Читать книгу Spanien verstehen - Jutta Schütz - Страница 11

1. Verfassung und politische Institutionen

Оглавление

Unmittelbar nach den Wahlen vom 15.6.1977 wird im Kongress eine Kommission gebildet, die eine der drängendsten Aufgaben im Demokratisierungsprozess in Angriff nehmen soll: die Ausarbeitung einer Verfassung. Nach fünf Monaten legt die Ponencia, die mit der Erstellung eines Verfassungsentwurfs betraute Arbeitsgruppe, ein Anteproyecto de Constitución vor, das zunächst in der Verfassungskommission, dann im Kongress ausführlich diskutiert und modifiziert wird, bis die Kongressabgeordneten am 21.7.1978 zur Abstimmung schreiten und den Entwurf mit 258 Stimmen (bei 2 Gegenstimmen und 14 Enthaltungen) annehmen. Anschließend wird der Entwurf auch vom Senat noch einmal modifiziert, bevor die endgültige Version am 31.10.1978 in beiden Kammern getrennt zur Abstimmung kommt. Im Kongress votieren nun 316 Abgeordnete für die Vorlage (bei 6 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen), im Senat 226 (bei 5 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen).

Am 6. Dezember erhält die Bevölkerung die Gelegenheit, in einem Referendum ihr Votum zur Verfassung abzugeben, die allerdings nur von gut zwei Drittel der Wahlberechtigten wahrgenommen wird. Diejenigen, die sich an der Abstimmung beteiligen, votieren mit großer Mehrheit (fast 90 %) für die Vorlage. Daraufhin wird die Verfassung am 27.12.1978 in einer gemeinsamen Sitzung von Kongress und Senat von König Juan Carlos unterzeichnet. In seiner anschließenden Rede betont der König, auf welcher Grundlage die neue Verfassung beruht: Um einen möglichst breiten Konsens im Sinne des Gemeinwohls zu finden, müssen „egoísmos y personalismos“ zurückgestellt, dürfen „diferencias de matiz“ (unterschiedliche Nuancen) nicht überbewertet werden. Dann kann endlich die Spaltung in zwei Spanien, in die Sieger und Besiegten des Bürgerkriegs („las diferencias irreconciliables, el rencor, el odio y la violencia“), überwunden und eine „España unida“, geschaffen werden. Dieser Konsenscharakter der Verfassung, die sowohl für das rechte Lager als auch für die ehemalige antifranquistische Opposition annehmbar sein sollte, äußert sich bezüglich besonders konfliktiver Materien in offenen, bisweilen ambivalenten Formulierungen oder auch im Verzicht auf detaillierte Festlegungen, die stattdessen der künftigen Gesetzgebung überlassen wurden.

Nicht zu übersehen ist auch die Tatsache, dass sowohl das deutsche als auch das schwedische Grundgesetz bei der Ausarbeitung der spanischen Verfassung Pate gestanden haben. Sie umfasst nach einer Präambel und einem „Vortitel“ (Título preliminar) zehn Titel (mit insgesamt 169 Artikeln), eine Reihe von Zusatz- und Übergangsregelungen (Disposiciones adicionales bzw. transitorias), eine „Auflösungsklausel“ bezüglich aller Vorgängergesetze sowie eine Abschlussklausel, die das Datum des Inkrafttretens feststellt und alle spanischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen auf die Verfassung verpflichtet. Die in den Titeln behandelten Materien betreffen die grundsätzlichen Bürgerrechte und -pflichten, die verschiedenen staatlichen Institutionen (Krone, Parlament, Regierung und Verwaltung), das Justizwesen, Wirtschaft und Finanzen, die territoriale Gliederung und die Verfassung selbst (Kontrollorgan und Reform), während die Zusatz- und Übergangsregelungen sich vor allem auf Fragen des Foralsystems und des Autonomieprozesses beziehen.

Bereits die Präambel beinhaltet eine deutliche Absage an die Strukturen des franquistischen Regimes: Ein besonderer Stellenwert wird zum einen der Etablierung einer demokratischen Grundordnung beigemessen, zum andern der Absage an den Zentralismus, denn schon an dieser exponierten Stelle wird den „pueblos de España“ der Schutz ihrer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Institutionen zugesichert.

Der der Präambel folgende „Vortitel“ fasst in 9 Artikeln entscheidende Grundlagen der neuen spanischen Demokratie zusammen. In Artikel 1 werden Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischer Pluralismus als Grundwerte des neuen spanischen Rechtsstaates definiert. Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, die Staatsform ist die parlamentarische Monarchie. Das heikle Verhältnis zwischen Staat und Regionen spiegelt sich in Artikel 2 in einer etwas vagen Kompromissformulierung: Zunächst wird die „unauflösliche Einheit der spanischen Nation“, der „gemeinsamen und unteilbaren Heimat aller Spanier“, festgeschrieben, dann aber das „Recht auf Autonomie“ der einzelnen „Nationalitäten und Regionen“ anerkannt und garantiert. In der Sprachenfrage wird die Rolle des Spanischen als offizielle Staatssprache, deren Kenntnis Pflicht jedes Bürgers ist, festgelegt, zugleich aber wird die sprachliche Vielfalt Spaniens als schützenswertes Kulturgut eingestuft und den „übrigen spanischen Sprachen“ in den jeweiligen Autonomien der offizielle Status zugebilligt (Art. 3). Auch die Anerkennung der eigenen Flaggen (neben der spanischen) wird den Comunidades Autónomas in den jeweiligen Statuten (Estatutos de Autonomía) ausdrücklich zugesagt.

Der politische Pluralismus und damit die Zulassung unterschiedlicher demokratischer Parteien wird ebenso festgeschrieben wie die freie Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, und schließlich wird den öffentlichen Organen die Aufgabe zugewiesen, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit für alle nicht nur auf dem Papier stehen, sondern in der Praxis umgesetzt werden können.

An der Berücksichtigung der Streitkräfte in der Verfassung lassen sich die politisch und historisch bedingten Rücksichtnahmen recht gut ablesen. In Art. 8 wird ihnen als Garant nicht nur der äußeren („soberanía e independencia de España“, „integridad territorial“), sondern auch der inneren Sicherheit („ordenamiento constitucional“) eine bedeutsame Rolle im neuen Staat überantwortet.

Titel I ist dann den Grundrechten und -pflichten der Spanier gewidmet, die in Art. 14–38 ausführlich und detailliert festgehalten werden. Ein heikler Punkt war die Neuregelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, die unter Franco so symbiotisch miteinander verflochten waren. Art. 16 garantiert die Freiheit der Religion und Ideologie und betont, dass keiner Konfession der Status einer Staatsreligion zukomme. Die öffentlichen Organe würden aber die religiösen Überzeugungen der spanischen Gesellschaft berücksichtigen und entsprechend mit der „katholischen Kirche und den übrigen Konfessionen“ kooperieren. Hier wird erneut der Kompromisscharakter der Verfassung deutlich, indem die „Iglesia Católica“ durch explizite Nennung den „demás confesiones“ gegenüber eine Sonderstellung erhält. Was aber einen der vormals wichtigsten Einflussbereiche der Kirche, den Erziehungssektor, betrifft, so bleibt die spanische Verfassung sogar hinter den Formulierungen des deutschen Grundgesetzes zurück, das in Art. 7,3 den Religionsunterricht zum ordentlichen Lehrfach an allen öffentlichen Schulen (mit Ausnahme der bekenntnisfreien) erklärt, wenn auch Absatz 2 desselben Artikels den Erziehungsberechtigten das Recht zuspricht, über die Teilnahme ihres Kindes selbst zu bestimmen. Die spanische Verfassung stellt zunächst ausdrücklich fest, dass die demokratischen Regeln des Zusammenlebens die Erziehung zu leiten haben (und damit implizit nicht notwendigerweise religiöse Grundsätze). Der Religionsunterricht wird hier nicht zwingend vorgeschrieben, sondern es wird den Eltern das Recht zuerkannt, ihren Kindern die religiöse und moralische Unterweisung zukommen zu lassen, die ihren eigenen Überzeugungen entspricht, ohne dass an dieser Stelle eine Konfession hervorgehoben würde. Das Recht auf Gründung von Privatschulen bleibt freilich erhalten, und zwar ohne den Zusatz des deutschen Grundgesetzes, dass „eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert“ werden darf (Art. 7,4).

Des Weiteren werden das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Abwesenheit jeglicher Zensur ebenso festgeschrieben wie die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft, die Freizügigkeit innerhalb Spaniens, die Reisefreiheit, das Versammlungsrecht, der Datenschutz, die juristische Gleichstellung beider Partner in der Ehe und sogar die „Auflösbarkeit“ (disolución) der Ehe – auch hier wird die Distanzierung von der katholischen Kirche offenbar. Folter und Todesstrafe werden abgeschafft, Haftstrafen sollen der Resozialisierung und Reintegration in die Gesellschaft dienen.

Das Recht auf Privateigentum wird anerkannt, aber wie im deutschen Grundgesetz mit einer sozialen Verpflichtung verbunden, die im Konfliktfall auch Enteignungen ermöglicht. In Titel VIII, der den Bereichen Wirtschaft und Finanzen gewidmet ist, wird diese Klausel auf „toda la riqueza del país“ ausgeweitet.

Alle Spanier haben die Pflicht und das Recht zu arbeiten, wobei niemand aufgrund seines Geschlechts benachteiligt werden darf, auch nicht in der Entlohnung. Die jeweiligen Lohntarife sind zwischen Arbeitgebern und -nehmern auszuhandeln, wobei zum einen ein Mindestlohn garantiert wird, zum andern beide Seiten das Recht haben, die entsprechenden Maßnahmen des Arbeitskampfes (Streiks, Aussperrungen) einzusetzen. Der Staat wird nicht nur die Einrichtung von Kooperativen fördern und betriebliche Mitbestimmung ermöglichen, sondern auch den Arbeitern den Zugang zum Eigentum an Produktionsmitteln erleichtern. Den Unternehmen wird freie Entfaltung im Rahmen der Marktwirtschaft zugesichert, soweit sie im Einklang mit den Erfordernissen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und eventueller staatlicher Planungsvorgaben steht, die dann zu erwarten sind, wenn die „kollektiven Bedürfnisse“ („necesidades colectivas“) es erfordern. Auch hier wurde also eine etwas ambivalente Formulierung gewählt, die Interpretationsmöglichkeiten in unterschiedlichen Richtungen zulässt. Eindeutig ist freilich die in Art. 40,1 postulierte Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf das Ziel der Vollbeschäftigung.

Zu den Richtlinien der Sozial- und Wirtschaftspolitik zählt der Schutz der Familie und insbesondere der Kinder und Mütter, unabhängig vom Familienstand. Der Staat verpflichtet sich, die Gesundheit seiner Bürger zu schützen, Sport- und sonstige Freizeitangebote zu fördern und allen den Zugang zur Kultur zu ermöglichen. Das Recht aller auf eine intakte Umwelt wird mit der Pflicht verbunden, für deren Erhaltung Sorge zu tragen. Allen Spaniern wird das Recht auf eine angemessene Wohnung zugesprochen, Bodenspekulation soll verhindert werden. Die Integration von Behinderten, Altersversorgung, Verbraucher- und Arbeitsschutz finden ebenso Erwähnung wie die Belange der spanischen Arbeiter im Ausland, deren Rückkehr staatlich gefördert werden soll.

Um die Grundrechte zu garantieren, wird ein Volksanwalt (Defensor del Pueblo) eingesetzt, eine Art Ombudsmann nach schwedischem Vorbild, der vom Parlament auf fünf Jahre ernannt wird und die Arbeit der Administration kontrollieren soll. Seine Dienste kann jeder Bürger in Anspruch nehmen, wenn er über eine staatliche Stelle Beschwerde führen möchte.

Spanien verstehen

Подняться наверх