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1. Spaniens Größe und Niedergang (1492–1898)

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Um das heutige Spanien in seiner politischen Gliederung und seinem steten Ringen zwischen zentralistischen und zentrifugalen Kräften zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die Genese des spanischen Nationalstaates zu werfen. Nachdem die Iberische Halbinsel Phasen der Romanisierung, Germanisierung (durch die Westgoten) und Islamisierung erfahren hat, markiert das Jahr 1492 eine Zeitenwende.


Abb. 1: Die Königreiche auf der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert

Hier wird der Beginn des Siglo de Oro angesetzt, in dessen Verlauf Spanien zur Großmacht aufsteigt, aber auch seinen langsamen Niedergang antritt und, etwas zeitversetzt, eine großartige Phase kultureller Blüte erlebt. Die frühabsolutistischen Herrscher Isabel I. von Kastilien und Fernando II. von Aragón, die später den Beinamen Reyes Católicos erhielten, haben durch Heirat ihre beiden Königreiche zusammengeführt und damit den Grundstein des modernen Spaniens gelegt. Erstmals wird seitens eines starken Königtums, das schon mittels Zentralbehörden (Consejos) regiert, die Macht von Feudaladel und Ritterorden zu brechen versucht. Die Reyes Católicos streben danach, ihren Machtbereich auszudehnen und einen einheitlichen ‚Christenstaat‘ zu etablieren – die Religion wird also von Beginn an als identitätsstiftendes Merkmal des neuen Staatsgebildes gesetzt. Daher lassen sie den seit Jahrzehnten ruhenden Krieg gegen das Königreich Granada, das letzte maurisch regierte Territorium auf der Halbinsel, wieder aufleben. Als cruzada (Kreuzzug) deklariert, wird ein grausamer Kampf gegen die durch innere Probleme geschwächte Nasridendynastie geführt, der 1492 mit der Einnahme Granadas durch die christlichen Heere endet. In der Folge werden die Juden aus Spanien vertrieben, die Mauren zur Konversion gedrängt. Diese Neuchristen, moriscos, gehören zu den bevorzugten Opfern der Bespitzelung und Verurteilung seitens der seit 1478 operierenden Inquisition. Nachdem nun die Reconquista, die Rückeroberung, der Halbinsel abgeschlossen ist, beginnt im gleichen Jahr 1492 die Expansion über Europa hinaus: Kolumbus entdeckt im Auftrag des Königspaares die Neue Welt, womit die Conquista des amerikanischen Kontinents ihren Anfang nimmt. Auch hier gehen territoriale Machtinteressen und religiöses Sendungsbewusstsein Hand in Hand, denn die Eroberungszüge eines Hernán Cortés oder Francisco Pizarro werden mit dem christlichen Missionierungsauftrag legitimiert.

1516 folgt der Enkel der Katholischen Könige, Carlos I., im Alter von nur sechzehn Jahren auf den spanischen Thron. Drei Jahre später wird er, dessen Großvater väterlicherseits Kaiser Maximilian war, zum deutschen Kaiser Karl V. gewählt. Mit ihm beginnt die Regierungszeit der Habsburger, der Casa de Austria, in Spanien. Die Verwaltung des riesigen Reiches, das in Europa außer Spanien u.a. die Niederlande, Burgund, Neapel, Sizilien, Sardinien, Österreich, Ungarn umfasst, zudem die amerikanischen Kolonien, gestaltet sich äußerst schwierig, zumal fortwährend sowohl innere als auch äußere Konflikte zu bewältigen sind: In Deutschland hat die Reformation das Zeitalter der Religionskriege eröffnet, Frankreich kämpft gegen die habsburgische Dominanz in Europa an, die Türken dringen bis nach Wien vor. In Spanien, wo der Monarch nur einen Bruchteil seiner Regierungszeit verbringt, werden die Verwaltungsgeschäfte weiterhin von den Consejos wahrgenommen, an deren Spitze der vom König geleitete Consejo de Estado steht. In den Städten wird die königliche Macht durch Corregidores repräsentiert. Aber der Widerstand gegen die bereits von den Reyes Católicos eingeleitete Zentralisierung des Reiches sowie gegen die Entmachtung des Feudaladels und der Städte wächst und bricht 1520–1522 im Aufstand der Comuneros, der kastilischen Städte, offen aus. Dem König gelingt es, den Aufstand niederzuschlagen und damit seine Position zu festigen. In seinem Plan, ein christliches (katholisches) Universalreich zu errichten, muss Karl allerdings scheitern – zu groß ist das Reich und zu zahlreich sind die Konflikte und Widerstände. Nachdem er 1556 abgedankt hat, teilt sich die Habsburgerdynastie in eine österreichische und eine spanische Linie: sein Bruder Ferdinand wird deutscher Kaiser, sein Sohn erhält als Felipe II. (1556–1598) die Länder der spanischen Krone.

Felipe II. setzt dem nomadischen Regierungsstil seines Vaters Sesshaftigkeit entgegen: Madrid wird Hauptstadt, und er lässt in der Nähe den Escorial erbauen, von wo er seine Regierungsgeschäfte führt. Zum einen versucht er das Imperium von innen zu festigen und weiter zu zentralisieren, zum andern gelingt es ihm, der nicht mehr mit den Problemen des Deutschen Reiches belastet ist, durch den Sieg über die türkische Flotte bei Lepanto (1571) und die Angliederung Portugals mitsamt seinen Kolonien (1580) die spanische Vormachtstellung in Europa kräftig auszubauen. Allerdings kündigt sich in seiner Regierungszeit auch die Wende in der spanischen Machtpolitik an, die den jahrhundertelangen Abstieg einleitet. Markiert wird dieser Umschwung durch den Aufstand und schließlich Abfall der Niederlande (1581 erklären die Nordprovinzen ihre Unabhängigkeit) und vor allem durch die Niederlage der „unbesiegbaren“ (invencible) Armada (1588), die ausgezogen war, England zu erobern und damit den reformatorischen Kräften in Europa ein Ende zu machen. Mit der Armada wird das Symbol des spanischen Machtstrebens zerstört, das sich nach wie vor durch den vermeintlich gottgewollten Kampf gegen Andersgläubige, denen nun auch die Protestanten zugerechnet werden, legitimiert.

In diese Zeit fällt die Entstehung der Leyenda Negra, eines düsteren Spanienbildes, das sich auf die Grausamkeiten während der Eroberung Amerikas, aber auch auf das menschenverachtende Vorgehen der Inquisition in Spanien und den Niederlanden gründet; sie weist einerseits also durchaus eine reale Basis auf, hat andererseits aber auch gezielt propagandistische Funktionen im Kampf (z.B. Englands und der Niederlande) gegen die spanische Hegemonie in Europa. Zugleich erlebt Spanien den Beginn einer unvergleichlichen kulturellen Blütezeit, die mehr noch als der politische Aufstieg zur Epochenbezeichnung Siglo de Oro geführt hat.

Der Niedergang des spanischen Weltreichs nimmt unter den folgenden Herrschern seinen Lauf. Im Innern wächst die Macht der Günstlinge, der Privados und Validos in solchem Maße, dass die Regierungsgeschäfte unter Felipe III. (1598–1621) faktisch vom Duque de Lerma und unter seinem Nachfolger Felipe IV. (1621–1665) vom Conde-Duque de Olivares geführt werden. Insbesondere der Duque de Lerma nutzt seine Position vor allem, um sich persönlich zu bereichern, und geht als „größter Dieb Spaniens“ in die Geschichte ein.

Spanien verliert seine europäische Großmachtstellung an Frankreich, das unter Louis XIV. eine Glanzzeit erlebt. Als Carlos II., der letzte Habsburger auf dem spanischen Thron, 1700 stirbt, hinterlässt er ein abgewirtschaftetes Land, von dessen einstiger Größe nur noch die außereuropäischen, vor allem amerikanischen, Kolonien bleiben. Die Gründe für den Niedergang des spanischen Weltreiches sind vielfältig, sie sind sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik und nicht zuletzt in der Wirtschaft zu suchen. Das Land ist durch den rasanten Aufstieg hoffnungslos überfordert. Es mangelt an Infrastruktur, und die unproduktiven Schichten (Adel und Klerus) überwiegen, insbesondere nachdem die Limpieza de sangre-Politik das Land seiner ökonomisch vitalsten Bevölkerungsgruppe beraubt hat. Der Gold- und Silberimport aus den amerikanischen Kolonien führt nicht nur zur Inflation, sondern bestärkt den Adel, an seinem arbeitsfeindlichen Ehrenkodex festzuhalten. Feudaladel, Städte und die Randprovinzen erheben sich von innen gegen die zentrale Monarchie, von außen verschlingen Glaubenskriege und Piratenkämpfe große Mengen an Rohstoffen und Geld. Die Demontage des einstigen Weltreiches setzt sich in den beiden folgenden Jahrhunderten fort, bis schließlich 1898 die letzten spanischen Kolonien unabhängig werden.

Die Herrschaft der Bourbonen im 18. Jahrhundert bringt Spanien eine Phase an Frankreich orientierter Reformpolitik, die sich vor allem im Versuch einer zentralistischen Straffung der Verwaltung, in Verbesserungen der Transportwege und Förderprogrammen für Industrie und Landwirtschaft niederschlägt. Das Land erholt sich wirtschaftlich, aber radikale Veränderungen bleiben aus: die Provinzen verhindern eine völlige Zentralisierung, die feudalen Großgrundbesitzer vereiteln wirklich durchgreifende Landreformen, und auch eine industrielle Revolution wie in anderen europäischen Ländern findet in Spanien nicht statt. Durch die Annäherung an Frankreich und die Öffnung für die Ideen der Aufklärung kommt eine gewisse geistige Unruhe nach Spanien, und das Land beginnt sich zu polarisieren: eine kleine Gruppe von Progresistas (allen voran Gaspar Melchor de Jovellanos) nimmt das aufklärerische Gedankengut aus dem Norden bereitwillig auf und tritt für eine Liberalisierung des absolutistischen Systems und für die Zentralisierung des Landes ein. Dafür werden die „Fortschrittlichen“ von der konservativen Mehrheit, die an einem zu Europa hin abgeschotteten, absolutistisch regierten und regionalistisch organisierten Spanien festhalten möchte, als Afrancesados (Französlinge) beschimpft. Dieser Gegensatz zwischen den dos Españas, den europafreundlichen, liberalen Progresistas und den auf spanische Traditionen pochenden Traditionalisten, wird in den folgenden Jahrhunderten die politische Entwicklung des Landes bestimmen.

Napoleon, der 1806 Truppen auf die Iberische Halbinsel schickt, setzt seinen Bruder Joseph als José I. (1806–1814) auf den spanischen Thron und löst mit diesem Übergriff am 2.5.1808 einen Volksaufstand aus. In Madrid folgen am nächsten Tag radikale Gegenmaßnahmen: die französischen Besatzer lassen Tausende von Geiseln erschießen und provozieren damit den Ausbruch des spanischen Unabhängigkeitskrieges, des ersten nationalen Befreiungskrieges gegen Napoleons Hegemonialpolitik. Der Widerstand wird in Juntas organisiert, kleinen Volksvertretungen, die sich in den Provinzen bilden und später eine Junta Central konstituieren. Obwohl diese Juntas von einer intellektuellen Minderheit gestellt werden, sind sie dennoch als erster Ansatz einer demokratischen Regierungsform in Spanien anzuerkennen, denn sie sind nicht nur für die Koordination der Kampfhandlungen zuständig, sondern übernehmen die Funktion einer Gegenregierung. Zudem beruft die Junta Central in Cádiz eine verfassunggebende Versammlung (Cortes Constituyentes) ein, die 1812 die erste liberale Verfassung Spaniens vorlegt. Diese Verfassung, im Volksmund La Pepa genannt, propagiert eine konstitutionelle Monarchie, die auf Volkssouveränität und Gewaltenteilung beruht. Inquisition und Feudalrechte sollen abgeschafft werden, Adelsprivilegien bei der Besetzung öffentlicher Ämter werden aufgehoben, Pressefreiheit wird gefordert. Die Rebellen erhalten Unterstützung von England und sind in der Anwendung der damals neuen Guerilla-Taktik so erfolgreich, dass das französische Heer zwar ganz Spanien mit Ausnahme von Cádiz besetzen, den Krieg aber nicht für sich entscheiden kann. Als Napoleon Truppen für den Russlandfeldzug aus Spanien abzieht, gelingt es, die französischen Invasoren zu vertreiben, und 1814 kehrt Fernando VII. (als el deseado) in einem verwüsteten Land auf den Thron zurück.


Abb. 2: Das spanische Weltreich um 1580

Nun brechen die Gegensätze zwischen Liberalen und Konservativen, die durch den gemeinsamen Kampf vorübergehend verdeckt worden waren, wieder auf: Die Verfassung von Cádiz, das Werk einer liberalen Minderheit, repräsentiert beileibe nicht den „Willen des Volkes“, das folglich keinen Widerstand leistet, als Fernando VII. sie sogleich außer Kraft setzt. Er führt die Inquisition wieder ein, ruft die Jesuiten zurück, löst die Cortes auf und regiert absolutistisch. Eine Zeit der Restauration beginnt, und im Konflikt der ‚zwei Spanien‘ (las dos Españas) haben nun zunächst die Traditionalisten die Oberhand, während die Liberalen grausam verfolgt werden. Das harte Regime provoziert einige erfolglose Erhebungen, bis schließlich 1820 ein Staatstreich des Generals Riego die Liberalen für drei Jahre (Trienio liberal) an die Macht bringt. Fernando wird gezwungen, die Verfassung von Cádiz anzuerkennen, aber schon 1823 wird die liberale Bewegung durch ein französisches Interventionsheer niedergeworfen, und Fernando annulliert die Verfassung erneut. Das letzte Jahrzehnt seiner Regierungszeit ist durch eine noch härtere Verfolgung der Liberalen gekennzeichnet, die angesichts drohender Exekutionen wenn irgend möglich ins Ausland zu fliehen versuchen.

In den Kolonien freilich konnte Fernando die Widerstandsbewegungen nicht unterdrücken. Der weißen Minderheit der criollos gelingt es, unter Anwendung der gleichen Strategien, die die Spanier im Unabhängigkeitskrieg benutzt hatten, die Selbständigkeit zu erlangen. Zwischen 1816 und 1825 verliert Spanien alle überseeischen Besitzungen bis auf Kuba, Puerto Rico und die Philippinen.

Nach dem Tod von Fernando VII. (1833) entbrennt erneut ein Streit um die Erbfolge. Zwar wird das Gesetz, das seit Anfang des 18. Jahrhunderts die weibliche Thronfolge verbot, geändert und so die Inthronisierung von Fernandos Tochter Isabel ermöglicht, aber der Bruder des Königs, Carlos, erkennt sie nicht als Thronerbin an und erhebt, unterstützt von den extremsten Absolutisten, eigene Ansprüche auf die Krone. Das Land zerfällt erneut in zwei unversöhnliche Lager, die ultrakonservativen Carlistas und die liberalen Isabelinos, die sich in mehreren Bürgerkriegen, den sog. Karlistenkriegen, bekämpfen. Der erste Karlistenkrieg (1833–1840) bricht um die Frage der Thronfolge aus und endet mit einem Sieg der Liberalen und der Anerkennung Isabels als Königin (in deren Vertretung bis 1843 ihre Mutter María Cristina die Regentschaft übernahm). Aber die Karlisten erheben sich noch zwei weitere Male in dem Versuch, das alte absolutistische und regionalistische System (besonders die Basken, Katalanen und Valencianer kämpfen darum, ihre alten Fueros zurückzuerhalten) in Spanien wiederherzustellen. Doch sie können nicht verhindern, dass die sog. Era Isabelina tiefgreifende Änderungen im spanischen Sozialgefüge mit sich bringt. Die Vorrangstellung von Adel und Klerus wird durch die Herrschaft des Geldes abgelöst. Durch die Veräußerung der brachliegenden Kirchenländereien wird nicht wie geplant eine gerechtere Landverteilung erreicht, sondern die Entstehung neuen Großgrundbesitzes in den Händen des gehobenen Bürgertums.

Politisch gesehen ist die Era Isabelina vor allem durch Instabilität geprägt. Zum erwähnten Antagonismus zwischen Karlisten und Liberalen kommt die Spaltung letzterer wiederum in zwei Flügel: in die Moderados, das gemäßigte großbürgerliche Lager, das für eine konstitutionelle Monarchie eintritt, und die radikaleren Progresistas aus dem kleinen und mittleren Bürgertum, die sich für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts stark machen. Beide Gruppierungen ergreifen alternierend die Macht, wobei die Ablösung häufig gewaltsam, in Form von Pronunciamientos (Staatsstreichen) geschieht. So sind, neben Regentin und Königin, die liberalen Generäle in dieser Epoche die entscheidenden Akteure auf der politischen Bühne. Während eine effiziente politische Arbeit aufgrund der ständigen Regierungswechsel kaum möglich ist, herrscht ab der Jahrhundertmitte in der Wirtschaft Aufbruchsstimmung: Ein Eisenbahnnetz wird aufgebaut, das in seiner strahlenförmigen, von Madrid ausgehenden Anlage dem wachsenden Zentralismus Rechnung trägt, Industriebetriebe entstehen, das Bankwesen gewinnt durch die zunehmenden Kapitalbewegungen an Bedeutung – das industrielle Zeitalter erreicht Spanien, wenn auch der Agrarsektor nach wie vor dominiert und das völlig mittellose ländliche Proletariat einen Großteil der Bevölkerung ausmacht.

Soziale Spannungen und zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik Isabels und der von ihr favorisierten Moderados veranlassen die Bildung einer Mitte-Links-Koalition zwischen Unión Liberal, Progresistas und den neuen Republikanern (unter Führung der Progressisten), die schließlich zur Septemberrevolution von 1868, La Gloriosa, führt. Nachdem Isabel abdanken und nach Frankreich ins Exil gehen musste, übernimmt General Serrano die Führung einer provisorischen Regierung. Eine neue Verfassung wird ausgearbeitet, die zwar an der Monarchie festhält, aber ansonsten sehr fortschrittlichen Zuschnitts ist: Volkssouveränität, allgemeines Wahlrecht und Religionsfreiheit werden postuliert. Als König von Spanien wird Amadeo von Savoyen (1871–1873) ausersehen, Sohn des italienischen Königs, dessen gutem Willen von allen Seiten Widerstand entgegengebracht wird: von den Republikanern, den Anhängern Isabels wie den Karlisten und schließlich von der Masse der Bevölkerung, die keinen Ausländer zum König haben möchte. Der dritte Karlistenkrieg bricht aus, Amadeo dankt ab, und in Spanien wird im Februar 1873 die Erste Republik ausgerufen.

In dem knappen Jahr ihres Bestehens hat sie nicht weniger als vier Präsidenten (Figueras, Pi y Margall, Salmerón und Castelar), von denen es keinem gelingt, das Land friedlich neu zu ordnen. Der Entwurf einer föderalistischen Verfassung bestärkt die zentrifugalen, nach Selbständigkeit strebenden Kräfte, und es kommt zur Ausrufung regionaler Regierungen. Ein neuer Staatsstreich macht der Ersten Republik ein Ende, und wieder übernimmt General Serrano die Übergangsregierung, während die Restauration der Bourbonenmonarchie vorbereitet wird. Die Restaurationsepoche umfasst die Regierungszeiten des Sohnes von Isabel II., der als Alfonso XII. 1875 den Thron besteigt, dessen Frau María Cristina, die nach Alfonsos frühem Tod von 1888 bis 1902 die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn übernimmt, und schließlich dieses Sohnes, der als Alfonso XIII. bis zur Ausrufung der Zweiten Republik 1931 regiert. 1876 wird eine neue Verfassung verkündet, die die konstitutionelle Monarchie als Regierungsform festschreibt. Der König regiert mit den in zwei Kammern – Cámara de Diputados und Senat – gegliederten Cortes und verfügt über ein Vetorecht. Das entscheidende Kennzeichen der Regierungsform der Restaurationszeit ist aber das sog. Sistema Canovista, benannt nach dem Führer der konservativen Partei Antonio Cánovas del Castillo, das auf einem festgelegten, geregelten Regierungswechsel der beiden großen Parteien beruht. Bis 1890 führen beide Parteien alternierend die Regierung, ohne dass Wahlen stattfinden. Danach werden zwar Wahlen abgehalten, aber die mangelnde Bildung der Bevölkerung und das harte Durchgreifen der Caciques (örtliche Autoritäten) sorgen dafür, dass sie eine Farce bleiben und stets das von oben gewünschte Ergebnis hervorbringen. Die beiden großen Parteien, insbesondere der Konservativen-Führer Cánovas, preisen diesen „undemokratischen Parlamentarismus“ als Garant für politische Stabilität und ökonomische Prosperität. Sie können aber nicht verhindern, dass der strenge Zentralismus und die im Zuge der Industrialisierung immer gravierenderen sozialen Probleme zu Unruhe und Widerstand führen. Während der größte Teil Spaniens in wenig entwickelten Agrarstrukturen verharrt, werden Katalonien und das Baskenland von der europäischen Industrialisierungswelle erfasst. Die führenden Schichten dieser ökonomisch aufstrebenden Regionen wehren sich zunehmend dagegen, durch den Madrider Zentralismus in die Wirtschaftsmisere des restlichen Landes involviert zu werden.

Aber auch auf einer anderen Ebene formiert sich der Widerstand gegen das Restaurationsregime: Die in den Industrieregionen immer zahlreicher werdenden, aber durch das Sistema Canovista von jeglicher Regierungsbeteiligung ausgeschlossenen Arbeiter beginnen sich zu organisieren, um ihre Interessen zu verteidigen. Es entstehen drei Strömungen: Sozialisten, Anarchisten und die katholische Arbeiterpartei Círculo Católico Obrero, die aber neben den beiden erstgenannten keine große Bedeutung hat. Die Sozialisten schließen sich in dem 1879 von Pablo Iglesias gegründeten PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und der Gewerkschaft UGT (Unión General de Trabajadores) zusammen, die zahlenmäßig deutlich stärkeren Anarchisten gründen die Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo).

1898 verliert Spanien nach jahrelangem Ringen im Krieg gegen die USA mit Kuba, Puerto Rico und den Philippinen seine letzten überseeischen Besitzungen und damit auch das letzte Überbleibsel des einstigen Weltmachtstatus. Die Niederlage stürzt das Land in eine tiefe Krise, die die ungelösten Probleme des gesamten 19. Jahrhunderts noch einmal fokussiert. Latifundisten und Großbourgeoisie trachten danach, Macht und Besitz um jeden Preis zu erhalten, während Industrie- und Landarbeiter sich angesichts der Bemühungen, sie politisch auszuschalten, zu radikalisieren beginnen und immer häufiger Terrorakte verübt werden. Diese desaströse Situation löst bei den spanischen Intellektuellen und Schriftstellern die Suche nach einem neuen Selbstverständnis, einem authentischen Spanienbild aus, das sich nicht mehr an alte Großmachtphantasien klammert, sondern der komplexen sozialen und politischen Gegenwart Rechnung trägt. Das fatale Jahr 1898 wird zum Etikett dieser Bewegung: la Generación del 98.

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