern vor allem auch meine beginnende Beschäftigung mit der 1848er-Revolution und ihren jüdischen Protagonisten.

Das, was in dem Zeitraum zwischen 1830 und 1870 von einer Reihe jüdischer Gelehrter, Schriftsteller und Politiker in Wort und Schrift vertreten und propagiert wurde, hat mich außerordentlich fasziniert. Wenn sich bei mir im Denken schließlich bestimmte linksliberale politische Überzeugungen verfestigten, dann war dies zweifellos unter anderem darauf zurückzuführen, dass ich mich mit den Identitätsproblemen der Juden im 19. Jahrhundert intensiv auseinanderzusetzen begonnen hatte.

Belegt ist, das ist unbestritten, dass Juden einen regen Anteil an revolutionären Bewegungen im 19. Jahrhundert genommen haben. In den Jahren 1848/49 haben sie, wie der deutschisraelische Historiker Jacob Toury das in seinem grundlegenden Buch „Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland“ ausführlich beschrieben hat, in verschiedenen Volksvertretungen gesessen, vor allem aber haben sie sich in Wort und Schrift für die Verwirklichung demokratischer Rechte eingesetzt.

Folgt man bestimmten Ansichten wie etwa denen des Historikers Arno Herzig, der die Revolution von 1848 als „innerjüdischen Wendepunkt“, als „Scheideweg zwischen dem Althergebrachten und dem revolutionären Neuen“ bezeichnet hat, dann sollte man sich, wenn es speziell um das preußischjüdische Verhältnis geht, zunächst vor allem den Aufklärern vom Ende des 18. Jahrhunderts wie Moses Mendelssohn, David Friedländer und anderen zuwenden. Denn sie waren es, die von jüdischer Seite den Boden für die sich vollziehenden politischen Veränderungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereitet haben.

In der dem Aufklärer und Philosophen Moses Mendelssohn nachfolgenden Generation, mehr noch in der Enkelgeneration, haben sich Ärzte, Juristen, Schriftsteller und Publizisten jüdischer Herkunft wie Johann Jacoby, Gabriel Riesser, Moritz Veit, Heinrich Heine und A. Bernstein in beeindruckender Weise zu Wort gemeldet. Sieht man sich deren Lebensverläufe an, bekommt man ein Gefühl dafür, warum sie sich demokratischen und freiheitlichen Ideen verschrieben haben.

Meist waren es Männer, die sich, beeinflusst vom Optimismus der Aufklärung und vom Vernunftdenken, in diesen Jahren aktiv politisch betätigt und zu freiheitlichen und demokratischen Idealen bekannt haben. Aber auch Frauen, vereinzelt jedenfalls, sympathisierten mit diesen Idealen. Bei ihnen geschah das allerdings mehr im privaten Rahmen, in der Familie und bei Zusammenkünften mit gleichgesinnten Freunden und Freundinnen.

Existierende Tagebucheintragungen, Briefe, aber auch Gedichte, Romane und andere Beschreibungen allgemeiner Zustände lassen erkennen, wie diese Männer und Frauen gedacht, gefühlt und sich in bestimmten Situationen verhalten haben. Sieht man sich ihre Lebensverläufe etwas genauer an, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass dabei unterschiedliche Antriebsmomente und Motive eine Rolle gespielt haben.

Der aus Lissa, dem heutigen Leszno, stammende Ludwig Kalisch war beispielsweise einer der jüdischen Schriftsteller, die mit dem Gelehrten Leopold Zunz die Überzeugung teilten, dass es einen Zusammenhang zwischen messianischer Verheißung und bürgerlicher Revolution gäbe. Kalisch, ein heute weitgehend vergessener 1848er, war fest davon überzeugt, dass die Juden keinen Extra-Messias benötigten, sondern dass der Messias nur als Befreier für die ganze Menschheit erscheinen könne. „Dem heutigen Juden“, bemerkte Ludwig Kalisch in seinen „Bildern aus meiner Knabenzeit“, „ist jeder Mensch ein Messias, der für die Freiheit der Völker, für das Wohl der Menschheit wirkt, und sieht das gelobte Land da, wo die Freiheit waltet“.

Schlüsselfiguren, die so dachten wie Leopold Zunz und Ludwig Kalisch, verkörperten gewissermaßen die jüdische Vorhut eines neuen modernen und aufgeklärten Denkens. Aber noch waren sie damals Ausnahmen. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Preußen und in anderen deutschen Staaten war nach wie vor traditionell eingestellt und stand revolutionären Experimenten misstrauisch und mit Vorbehalten gegenüber. Man war bemüht, nicht aufzufallen und verhielt sich dementsprechend.

Zunächst waren es nur vereinzelte engagierte Vertreter, die sich politisch aktiv zu betätigen begannen und revolutionäre Ansichten vertraten, wie etwa der Hamburger Jurist Gabriel Riesser und der aus Königsberg stammende Arzt Johann Jacoby. Die „Judenfrage“, die die christliche, aber auch die jüdische Bevölkerung beschäftigte, wurde von ihnen nicht als eine religiöse, sondern in erster Linie als eine soziale und politische Frage verstanden.

Riesser, Jacoby und andere Demokraten jüdischer Herkunft gingen davon aus, dass die „Judenfrage“ sich keinesfalls von selbst erledigen würde, sondern dass erst mit der Durchsetzung freiheitlicher Prinzipien und demokratischer Verhältnisse die Benachteiligung und Zurücksetzung der jüdischen Bevölkerung aus der Welt geschafft werden könne. Dazu haben sie sich in Wort und Schrift immer wieder geäußert

Was die Einstellung und Sichtweisen zu den damaligen politischen Entwicklungen betraf, gab es durchaus auch Unterschiede. Das zeigt sich etwa bei einer Reihe von bürgerlichen Liberalen jener Zeit, bei Männern wie Gabriel Riesser und Johann Jacoby, aber auch später bei Politikern jüdischer Abstammung wie Heinrich Bernhard Oppenheim, Eduard Lasker und Ludwig Bamberger.

Die Letzteren haben sich in der nach-revolutionären Epoche, im Vorfeld der Reichsgründung, politisch betätigt, zeitweise radikal denkend, allerdings, das sei ausdrücklich vermerkt, nicht so radikal wie der Gesellschaftstheoretiker und Protagonist der Arbeiterbewegung Karl Marx, der schon früh eine Konzeption der „Judenfrage“ vertrat, die in der These gipfelte, die gesellschaftliche Emanzipation der Juden sei die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.

Die Ausführungen im vorliegenden Buch knüpfen in vielem an die Diskussionen an, die auf der Konferenz „Juden im Vormärz und in der Revolution 1848“ geführt wurden, welche ich zusammen mit dem Historiker Walter Grab vor vier Jahrzehnten 1982 in der Evangelischen Akademie in Mülheim/Ruhr ausgerichtet habe. Bei den Planungsgesprächen im Vorfeld zu dieser Konferenz gingen wir damals davon aus, dass nach wie vor erhebliche Interpretationsspielräume bestünden, was den innerjüdischen Einfluss auf die damaligen politischen Entwicklungen betreffe.

Wie, so fragten sich denn auch die Teilnehmer der Konferenz (u.a. Jacob Allerhand, Micha Brumlik, Arno Herzig, Jacob Toury, Zwi Rosen, Helmut Hirsch, Michael Riff, Konrad Feilchenfeldt, Margarita Pazi, Shlomo Na’aman, Susanne Miller und Michael Werner), haben bekannte und weniger bekannte jüdische Dichter, Publizisten, Politiker, Männer wie Frauen, diesen Prozess in den Jahren 1830 bis 1870 verarbeitet, und wie sind sie mit den Identitätsproblemen, die sich ihnen zur damaligen Zeit stellten, fertig geworden?

Mehrheitlich waren die Konferenzteilnehmer damals der Ansicht, die Werke, Schriften und Äußerungen der in den Vorträgen behandelten Dichter, Publizisten und Politiker würden wesentliche Aufschlüsse geben über die Identitätskonflikte der deutsch-jüdischen Akteure in jenen spannenden, revolutionären Jahren. In den Debatten wurde deutlich, dass man doch etwas mehr als bisher bekannt über die politischen Entwicklungen des Zeitraums von 1830 bis 1870 erfahren kann, jenen spannenden Zeitraum, den Jacob Toury zutreffend die „Formationsperiode des deutschen Judentums“ genannt hat.

Was uns damals in den Debatten besonders bewegte, war die Frage, ob es nicht vielleicht doch so etwas wie ein besonderes Verhältnis der Juden zur Demokratie gebe. So wurde diskutiert, ob das Streben mancher Juden nach demokratischen Verhältnissen nicht vielleicht symptomatisch und repräsentativ für die jüdische Bevölkerung in den Jahren zwischen 1830 und 1870 war. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage haben wir damals allerdings nicht gefunden.

Auf besagter Konferenz von 1982 wurden eher Vermutungen geäußert, aber keine Schlussfolgerungen gezogen, die neue Erkenntnisse gebracht und neue Ansätze zur Folge gehabt hätten. Einiges spräche dafür, so argumentierten einzelne Konferenzteilnehmer, dass die Vertreter der jüdischen Bevölkerung eher dem sozialen und politischen Wandel zugeneigt gewesen seien als ihre christlichen Mitbürger. Es war die Zeit, in der in der Geschichtswissenschaft sozioökonomische Fragestellungen die Identitätsfragen überlagerten.

Sollte es tatsächlich eine besondere Affinität zwischen Judentum und Demokratie geben, dann dürfte das, so meinte man, damit zusammenhängen, dass die Juden sich von den sozioökonomischen Umwälzungen mehr versprochen haben als ihre christlichen Mitbürger, die in Teilen zugegebenermaßen zwar ebenfalls für demokratische Rechte eintraten, aber mit den Forderungen der Juden nur wenig anzufangen wussten. Zumeist waren es antijüdische Vorurteile, die es verhinderten, es geradezu unmöglich machten, sich mit den Forderungen der Juden unbefangen zu solidarisieren.

Die damals geführten Diskussionen haben mich bis heute nicht losgelassen. Zahlreiche Bücher und Aufsätze, die ich in den nachfolgenden Jahren veröffentlichte, kreisten immer wieder um die damals in der Evangelischen Akademie in Mülheim/Ruhr behandelten Themen und Fragestellungen, vor allem darüber, welche Bedeutung der Vormärz und die Revolution 1848/49 und die dort erhobenen Forderungen für die preußisch-jüdische Beziehungsgeschichte hatten und ob Jüdinnen und Juden in Preußen dabei eine ganz eigene, spezifische Rolle spielten.

Es sind keine wirklich neuen Entdeckungen und Forschungsergebnisse, die hier in den folgenden Ausführungen vorgestellt werden, vielmehr wird bereits Erarbeitetes zusammengeführt und kontextualisiert, wodurch sich bisher unbeachtete Blickwinkel auftun mögen. Das eine oder andere mag für den Leser tatsächlich „neu“ sein, worauf es mir aber weniger ankommt. Mir geht es in erster Linie darum, damalige Verhaltensmuster, Positionierungen und Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung zu beschreiben und in den historischen Zusammenhang einzuordnen.

Um das zu erreichen, habe ich neben den allgemeinen historischen Darstellungen, hauptsächlich jene von Rüdiger Hachtmann, Christian Jansen, Dieter Langewiesche, Wolfram Siemann und Heinrich August Winkler, außerdem Arbeiten herangezogen, die bemüht sind, aus einer spezifisch jüdischen Perspektive die damaligen Geschehnisse zu beschreiben und zu erörtern.

Im Wesentlichen sind es die Arbeiten von Alex Bein, Horst Denkler, Walter Grab, Arno Herzig, Jacob Katz, Michael A. Meyer, Shlomo Na’aman, Eva G. Reichmann, Monika Richarz, Reinhard Rürup, Hans-Joachim Schoeps, Edmund Silberner und vor allem von Jacob Toury, die für die vorliegende Darstellung herangezogen wurden. Jeder dieser Autoren beziehungsweise Autorinnen hat sich bemüht, einen eigenen spezifischen Zugang zum hier verhandelten Thema zu wählen, um Antworten auf Fragen zu finden, die mir geholfen haben, bestimmte Entwicklungen in diesem Zeitraum besser zu verstehen.

In die nachfolgenden Ausführungen sind vor allem aber Forschungsergebnisse mit eingeflossen, die ich in Büchern und Aufsätzen in den letzten fünf Jahrzehnten veröffentlicht habe (siehe die im Anhang abgedruckte Bibliographie). Berücksichtigt werden aber auch markante Zeitzeugenberichte, die die Erlebnisse und Umbruchserfahrungen jüdischer Intellektueller, Schriftsteller und Politiker beschreiben und die von ihnen in Tagebüchern, Briefen und anderen Dokumenten festgehalten wurden.

Hauptsächlich sind es Schilderungen über die Teilnahme von Juden an den Barrikadenkämpfen in den Straßen Berlins und anderen preußischen Städten, aber auch Berichte über den Aufstieg des politischen Liberalismus und die Auswirkungen des preußischen Verfassungskonfliktes. Berücksichtigung finden in der Darstellung ebenso die im Reaktionsjahrzehnt einsetzenden rigiden Polizeimaßnahmen, die vielfach nicht nur zu Verurteilungen, sondern auch zur Flucht von 1848er-Demokraten und Zwangsaufenthalten in der Schweiz, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten führten.

Behandelt wird in den nachfolgenden Ausführungen aber auch eher historisch Beiläufiges, wie etwa die Umstände des Revolver-Attentates, das der junge Student Ferdinand Cohen-Blind im Mai 1866 auf Bismarck verübte. Cohen-Blind, Sohn des 1848er-Revolutionärs Karl Blind, verübte diesen Anschlag, weil er den preußischen Ministerpräsidenten für ein Verhängnis hielt und, was das Motiv für den Anschlag auf Bismarck war, den preußisch-österreichischen Krieg verhindern wollte. Auch solche Ereignisse gehörten zum dramatischen Auf und Ab der deutschen Demokratiegeschichte Mitte des 19. Jahrhunderts.

Besondere Berücksichtigung finden in den nachfolgenden Ausführungen vor allem die Arbeiten, die ich zu dem Volksaufklärer, Journalisten und jüdischen Religionsreformer A. Bernstein (1812–1884) im Verlauf der vergangenen Jahre vorgelegt habe. In der Person Bernsteins, der in engem Kontakt mit Gleichgesinnten wie Johann Jacoby, Moritz Veit, Berthold Auerbach, Leopold Zunz und Abraham Geiger stand, spiegelt sich die Aufbruch-Stimmung der Jahre zwischen 1830 und 1870, die von zahlreichen politischen und mentalitätsgeschichtlichen Umbrüchen bestimmt war und im Vorfeld der Reichsgründung eine wesentliche Bedeutung bekam.

A. Bernsteins politische Überzeugungen und Einstellungen sind wesentlich durch die in der 1848er-Revolution gemachten Erlebnisse bestimmt worden. Die Erfahrungen, die er damals machte, waren gewissermaßen typisch für eine Generation von Linksliberalen und Demokraten jüdischer Herkunft, die nach dem Scheitern der 1848er-Revolution, dem Zerfall des Deutschen Bundes und im Vorfeld der Reichsgründung hin- und hergerissen waren von der sie beschäftigenden Frage, ob sie sich eher für die Freiheit oder für die deutsche Einheit einsetzen sollten. Nicht wenige glaubten, dies sei kein Widerspruch und beides ließe sich am Ende problemlos miteinander verbinden.

Kleinere Textpassagen in den nachfolgenden Ausführungen sind den von mir verfassten Büchern und Aufsätzen zu Moses Mendelssohn, David Friedländer, Ludwig Kalisch, Moses Hess und A. Bernstein und ihren Aktivitäten entnommen. Sie gelangen in gekürzter, teilweise aber auch in überarbeiteter Form zum nochmaligen Abdruck. Einer der Gründe, weshalb ich so verfahre, ist der, dass manches, was ich vor dreißig oder vierzig Jahren zu Papier gebracht habe, nach wie vor aktuell ist.

Für das vorliegende Buch ist der Titel „Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848“ gewählt worden. Die Wahl des Buchtitels geschieht mit der erklärten Absicht, die Aufbruch-Stimmung der Jahre zwischen 1830 und 1870 charakteristisch zu beschreiben. Außerdem soll mit der Wahl des Haupttitels „Im Kampf um die Freiheit“ verdeutlicht werden, dass zahlreiche Juden seinerzeit durchaus angetan und begeistert davon waren, am politischen Leben Preußens teilzunehmen und ihren Anteil zum Aufbau einer freiheitlichen und demokratisch verfassten Gesellschaft zu leisten – und dies dann mitunter auch mit der Waffe in der Hand taten.

Zu guter Letzt möchte ich mich an dieser Stelle bei meinem langjährigen Mitarbeiter Dr. Olaf Glöckner sowie bei Sarah Jaglitz bedanken. Beide, mit denen ich die im Buch behandelten Sachverhalte und Themen wiederholt eingehend erörterte und diskutierte, haben das Manuskript nicht nur in der Entstehungsphase mehrfach gelesen, sondern mit ihren Anmerkungen, Hinweisen und kritischen Einwänden dazu beigetragen, dem Buch seine jetzige Fassung zu geben.

Das vorliegende Buch ist dem Andenken von Johann Jacoby und Gabriel Riesser gewidmet, die in der Zeit des Vormärz und in der Revolution von 1848 unbeirrt und mit Leidenschaft für Freiheit und Demokratie gekämpft haben. Diese beiden Männer, die es mir schon immer besonders angetan haben, sind heute weitgehend vergessen, verdienen es aber, dass man sie wieder in die kollektive Erinnerung zurückholt und sich mit ihrem Leben und ihren Sichtweisen – auch im Kontext heutiger Entwicklungen – neu auseinandersetzt. Auch dazu, so wünsche ich mir, soll die Lektüre des vorliegenden Buches ausdrücklich ermuntern.

Berlin-Charlottenburg, im Herbst 2021 J. H. Sch.
Im Kampf um die Freiheit

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