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Vorwort

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Sie haben es hier mit einem Land zu tun, das bis zur Banalität vernünftig, bis zur Langweile normal ist, genau wie die Bundesrepublik […] Seinen Charme hat Spanien gründlich eingebüßt. Die Arbeitslosigkeit geht mir auf die Nerven, der Terrorismus, die Kriminalität, die Putschgefahr, das Schlamassel, die Häßlichkeit. Aber ich muß Ihnen sagen: ich sehne mich nicht zurück in die dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre. Sie werden feststellen, daß heute auf einen spanischen Fanatiker mindestens zehn völlig normale Menschen kommen. Nach Jahrhunderten des Schwachsinns ist das ein Triumph, mein Lieber. Ein Triumph.

Hans Magnus Enzensberger: Ach Europa! (1987)

Der vorliegende Band ist als Sammlung eines übergreifenden und gleichzeitig differenzierten spanischen Landeswissens gedacht und distanziert sich von einem auf Gemeinplätzen beruhenden Kulturverständnis, das der Realität nie gerecht werden kann. Der Band will zunächst Fakteninformationen vermitteln und gleichzeitig ein möglichst ausführliches Orientierungswissen bereitstellen, das den Ausgangspunkt für weiterführende Annäherungen insbesondere kulturwissenschaftlicher Art bilden soll. Daher bemühen sich die Verfasser auch um die Vermittlung von historischem und sozialwissenschaftlichem Grundwissen, was natürlich eine Auseinandersetzung mit den politischen und kulturellen Verhältnissen mit einschließt. Dahinter steht die Überzeugung, dass neben Sprachkenntnissen bestimmte Grundkenntnisse über ein Land wichtig sind, um kommunizieren zu können – und dies ist ja das Hauptziel der Beschäftigung mit fremden Kulturen. Fremdsprachen müssen in Beziehung zu ihrem Umfeld gesetzt werden, denn ohne ein grundlegendes Wissen über die Länder, deren Sprachen man lernt, entstehen leicht Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Auch deshalb hat sich innerhalb der Fremdsprachendidaktik die Landeskunde bzw. die Landeswissenschaft als Disziplin etabliert. Letztere präsentiert Fakten nicht isoliert, sondern ihr Hauptanliegen besteht darin, Entwicklungstendenzen und Interessenzusammenhänge aufzuzeigen, die aus landesspezifischen Kontexten verständlich werden.

Für den vorliegenden Band ergab sich daraus zunächst die Aufgabe, das zum Verständnis Spaniens relevante landeskundliche Wissen möglichst umfassend zusammenzutragen. Angestrebt wird, eine große Bandbreite von Themen und Themenaspekten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu berücksichtigen und miteinander in Beziehung zu setzen. Deshalb sind die Geschichte und die politische Organisation Spaniens ebenso behandelt wie die Wirtschaftsordnung, die Sozialstruktur und das Bildungswesen. Dabei werden sowohl aktuelle Strukturen aufgezeigt als auch ihre historische Genese und ihr Wandel unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung erläutert. Dass dabei die künstlerischen Bereiche weitgehend ausgeklammert bleiben (nur das Kino wird im Medienkapitel behandelt), liegt darin begründet, dass die Autoren des vorliegenden Bandes von einem erweiterten Kulturbegriff ausgehen und Literatur, Musik oder bildende Kunst in anderen Wissenschaftsdisziplinen verhandelt werden.

Natürlich ist jede Auswahl subjektiv, jeder erlebt ‚sein‘ Spanien anders. Im vorliegenden Band steht die Bemühung im Vordergrund, die Begeisterung für das ‚andere‘ Spanien zu relativieren, für das Land, das sich angeblich nicht in das Konzert der westlichen Nationen einreiht, weil nach Arnold Nolden und anderen hinter den Pyrenäen Afrika beginnt. Entsprechende Auffassungen wurden in den 30er Jahren vertreten, jetzt sollen jedoch keine nationalen Stereotype mehr reproduziert werden. Wer etwas über spanischen Wein, Flamenco und Gitarrenmusik, so interessant das alles auch sein mag, erfahren möchte, wird enttäuscht sein. Nicht einmal die weniger bekannte Klischeevorstellung von den Preußen des Südens wird hier erwähnt, denn die wissenschaftliche Seriosität verlangt es, dass keine nationalen Wesensmerkmale genannt und keine Ausführungen zum ‚Volkscharakter‘ der Spanier gemacht werden. Stereotype mögen, wenn man sich einem Land und seinen Menschen annähert, zur ersten Orientierung notwendig sein; aber eine Analyse, wie sie hier unternommen wird, geht darüber hinaus.

Weitere Probleme werden dabei sofort ersichtlich. Zum einen es ist ein schwieriges Unterfangen, die Bereitstellung von Daten und Fakten mit dem Anspruch systematischer Darstellung zu verbinden. Dazu kommt, dass diese Fakten in keinem Bereich erschöpfend sind. Schließlich stellt in einem Band wie dem vorliegenden die Aktualisierung ein unlösbares Problem dar. Nach dem Regierungswechsel im Dezember 2011 vom sozialistischen ins konservative Lager müssen wahrscheinlich recht bald die Kapitel über Bildungspolitik, Wirtschaft oder über Spanien und Lateinamerika überarbeitet werden.

Über die Fakteninformationen hinaus bleiben jedoch vier Leitmotive, die Entwicklungen und den landesspezifischen Kontext verständlich machen und dem Band Einheitlichkeit verleihen. Zum einen wird Spanien in Anlehnung an das oben Gesagte nicht als exotisches Land betrachtet, sondern es wird ihm jene europäische Normalität unterstellt, die es nach Francos Tod, nach der Rückkehr in ein demokratisches System und natürlich 1986 durch den Eintritt in die Europäische Gemeinschaft (zurück-)gewonnen hat. In vielerlei Hinsicht kann Spanien auf internationaler Ebene als fortschrittlich angesehen werden. Dies zeigt sich etwa an einer sehr gut durchdachten Entwicklungspolitik, die auf Strukturveränderungen und Verbesserung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands in den Zielländern angelegt ist, an dem in der Verfassung verankerten Recht auf Mindestlohn und Mindestrente, an den weltweit beispielgebenden Regelungen im Bereich der Organspende, an neuen Familienmodellen oder interessanten Initiativen zur Förderung der nationalen Erinnerungskultur, um nur einige willkürliche Beispiele herauszugreifen – und das, obwohl die Franco-Diktatur in vielen Bereichen noch immer ihre Spuren hinterlässt.

Zum zweiten ist es diese dunkle Vergangenheit der 36-jährigen Franco-Diktatur, die sich in Spanien bis heute in gewisser Hinsicht auswirkt und z.B. für die noch am Ende des 20. Jahrhunderts beobachtbare Rückständigkeit des Landes im Universitätsbereich verantwortlich ist. Juan Goytisolo bezeichnete seine Generation der um 1930 Geborenen als eine Generation ohne Lehrer, und in der Tat erkennt man gerade im Erziehungswesen, in der Ausbildung, im Schul- und Universitätssystem, wie verheerend sich die langen Jahre der Isolation ausgewirkt haben. Auch deshalb spielt die Diktatur eine große Rolle in den Diskussionen über die Situation der gegenwärtigen Gesellschaft. Aufarbeitungsversuche wie etwa das Gesetz zur Memoria Histórica von 2007 spiegeln dies wider, aber auch die Rückblicke auf die Vergangenheit in der Literatur, im Kinofilm oder im Fernsehen wirken sich (es ist noch nicht klar wie) auf das kommunikative und wohl bald auch auf das kulturelle Gedächtnis der Nation aus.

Damit im Zusammenhang steht das dritte Motiv, das der ‚zwei Spanien‘ oder der in zwei politische Lager geteilten spanischen Gesellschaft. Man könnte sie auch durch Dichotomien wie traditionell versus progressiv, rechts versus links, katholisch versus laizistisch fassen. Diese Trennung geht weit in die Geschichte zurück, auch deshalb ist Spanien seit dem 19. Jahrhundert das Land, in dem die meisten Bürgerkriege und Bruderkonflikte ausgetragen wurden. Obwohl bzw. gerade weil dieses Schema dem Land immer wieder übergestülpt wird – es gibt sogar die Theorie von den drei Spanien –, sind Differenzierungen nötig.

Das vierte und letzte Leitmotiv, das nicht aus den Augen verloren werden soll, steht erneut im Zusammenhang mit den Aussagen über Stereotype. Selbst wenn man ihnen generell eine gewisse Berechtigung zuschreibt, so zeigt doch gerade Spanien, dass sie hier keine Gültigkeit besitzen. Denn es gibt kein anderes Land, in dem die einzelnen Regionen so vehement ihre eigene Identität verteidigen wie hier. Nicht nur die Basken, Katalanen, Galicier oder Zentralspanier (Kastilier) sind bestrebt, sich von den anderen ‚Spaniern‘ abzugrenzen, sondern infolge der demokratischen Zugeständnisse an die einzelnen Regionen achten auch die Valencianer, Asturianer oder Andalusier darauf, dass ihre Rechte nicht vergessen werden.

Dies alles zu fassen, ist nicht einfach. Hier wurde der Versuch unternommen, hauptsächlich auf der Grundlage statistischer Daten zu operieren. Sie entstammen, wenn nicht anders angegeben, dem Instituto Nacional de Estatística, dem „Anuario El País“ oder der europäischen Agentur Eurostat.

Madrid/
Saarbrücken/ Arno Gimber
Passau, im Dezember 2011 José Manuel Rodríguez Martín
Jutta Schütz
Klaus Peter Walter
Spanien verstehen

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