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2. Spanien im 20. Jahrhundert: der schwierige Weg in die Demokratie
ОглавлениеSo überschreitet ein krisengeschütteltes Spanien die Schwelle zum 20. Jahrhundert, und das Restaurationsregime ist immer weniger in der Lage, die gravierenden Probleme zu bewältigen. Zudem rufen die erfolglosen, aber verlustreichen Militäraktionen gegen die Rif-Kabylen in Nordafrika heftige Proteste hervor, die in der Semana trágica (Juli 1909) von Barcelona gipfeln. Der Protest gegen den imperialistischen Krieg weitet sich zu einem Aufstand mit sozialer, antiklerikaler und antimilitaristischer Stoßrichtung aus, der von der Regierung des Präsidenten Maura brutal niedergeschlagen wird. Die Autonomiebestrebungen in Katalonien und im Baskenland gewinnen immer mehr an Boden, was sich 1913 in der Gewährung einer teilweisen Selbstverwaltung an die Mancomunitat de Catalunya manifestiert. Die sozialen und politischen Unruhen führen 1917 zu einem Generalstreik und zu einer ernsthaften Staatskrise. In dieser prekären Lage schafft in gewisser Weise der Erste Weltkrieg die Rahmenbedingungen, die es dem bürgerlichen Regime erlauben, sich noch ein paar Jahre an der Macht zu halten. Denn die Nicht-Einmischung Spaniens und die wirtschaftliche Notlage der kriegführenden Parteien bringen der spanischen Ökonomie einen vorübergehenden Aufschwung. Da freilich die Gewinne aus diesen Geschäften wieder nur dem ohnehin finanzstarken Großbürgertum zugutekommen und die kurze Blütezeit mit dem Wiedererstarken der europäischen Industrienationen zu Ende geht, bleiben die sozialen Spannungen bestehen. Angesichts der Unfähigkeit der beiden großen Parteien, die drängenden Probleme zu lösen, nimmt die Bedeutung der neuen, links und rechts der Mitte angesiedelten Gruppierungen stark zu, und das politische Spektrum fragmentarisiert und polarisiert sich. Die gewaltsamen Übergriffe seitens der Anarchisten häufen sich, nach Cánovas fallen auch die Präsidenten Canalejas (1912) und Dato (1921) Attentaten zum Opfer, die Repressionen der Staatsorgane wachsen; ein Klima der Unsicherheit bestimmt das öffentliche Leben. Das militärische Desaster 1921 in Marokko, das Tausende von Soldaten das Leben kostet, wühlt das Land schließlich derart auf, dass der General Miguel Primo de Rivera mit der Billigung des Militärs, des Königs und des Bürgertums rechnen kann, als er 1923 mit einem Staatsstreich die Macht ergreift. Er setzt die Verfassung außer Kraft, verbietet die Parteien und errichtet eine Diktatur. Bis 1925 regiert er mit einem Militärdirektorium, danach mit einem zivilen Kabinett. Sogar die Opposition gesteht Primo de Rivera anfänglich die Chance zu, in der katastrophalen Lage Spaniens durch konsequente Reformen von oben Abhilfe zu schaffen. Tatsächlich gelingt es ihm, den Marokkokrieg zu beenden und ein staatliches Aufbauprogramm (Straßenbau, Eisenbahn, Staudämme, Häfen) aufzulegen. Aber durch seine strenge Zensurpolitik, die Aufhebung der katalanischen Autonomierechte und durch eine angestrebte Agrarreform macht er sich allmählich alle Gruppierungen zu Feinden. Als sich gar die Armee von ihm abwendet und die Weltwirtschaftskrise die Notlage Spaniens noch einmal verschärft, tritt er 1930 zurück.
Während der von Alfonso XIII. einberufenen halbdiktatorischen Nachfolgeregierung unter General Dámaso Berenguer bereiten die Parteien die politische Wende vor: 1930 schließen bürgerliche Linke und Sozialisten den Pakt von San Sebastián, mit dem Ziel, die Monarchie zu stürzen und in Spanien eine Republik zu errichten. Im April 1931 wird das Vorhaben Realität: Nachdem bei den Kommunalwahlen vom 12.4. in den größeren Städten (auf dem Land behaupten sich die Monarchisten) die prorepublikanischen Parteien den Sieg errungen haben, wird zwei Tage später, am 14.4.1931, die Zweite Spanische Republik ausgerufen. Alfonso XIII. verlässt das Land und geht ins Exil, ohne jedoch offiziell abzudanken. In Spanien übernimmt eine provisorische Regierung aus Republikanern und Sozialisten unter Niceto Alcalá Zamora das Ruder. Anders als die Erste Republik wird die zweite von der spanischen Bevölkerung mehrheitlich mit begeisterter Zustimmung und optimistischen Erwartungen angenommen. Nachdem das Ancien Régime nicht in der Lage war, die anstehenden Probleme im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich zu lösen, wird die Hoffnung nun auf den Wandel, die längst überfällige politische Modernisierung gesetzt.
Die Geschichte der Zweiten Republik lässt sich in drei Abschnitte einteilen: Bienio de reformas (1931–1933), Bienio negro (1933 – Frühjahr 1936), Volksfrontregierung und Bürgerkrieg (Frühjahr 1936–1939). Die demokratische Verfassung von 1931 garantiert allen Spaniern und Spanierinnen gleiche Grundrechte, d.h. die Geschlechter werden gleichberechtigt und Frauen erhalten das Wahlrecht. Während der Präsident der Republik vor allem repräsentative Aufgaben zu erfüllen hat, wird die Regierungspolitik vom Ministerpräsidenten bestimmt. Die Legislative liegt bei den Cortes, deren Abgeordnete für vier Jahre gewählt werden.
Im Bienio de reformas werden unter Ministerpräsident Manuel Azaña wichtige Reformen in Angriff genommen: Eine Agrarreform soll den Großgrundbesitz auflösen und für eine gerechtere Landverteilung sorgen. Die Regionen erhalten das Recht auf ein Autonomiestatut, das in Katalonien sogleich in Form der Generalitat realisiert wird, während das baskische Pendant erst 1936 ausgearbeitet ist. Das Militär soll durch verschiedene Reformmaßnahmen reduziert und demokratisiert, faktisch also entmachtet werden. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche wird in der Verfassung von 1931, die einen laizistischen Staat festschreibt, neu definiert und das Erziehungswesen, bisher eine kirchliche Domäne, in die Zuständigkeit des Staates überführt. Diese Reformpläne können nur zu einem geringen Teil realisiert werden, da sie bei den betroffenen Interessengruppen – Kirche, Armee, Großgrundbesitzer – und dem rechten Spektrum insgesamt auf massiven Widerstand stoßen. Die Rechte organisiert sich neu, JONS (Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista) und Falange (1933 durch José Antonio Primo de Rivera) werden gegründet, und ein Bündnis der rechten Parteien erringt 1933 den Sieg bei den Parlamentswahlen. Dazu trägt allerdings auch nicht unwesentlich der Wahlboykott der Anarchisten bei, die ihrerseits zunehmend republikfeindlicher werden. Das politische Klima ist also erneut durch Polarisierung und Radikalisierung belastet.
Eine Koalitionsregierung der Radikalen Partei (bürgerliche Liberale) und der konservativ-katholischen CEDA (Confederación Española de Derechas Autónomas) unter Ministerpräsident Lerroux wird gebildet. Dieser Rechtsruck, vor allem die Regierungsbeteiligung der 1933 von Gil Robles gegründeten CEDA, provoziert die Linke zu heftigen Reaktionen, auf die der Staat mit Gegengewalt antwortet. In Asturien eskaliert die Situation: Der Aufstand der Bergarbeiter im Oktober 1934 weitet sich zu einer sozialen Revolution aus, die unter dem Kommando von General Francisco Franco mit brutaler Militärgewalt niedergeschlagen wird. In Katalonien wird durch Lluís Companys ein unabhängiger katalanischer Staat ausgerufen, was der Region nach der Unterdrückung des Aufstandes den Verlust ihrer Autonomierechte einträgt. Die Reformen der Azaña-Regierung werden von der Mitte-Rechts-Koalition größtenteils wieder rückgängig gemacht, und die politischen Spannungen nehmen zu. Im Februar 1936 werden Neuwahlen angesetzt, die die zur Volksfront zusammengeschlossene Linke gewinnt. Azaña wird Staatspräsident, Casares Quiroga Regierungschef. Aber die Gewaltakte von links und rechts sind nicht mehr unter Kontrolle zu halten, bis schließlich die Ermordung des monarchistischen Abgeordneten Calvo Sotelo am 13.7.1936 zum Anlass eines von langer Hand vorbereiteten Militärputsches wird. Am 18.7. erhebt sich die Armee unter Führung der Generäle Franco, Sanjurjo, Mola und Queipo de Llano gegen die Zweite Republik und kann in ca. einem Drittel des Landes die Macht ergreifen, während die übrigen Regionen die Republik zunächst erfolgreich verteidigen. Weder die Putschisten noch die republikanische Regierung beherrschen die Lage – es kommt zum Bürgerkrieg.
Die beiden Lager, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Spanien gebildet haben, definieren sich durch konträre Positionen auf politischer, ideologischer und religiöser Ebene: Republikaner kämpfen gegen Monarchisten, Progressisten gegen Traditionalisten, Antiklerikale gegen Kirchentreue. Wie es seit den Katholischen Königen Tradition in Spanien ist, werden politische und religiöse Motivationen verquickt: Der Aufstand der rechten Generäle wird nicht nur als Alzamiento Nacional legitimiert, also als eine Erhebung der ‚wahren‘ Spanier gegen ein ihnen nicht gemäßes Regime, sondern mit Billigung der spanischen Bischöfe zur cruzada stilisiert, zum Kreuzzug gegen die Anders- bzw. Ungläubigen.
Das Scheitern der Republik und der blutige Bruderkrieg erregen große Betroffenheit in den demokratischen europäischen Staaten sowie den USA. Viele Tausend Freiwillige aus diesen Ländern und der Sowjetunion kämpfen als Internationale Brigaden in Spanien für ihren Erhalt. Auf Regierungsebene jedoch verfolgen die USA und die europäischen Demokratien eine Politik der Nichteinmischung, die den „Nationalen“ sehr zugutekommt. Und nicht nur das: während die Republikaner mit den Internationalen Brigaden zwar enthusiastische und überzeugte, oft aber kaum ausgebildete Kämpfer auf ihrer Seite haben, wird den Nationalen die massive Hilfe der faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien in Form von bestens ausgestatteten Truppeneinheiten zuteil.
Nach dem gescheiterten Versuch, Madrid einzunehmen (wie die Region Valencia bleibt auch die Hauptstadt bis 1939 republikanisch), konzentrieren sich die Nationalen auf die Eroberung der Nordprovinzen. Am 26.4.1937 wird durch die Flugzeuge der deutschen Legion Condor Gernika, die ‚heilige Stadt‘ der Basken, in Schutt und Asche gelegt, was durch Picassos Gemälde zum wohl berühmtesten Ereignis des Bürgerkriegs werden sollte. Dann gelingt es den Aufständischen, zum Mittelmeer vorzustoßen und Katalonien damit vom übrigen republikanischen Gebiet zu isolieren. Im Juli 1938 erringen die Republikaner in der Ebro-Schlacht ihren letzten Sieg, bevor die Nationalen sich schließlich im ganzen Land durchsetzen. Am 1.4.1939 erklärt Franco den Krieg für beendet.
Mit dem Ende des Bürgerkriegs beginnt in Spanien die Franco-Diktatur, die mit allen Mitteln versucht, an die große Vergangenheit Spaniens anzuknüpfen und alle Kräfte, die sich diesem Ziel nicht anschließen, auszuschalten. So bedeutet das Ende des Krieges nicht Frieden, denn besonders in der ersten Phase des Franco-Regimes werden Hunderttausende von Republikanern interniert, getötet oder ins Exil getrieben. Im Nuevo Estado unter Franco gibt es keinerlei demokratische Institutionen mehr, weder allgemeines Wahlrecht noch Gewaltenteilung. Franco ist als Staatschef auf Lebenszeit gleichzeitig Staatsoberhaupt, Regierungschef (bis 1973), Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Führer des Movimiento Nacional, der Einheitspartei. Dieser Machtkonzentration in einer Person entspricht ein rigoroser Zentralismus auf der Ebene der Verwaltung: Jegliche Form von Regionalismus wird verboten, sogar der bloße öffentliche Gebrauch der Regionalsprachen (Baskisch, Galicisch, Katalanisch) wird unter Strafe gestellt. Das Regime gibt sich keine kodifizierte Verfassung, sondern beruht auf nach und nach erlassenen Grundgesetzen, die zum einen die ideologischen Grundlagen formulieren, zum andern die staatlichen Institutionen definieren. Die Cortes werden durch ein Gesetz von 1942 als Ständeparlament (dessen Mitglieder zum großen Teil von Franco ernannt werden) neu geschaffen, das bei der Gesetzgebung nur beratende Funktionen ausübt, da die endgültige legislative Entscheidungsgewalt bei Franco liegt. Daran ändert auch das Gesetz über das Referendum (1945) kaum etwas, da wiederum nur der Staatschef beschließt, welche Gesetzesentwürfe dem Volk zur Entscheidung‘ vorgelegt werden (außer bei Änderungen der Grundgesetze). Das „Gesetz über die Nachfolge in der Staatsführung“ wird 1947 durch ein solches Referendum angenommen: Spanien wird zur Monarchie – allerdings zunächst ohne Monarchen – erklärt, und Franco hat das Recht, seinen königlichen Nachfolger zu ernennen, was er 1969 auch tut: Prinz Juan Carlos de Borbón wird Príncipe de España.
Die Leitlinien der franquistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik werden schon 1938 im Fuero del Trabajo festgeschrieben. Seine wichtigste Bestimmung besteht in der Einrichtung der Sindicatos verticales, in denen jeweils alle einem Wirtschaftszweig zugehörigen Gruppen (d.h. Arbeitnehmer und Arbeitgeber) zusammengeschlossen sind. Im Fuero de los Españoles (1945) werden den Spaniern zwar gewisse Grundrechte zugesprochen, aber größeres Gewicht liegt auf den Pflichten dem Staat gegenüber. Das wichtigste Grundgesetz, von Franco ohne Beteiligung der Cortes ausgearbeitet, nicht veränderbar und Grundlage aller übrigen Gesetze, ist die Ley de Principios del Movimiento Nacional (1958). Die nun in Movimiento Nacional umbenannte Einheitspartei liefert damit das ideologische Fundament des franquistischen Staates, dessen wichtigste Grundsätze Konfessionalismus, monarchische Staatsform und ständestaatliche Vertretung sind.
Eine gewisse, wenn auch beileibe nicht tiefgreifende Liberalisierung des franquistischen Staatsapparates bringt 1967 die Ley Orgánica del Estado, die die Trennung der Ämter des Staatsoberhauptes und des Ministerpräsidenten vorsieht, die legislativen Befugnisse der Cortes erweitert (nicht mehr nur Ausarbeitung, sondern auch „Billigung“ der Gesetze) und den Kronrat (Consejo del Reino) nach dem Caudillo zum wichtigsten Entscheidungsträger im Staate macht. Die während des Bürgerkrieges errichtete Militärdiktatur wird also durch die verschiedenen Grundgesetze in einen zentralistischen Ständestaat und eine „Monarchie ohne König“ überführt, in der alle Macht in den Händen des Staatschefs liegt. Die Stützpfeiler des Regimes sind neben Falange/Movimiento Nacional das Militär, die katholische Kirche und das Großbürgertum (Latifundisten und Finanzbourgeoisie), wobei sich die Kräfte während der fast vier Jahrzehnte mehrmals verschieben. In der ersten Phase kommt der Falange als Stabilisierungsinstrument des Regimes eine besondere Bedeutung zu. Die ursprünglichen Ziele der Partei, die auch eine soziale Umwälzung beinhalteten, werden den von Franco diktierten Prinzipien seines „Neuen Staates“ angepasst bzw. durch diese ersetzt. Durch gesonderte Jugend-, Frauen- und Studentensektionen versucht die Partei alle Bevölkerungskreise zu erreichen. Zu ihrem wichtigsten Einflussbereich werden aber die von Franco verordneten Vertikalen Syndikate, die als Staatssyndikate unter ihrer Kontrolle stehen. Als die internationale Isolierung Spaniens in den 50er Jahren gelockert und Spanien allmählich ins westliche Bündnis aufgenommen wird (1950 wird der Boykottbeschluss der UNO aufgehoben und 1953 schließen die USA mit Spanien ein Abkommen über Militärstützpunkte), kann sich das Regime als hinreichend stabil betrachten, um mehr und mehr auf die Unterstützung der intern zerstrittenen Falange zu verzichten. Das Militär, das ja das Franco-Regime überhaupt hervorgebracht hat, weitet seine Machtposition im öffentlichen Leben aus. Nicht nur politische Ämter, auch wirtschaftliche Schlüsselstellen werden von hohen Militärs besetzt. Die Streitkräfte fungieren offiziell als Garanten der politischen Ordnung des Regimes.
Abb. 3: Der spanische Bürgerkrieg 1936–1939
Der Kirche kommt von Anfang an eine besondere Rolle in Franco-Spanien zu, da sich die Anhänger Francos noch während des Bürgerkriegs als Verteidiger der katholischen Kirche gegen die ketzerischen Rojos legitimierten. Nach dem Krieg wird der Katholizismus zu einer der Grundlagen des Staates erhoben, und die Kirche erhält weitgehende Machtbefugnisse im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Vor allem im Erziehungswesen und in der Zensur wird ihr Einfluss prägend. Im Konkordat mit dem Vatikan von 1953 wird die herausragende Stellung der katholischen Kirche in Franco-Spanien festgeschrieben, gleichzeitig aber auch die Mitwirkung der Regierung bei der Ernennung der Bischöfe bestätigt.
Die besitzenden Schichten profitieren zum einen davon, dass die Agrarreformen der Zweiten Republik wieder rückgängig gemacht werden; zum andern wird durch die Zwangsmitgliedschaft in den staatlich kontrollierten Vertikalen Syndikaten und durch das Verbot aller sonstigen gewerkschaftlichen Organisationen die Arbeiterbewegung radikal unterdrückt.
Nach der inneren und äußeren Stabilisierung des Regimes finden ab Ende der 50er Jahre in vielen Bereichen tiefgreifende Veränderungen statt. So erfolgt 1957 eine einschneidende Regierungsumbildung, die den Rückgang des Falange-Einflusses und den Aufstieg eines neuen Machtfaktors dokumentiert: Opus-Dei-Mitglieder treten an die Stelle der Falangisten und leiten eine umfassende Liberalisierung und Modernisierung der Wirtschaft ein. Das Opus Dei, in dessen Ideologie sich Kapitalismus und Katholizismus zu einem konservativen Elitismus verbinden, wird bis zum Ende des Franco-Regimes eine Schlüsselposition im spanischen Wirtschafts- und Gesellschaftsleben innehaben.
Auch im wörtlichen Sinn sind die 60er Jahre eine Zeit der Bewegungen. Während Hunderttausende von spanischen Arbeitern in die west- und mitteleuropäischen Industrienationen (v.a. BRD, Frankreich und Schweiz) emigrieren, setzt ein saisonal begrenzter Strom in umgekehrter Richtung ein: Spanien wird als Touristenziel entdeckt. Damit entsteht nicht nur ein florierender neuer Wirtschaftszweig, sondern das moralische Wertesystem des Franquismus kommt allmählich ins Wanken. Schließlich regt sich zunehmend Widerstand im Land, in Arbeiter- wie in Studentenkreisen, in den traditionell nach Selbständigkeit strebenden Regionen Katalonien und Baskenland und dort sogar in gewissen Kreisen der Kirche. Die verbotenen Gewerkschaften wie die sozialistische UGT werden im Untergrund wieder aktiv, neue, wie die kommunistische Comisiones Obreras (CCOO), werden gegründet und erfreuen sich regen Zulaufs.
1973 wird die in der Ley Orgánica del Estado von 1967 vorgesehene Ämtertrennung realisiert, als Franco den Admiral Carrero Blanco zum Regierungschef ernennt. Dieser wird schon kurze Zeit später von Mitgliedern der ETA, die dabei ist, sich zum Staatsfeind Nr. 1 zu entwickeln, ermordet. Sein Nachfolger wird Arias Navarro. Die letzten Jahre der Franco-Ära sind zum einen von den immer heftigeren Auseinandersetzungen zwischen Regime und Opposition geprägt, zum andern von den Diskussionen um die Zukunft nach Franco. Während der Caudillo selbst bemüht ist, die Weichen für die Fortführung seines Regimes zu stellen, hofft die Opposition natürlich auf einen radikalen Neuanfang. Dazwischen stehen die gemäßigten Reformer, die auf eine allmähliche Demokratisierung des franquistischen Systems setzen. Als Franco dann am 20.11.1975 stirbt, tritt die von ihm verfügte Nachfolgeregelung in Kraft. Juan Carlos wird zwei Tage später zum König proklamiert, während Arias Navarro Regierungschef bleibt. Mit Juan Carlos’ Thronrede, in der er sich für eine schrittweise Demokratisierung ohne radikalen Bruch mit der franquistischen Legalität ausspricht, beginnt die Phase der Transición, Spaniens Übergang von der Diktatur in die Demokratie. Obwohl noch unter Ministerpräsident Arias Navarro die ersten Liberalisierungsmaßnahmen in Angriff genommen werden (Aufhebung des Verbots politischer Versammlungen, Zulassung politischer Vereinigungen), kommt der Prozess erst nach der Ablösung dieses doch noch francotreuen Politikers durch den zwar ebenfalls im Movimiento aktiven, aber jungen und vor allem reformbereiten Adolfo Suárez im Juli 1976 richtig in Gang. Er legt ein Reformprogramm vor, das als Ausdruck einer Gratwanderung zwischen oppositionellen Umbruchwünschen und franquistischer Kontinuitätspolitik anzusehen ist. Wichtige Punkte sind eine umfangreiche Amnestie für politische Gefangene, mehr Autonomie für die Regionen und vor allem die Ersetzung des Ständeparlaments durch ein frei gewähltes Zweikammerparlament, das verfassunggebende Kompetenzen haben soll. Dieser Ley de Reforma Política stimmen die Cortes im November 1976 zu, und auch die spanische Bevölkerung spricht sich im Dezember in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für das Gesetz und somit für die Rückkehr zur Volkssouveränität aus. Damit ist ein entscheidender und bemerkenswerter Schritt in Richtung Demokratisierung getan – bemerkenswert vor allem deshalb, weil die franquistischen Cortes durch geschicktes Taktieren dazu gebracht werden, ihre eigene Auflösung zu beschließen. Dies war zum einen dadurch möglich, dass das Reformgesetz formal nicht die franquistischen Grundgesetze aufhob, sondern sie ergänzte (wenn es inhaltlich auch in klarem Gegensatz zu dem autoritären System des franquistischen Staates stand); zum andern ist es sicher dem Einsatz des Zweigespanns Juan Carlos und Adolfo Suárez zu verdanken, die beide sehr geschickt für die Reform warben; und nicht zuletzt ließ der Druck sowohl der innerspanischen Opposition als auch der westlichen Industrienationen, denen Spanien wirtschaftlich und militärpolitisch bereits verbunden war, ein starres Festhalten am alten Regime nicht als geboten erscheinen.
Die Opposition ist bis dahin nicht an der demokratischen Umgestaltung beteiligt gewesen. Sie hat beim Referendum über das politische Reformgesetz zur Stimmenthaltung aufgerufen und hält die Öffentlichkeit mit Gewaltakten militanter Vertreter in Atem. Um sie in den Reformprozess einzubinden, werden Parteien und Gewerkschaften (die durch massive Streiks für den nötigen Druck sorgen) legalisiert. Die Vorbereitungen der auf Juni 1977 terminierten Parlamentswahlen lösen intensive parteipolitische Aktivitäten aus. Eine neue politische Landschaft beginnt sich zu formieren: Nach der Auflösung des Movimiento Nacional durch Suárez spaltet sich die Rechte in die extremistische Fuerza Nueva (unter Blas Piñar) und die gemäßigtere Alianza Popular (unter dem früheren Kabinettsmitglied Fraga Iribarne). Das politische Zentrum wird von einem Bündnis zahlreicher neu gegründeter Gruppierungen vertreten, das sich UCD (Unión de Centro Democrático) nennt und von Regierungschef Suárez geführt wird. Auf der linken Seite des Spektrums wird der unter Franco verbotene PSOE aktiv und kann mit seinem jungen, dynamischen Führer Felipe González einen rasanten Anstieg der Mitgliederzahlen verzeichnen. Daneben wirbt der Partido Socialista Popular (unter Tierno Galván), der sich 1978 aufgrund finanzieller Probleme dem PSOE anschließen wird, um Stimmen. Zu einem Prüfstein der demokratischen Entwicklung wird die Frage der Zulassung der kommunistischen Partei PCE unter Santiago Carrillo, der Partei, die wie keine andere den Widerstand gegen das Franco-Regime organisiert und getragen hatte. Gegen den erklärten Willen der Armee und der Altfranquisten spricht die Regierung Suárez die Legalisierung des PCE aus und liefert damit der Opposition den Beweis, dass die bevorstehenden Wahlen wirklich eine allgemeine und freie Manifestation des Volkswillen ermöglichen sollen.
Aus diesen Parlamentswahlen vom 15.6.1977, bei denen sich fast 200 (!) Parteien um die Gunst der Wähler bemühen, geht erwartungsgemäß die mit dem Bonus der Regierungspartei angetretene UCD mit 34,7 % Stimmenanteil als Siegerin hervor, gefolgt vom PSOE mit 28,8 %. Die große Mehrheit der Wähler hat sich damit für eine gemäßigte Politik ausgesprochen, während die Parteien an den äußeren Enden der politischen Skala deutlich weniger Zuspruch fanden: der PCE mit 9,2 % noch mehr als die AP mit 8,3 %. So wird Adolfo Suárez zum zweiten Mal Ministerpräsident, nun aber durch freie Wahlen legitimiert.
Der nächste wichtige Schritt auf dem Weg der Demokratisierung ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Auf der Grundlage des Reformplanes von 1976 erstellt eine Verfassungskommission einen Entwurf, der am 31.10.1978 vom Parlament (gegen die Stimmen der baskischen Abgeordneten) verabschiedet und am 6.12. (seitdem als Día de la Constitución gefeiert) per Referendum von der Bevölkerung angenommen wird. Damit hat die Demokratie in Spanien eine gesetzliche Basis, und eine entscheidende Aufgabe der Transición ist abgeschlossen.
Aber selbstverständlich kann die Umgestaltung eines Gemeinwesens nicht auf allen Ebenen in so kurzer Zeit vonstatten gehen. Die spanische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, zweistellige Inflationsraten und eine rasant ansteigende Arbeitslosigkeit verlangen nach schnellen Lösungen. Schon im Oktober 1977 hatten daher Regierung und Oppositionsparteien in den Pactos de la Moncloa eine „konzertierte Aktion“ beschlossen, um einen Weg aus der Wirtschaftskrise zu finden. Für viele militante Linke werden damit allerdings, auch vom mitbeteiligten PCE, die Interessen der Arbeiterschaft verraten.
Die Armee bleibt ein Unsicherheitsfaktor im neuen Staat, das zeigen die Rücktritte einiger Generäle nach der Legalisierung des PCE ebenso wie die Aufdeckung geheimer Putschpläne (Operación Galaxia). Und schließlich stellt sich das jahrhundertealte Problem der nach Selbständigkeit strebenden Regionen in neuer Schärfe, da es sich durch die Aktionen der ETA immer mehr zu einer Konfrontation mit dem Terrorismus und damit zur härtesten Belastungsprobe der Demokratie entwickelt.
In den kurz nach der Verabschiedung der Verfassung angesetzten Neuwahlen (März 1979) setzen die Wähler noch einmal ihr Vertrauen in die Regierung Suárez, um nach dem Umbau der politischen Strukturen das neue Spanien auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu konsolidieren. Mit 35 % geht die UCD als Siegerin hervor, gefolgt von PSOE mit 30 % und den Kommunisten mit fast 11 %. Die als Wahlbündnis entstandene UCD verschleißt sich in parteiinternen Flügelkämpfen, und das neu gebildete Kabinett, dem wieder eine Reihe von Politikern angehören, die ihre Karriere noch unter Franco begonnen haben, ist offensichtlich nicht in der Lage, die drängenden Probleme zu lösen. So macht sich in der Bevölkerung ein Gefühl des desencanto, der Desillusionierung und Enttäuschung, breit, das einen Richtungswechsel als dringend geboten erscheinen lässt. Auf nationaler Ebene bringt der Rücktritt von Adolfo Suárez sowohl vom Parteivorsitz wie vom Amt des Ministerpräsidenten im Januar 1981 Bewegung in die Situation. Sein Nachfolger im Amt des Regierungschefs soll Leopoldo Calvo Sotelo werden, der aber im ersten Wahlgang nicht die erforderliche absolute Mehrheit im Parlament erhält. Im zweiten Wahlgang am 23.2.1981 findet dann das Ereignis statt, das den Fortbestand der spanischen Demokratie in akute Gefahr bringt: Unter der Führung von Oberstleutnant Antonio Tejero stürmen Mitglieder der Guardia Civil das Parlamentsgebäude und nehmen mit Waffengewalt Regierung und Abgeordnete gefangen. Parallel dazu ruft in Valencia General Milans del Bosch den Ausnahmezustand aus. Erfolg oder Misserfolg des Putschversuchs hängen entscheidend von der Haltung des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, dem König, ab. Und Juan Carlos erweist sich nun endgültig als glaubwürdiger Verteidiger der Demokratie. In wenigen Stunden kann er die Putschisten isolieren und sich der Loyalität der Armee versichern, so dass er noch in der Nacht der Bevölkerung in einer Fernsehansprache mitteilen kann, die Lage sei unter Kontrolle und die Krone verhindere eine gewaltsame Unterbrechung des Demokratisierungsprozesses. Damit wird dieser Tag, der 23-F, zum Meilenstein eben dieses Prozesses.
Calvo Sotelo, der zwei Tage nach dem Putschversuch dann doch die Mehrheit erhält, gelingt es nicht, die UCD wieder zu einen – im Gegenteil, deren Selbstauflösungsprozess scheint unaufhaltsam. Die vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 1982 bezeugen, dass die Zeit reif ist für einen Machtwechsel. Die Sozialisten mit dem charismatischen Felipe González an der Spitze erhalten bei einer deutlich höheren Wahlbeteiligung als 1979 über 48 % der Stimmen, was ihnen durch das Verhältniswahlrecht die absolute Mehrheit der Parlamentssitze verschafft. Zur zweitstärksten Kraft mit 26 % Stimmenanteil steigt die rechte Alianza Popular unter Fraga Iribarne auf, während die UCD ca. 80 % ihrer Wähler verliert und sich konsequenterweise vier Monate nach diesem Debakel auflöst. Der 40-jährige Sozialistenführer, den alle nur „Felipe“ nennen, präsentiert sich zum einen als Hoffnungsträger für die junge Generation, die sich schon auf dem Rückzug ins Private befand, da das demokratische Spanien ihre großen Erwartungen bisher nicht erfüllt hatte. Zum andern ist es ihm gelungen, den PSOE für die bürgerliche Mitte wählbar zu machen, indem er das Programm der traditionsreichen Arbeiterpartei so umgestaltete, dass der klassenkämpferische Aspekt zugunsten eines moderaten, auf Integration bedachten Reformkurses in den Hintergrund trat. Das rapide Anwachsen eines zwar gemäßigten, aber dennoch linken Lagers, das sich schon im Wahlkampf deutlich abgezeichnet hat, lässt die Konservativen wieder weiter nach rechts rücken, wo Fraga sich für eine Rückkehr zu Law. and Order stark macht. Die ultrarechte Fuerza Nueva kann sich daneben nicht mehr behaupten und löst sich nach der Wahl am Todestag Francos auf. Die Kommunisten verlieren mehr als die Hälfte ihrer Wähler, woraufhin ihr langjähriger Führer Santiago Carrillo den Parteivorsitz niederlegt.
Mit viel Elan geht die junge Mannschaft ans Werk, legt ein Programm für den Strukturwandel der Industrie auf, betreibt mit Nachdruck die Aufnahme Spaniens in die Europäische Gemeinschaft (am 1.1.1986 erhält Spanien die Vollmitgliedschaft), reformiert das Bildungswesen (vgl. Kap. VII,1.2: LOGSE u. LODE) und realisiert die Umwandlung Spaniens in einen dezentralisierten Staat. Wenn auch die Regierung González nicht alle Ziele erreicht (wie etwa den Abbau der Arbeitslosigkeit), findet ihre Politik doch eine so große Zustimmung, dass sie auch bei den nächsten Wahlen (im Juni 1986) wieder die absolute Mehrheit der Parlamentssitze erringt. In der zweiten Legislaturperiode führt die neoliberale Wirtschaftspolitik der PSOE-Regierung zu wachsenden Konflikten, weil sie zwar den spanischen Markt boomen lässt und für die Erhöhung des Lebensstandards eines großen Teils der Bevölkerung sorgt, aber die Verlierer des Systems, vor allem die Arbeitslosen, immer mehr vernachlässigt; dies führt z.B. zum Generalstreik vom 14.12.1988. Aber bei den vorgezogenen Wahlen von 1989 wird die Regierung González erneut im Amt bestätigt, wenn auch mit erheblichen Stimmenverlusten. Die Gewerkschaften distanzieren sich mehr und mehr von der PSOE-Regierung, deren Wirtschaftspolitik kaum das Etikett „sozialistisch“ verdient. Korruptionsaffären, Vetternwirtschaft und ein zunehmend als arrogant empfundener Regierungsstil lassen das Vertrauen der Bevölkerung in den einstigen Hoffnungsträger PSOE schwinden. Zwar rücken die Feiern im Jahr 1992 (Olympische Spiele in Barcelona, Weltausstellung in Sevilla, Madrid ist europäische Kulturhauptstadt) Spanien in den Blickpunkt der internationalen Aufmerksamkeit und bringen einen enormen Prestigezuwachs, im Innern aber nimmt der Unmut der Bürger weiter zu. González setzt für Juni 1993 wiederum vorgezogene Neuwahlen an, aus denen der PSOE ein letztes Mal als Sieger hervorgeht, die absolute Mehrheit aber verfehlt. Die notwendige parlamentarische Unterstützung erhält er fortan von den katalanischen Nationalisten (CiU), die im Gegenzug größere finanzielle Eigenständigkeit für ihre Autonomía aushandeln. In den folgenden Jahren reißen die Skandale, die die Regierung in Misskredit bringen, nicht ab; Beispiele sind der Fall des korrupten Guardia-Civil-Chefs Roldán, dessen spektakuläre Flucht und Verfolgung zum Medienereignis wird, oder etwa der Vorwurf, hinter dem Terrorkampf der GAL (Grupos Antiterroristas de Liberación) gegen Mitglieder der ETA stehe die Regierung selbst.
Die rechte Opposition arbeitet unterdessen daran, sich als für eine Mehrheit wählbare Alternative zu präsentieren. Der Altfranquist Fraga Iribarne wird 1990 als Vorsitzender der in Partido Popular (PP) umbenannten „Volksallianz“ von dem jungen José María Aznar abgelöst. Als die katalanische Nationalistenpartei CiU der Regierung González ihre Unterstützung entzieht, werden 1996 Neuwahlen nötig. Nach 14 Jahren PSOE-Regierung herrscht bei der Mehrheit der Bevölkerung die Überzeugung, der Zeitpunkt für einen Wechsel sei gekommen. So überrascht der Wahlsieg des PP niemanden, eher schon die Tatsache, dass er äußerst knapp ausfällt: der PP liegt mit 38,9 % weniger als 1,5 % vor dem allseits kritisierten PSOE (37,5 %) und braucht die Unterstützung von gleich drei regionalistischen Parteien (CiU, PNV und CC – Coalición Canaria), um die Regierung stellen zu können. Diese lassen sich wiederum ihre Hilfe mit weitreichenden Kompetenzerweiterungen für die Autonomías bezahlen.
Das Krisenbewusstsein, das in den letzten Jahren der PSOE-Herrschaft gewachsen ist, weicht einer neuen Aufbruchstimmung. Der neuerliche Machtwechsel von 1996 bestätigt, dass in Spanien tatsächlich demokratische Normalität Einzug gehalten hat: linke und rechte Parteien lösen einander an der Regierung ab, wenn der Wählerwille es bestimmt, ohne dass ein Eingreifen des Militärs befürchtet werden muss. Die PP-Regierung unter Aznar versteht es in ihrer ersten Legislaturperiode vor allem durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, das Vertrauen breiter Bevölkerungskreise zu gewinnen – der Wahlsieg von 2000 zeigt es in aller Deutlichkeit. Dieses Wahlergebnis hat insofern eine historisch zu nennende Dimension, als erstmals in Spanien eine rechte Partei in freien Wahlen die absolute Mehrheit erringt. Das Ausmaß des Wahlsieges macht deutlich, dass nach vier Jahren PP-Regierung die Angst vor potentiellen franquistischen Auswüchsen der Partei geschwunden ist und der PP damit tatsächlich für die umworbene „neue Mitte“ wählbar geworden ist.
Die Entwicklungen in der zweiten Legislaturperiode erschüttern das Vertrauen der Bevölkerung in die Aznar-Administration indes nachhaltig. Die zunehmende Arroganz seines Führungsstils, der sich im Bewusstsein politischer Macht immer mehr von der Basis seiner Wähler entfernt, tritt nicht mehr nur in Randerscheinungen – wie der mit aristokratischem Prunk als Medienereignis inszenierten Hochzeit seiner Tochter – zutage, sondern äußert sich auch in skandalösen Fehlentscheidungen und demonstrativer Missachtung des Willens der Bevölkerung. Deren Unmut kommt, strategisch geschickt, am 20.6.2002, einen Tag vor dem Beginn des EU-Gipfels in Sevilla, in einem Generalstreik (dem ersten seit der Regierungsübernahme durch den PP) zum Ausdruck. Die Art und Weise, wie die Regierung ihre Reformvorhaben, sei es im Bereich der Bildungspolitik oder des Arbeitsmarktes, trotz aller Proteste durchsetzt, erregt nicht nur bei den Gewerkschaften wachsende Empörung. Vollends in Misskredit bringt sich Aznar dann durch das völlige Versagen in der durch die Havarie des Tankers Prestige ausgelösten Ölkatastrophe sowie durch die kompromisslose Unterstützung der amerikanischen Kriegspolitik im Irakkonflikt. Insbesondere diese – zumal gegen den Willen der UNO getroffene – außenpolitische Entscheidung stößt auf heftigen Widerstand und führt zu Demonstrationen, bei denen Hunderttausende ihr Nein zum Irakkrieg bekunden. Dabei werden die Entscheidungen der Regierung bzw. die Untätigkeit des Ministerpräsidenten nicht nur inhaltlich kritisiert, sondern auch und insbesondere die respektlose Art und Weise der Vermittlung wird angeprangert, weil man sich im einen Fall (im Kontext der Ölpest) dreist belogen und im anderen Fall (im Irakkonflikt) völlig ignoriert sieht. Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom März 2004 deutet sich dann ein Kopf-an-Kopf-Rennen an, bis die Dinge unmittelbar vorher eine völlig unvorhergesehene Wendung nehmen. Am 11.3. verüben Al-Qaida-Terroristen verheerende Bombenattentate auf Madrider Vorortzüge sowie den Atocha-Bahnhof, bei denen 191 Menschen ums Leben kommen und mehr als 2.000 verletzt werden. Am 14.3. gewinnt der PSOE mit deutlichem Vorsprung die Parlamentswahlen.
Dass dieses Ergebnis nicht losgelöst von dem schrecklichen Anschlag gesehen werden kann, liegt auf der Hand. Die Argumentation des Wahlverlierers (und zahlreicher konservativer Politiker im Ausland), die Terroristen hätten die Sozialisten quasi „an die Macht gebombt“, geht indessen an den Tatsachen vorbei. Von daher bemühte sich der PSOE um den Nachweis, dass die Stimmung auch schon vor dem 11.3. zu seinen Gunsten umgeschlagen war. Tatsächlich hätte das Attentat als solches nicht zwingend zu einer Abwahl des PP führen müssen; es wäre im Gegenteil denkbar gewesen, dass die Wähler gerade nach einem derartigen Schock dessen Politik der radikalen Terrorismusbekämpfung unterstützt hätten. Was die Empörung der Bevölkerung zum Überkochen brachte, war die Reaktion Aznars und seiner Regierung, die die ihnen genehme Version der Ereignisse – dass die Attentate auf das Konto von ETA gingen – mit autoritärem Machtgestus durchzusetzen versuchten. Kabinettsmitglieder, Diplomaten und staatliche Medien sollten dafür sorgen, dass etwaige Zweifel an dieser Schuldzuweisung im Keim erstickt wurden, obwohl die Umstände und das Ausmaß des Anschlags nicht unbedingt die ETA-Handschrift trugen. Die Ereignisse in Madrid überschlugen sich, offiziell gelenkte und spontane Demonstrationen füllten die Straßen, die Hinweise in Richtung Al-Qaida häuften sich, aber Aznar hielt in starrsinniger und selbstherrlicher Manier an seiner Version fest. Das war es, was – nach der Ölkatastrophe und dem Irakkrieg – die spanische Bevölkerung so erboste, denn wieder musste die Wahrheit politischem Kalkül weichen. Von daher haben nicht islamistische Terroristen den Wahlausgang manipuliert, sondern die PP-Regierung hat sich selbst durch ihr Versagen in dieser Extremsituation diskreditiert.
Die Wahlbeteiligung am 14.3.2004 liegt mit 77,21 % fast auf demselben Niveau wie bei dem Machtwechsel von 1996 – ein Zeichen dafür, dass der hohe Anteil der im Vorfeld noch unentschlossenen Wahlberechtigten nun doch motiviert ist, ein Votum abzugeben. Der PSOE erreicht mit 42,64 % einen Stimmenzuwachs von über 8 % im Vergleich zu 2000, während der PP von 44,52 % (2000) auf 37,64 % zurückfällt. IU muss erneut Verluste hinnehmen, während die regionalen Parteien, insbesondere die katalanische Linkspartei ERC (Esquerra Republicana de Catalunya), zulegen können. Bei der zeitgleich in Andalusien stattfindenden Regionalwahl siegen die Sozialisten mit absoluter Mehrheit (50,27 %).
Die ersten Monate der Amtszeit des neu gewählten und international kaum bekannten Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero führen zu der Erkenntnis, dieser „Bambi“ (so sein Spitzname) sei nicht aus Plüsch, sondern aus Stahl (wie es in der spanischen Presse gern formuliert wurde). Sofort macht er das wichtigste Wahlversprechen wahr, zieht die spanischen Truppen aus dem Irak ab und definiert damit auch Spaniens Verortung im internationalen Gefüge neu: Distanz zu den USA, Annäherung an Frankreich und Deutschland, engere Beziehungen zu Lateinamerika und den Mittelmeerstaaten. Auf verschiedenen Gebieten setzt Zapatero neue Akzente: in der Aufarbeitung der diktatorialen Vergangenheit durch die Ley de Memoria Histórica (2007), in der Einwanderungspolitik durch die Initiative zur Legalisierung des Status illegal eingereister Menschen und schließlich in Gleichstellungsfragen durch sein paritätisch besetztes Kabinett sowie vor allem durch das Gesetz gegen häusliche Gewalt, durch eine neue Abtreibungsregelung und die Legalisierung der Homosexuellenehe. Neben diesen Reformen ist es Zapateros Verdienst, zu einem Klimawandel im politischen Diskurs beigetragen zu haben, verbunden mit größerem Respekt vor der Bevölkerung und den politischen Gegnern, mit gesteigerter Dialogbereitschaft und einem erhöhten Maß an Aufrichtigkeit.
Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre und die damit verbundene extrem hohe Arbeitslosigkeit haben das Vertrauen in die Zapatero-Regierung jedoch erschüttert. Andere europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich haben es geschafft, die Misere zu überwinden, Spanien aber steht auf der Seite der Problemkinder der Europäischen Union, und dies führte am 20.11.2011 zu einem erneuten politischen Wechsel im Land. Der PP unter Mariano Rajoy erreichte eine bequeme absolute Mehrheit für die Regierungsbildung und muss nun zeigen, ob er in der Lage ist, das Land aus der Krise zu führen.