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1. Das Phänomen

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Die Verfassungsgerichtsvergleichung im europäischen Rechtsraum als Baustein des europäischen öffentlichen Rechts steht in einem engen Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Verbundbildung im europäischen Rechtsraum, einem neuartigen Phänomen, das nach mancher Beobachtung gar an die Identität der Gerichte rührt.[35] Während Behauptungen einer „global community of judges“ eher im spekulativen Raum verbleiben,[36] gibt es solide Hinweise auf eine solche institutionelle Realität im europäischen Rechtsraum. Über die letzten Jahre hat sich eine entsprechende Interaktion substantiell verstärkt, ja institutionalisiert. Viele Richter stehen in dauerhaftem und bisweilen engem Kontakt mit Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten. Nicht selten beschäftigen sie polyglotte, europäisch und international ausgebildete Mitarbeiter.[37] Regelmäßig informieren und beraten sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit betraute Richter heute auf Kongressen, bei Besuchen, per E-Mail,[38] und es gibt zumindest anekdotische Evidenz für weitere Formen von informellen Kontakten zwischen Richtern verschiedener Gerichte.[39] Mitarbeiter werden zu längeren Aufenthalten an anderen Gerichten entsandt. Man kann diese Praxis soziologisch als Netzwerk, rechtlich als Verbund und methodisch als Rechtsvergleichung deuten.

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Viele nationale Höchstgerichte machen inzwischen wichtige Urteile in englischer Sprache online verfügbar:[40] Man will „außerhalb der nationalen Zielgruppen Gehör […] finden“.[41] Die Gründe hierfür bleiben zu erforschen. So wird etwa vermutet, dass die innerstaatliche Stellung eines Gerichts zunehmend auch von seiner internationalen Anerkennung abhängt.[42] Doch es gibt auch eine genuin europäische Dimension. Die Verfassungsgerichte stärken durch die Verbreitung ihrer Entscheidungen in anderen Staaten und Sprachen ihren europäischen Verbund, denn diese Entscheidungen sind wesentlicher Gegenstand der sie verbindenden Kommunikation.[43] Daneben nehmen einzelne Verfassungsrichter an einem europäischen Diskurs auf wissenschaftlichen Tagungen und in Kongressen teil, in denen sie Denkweisen und Linien der Rechtsprechung nicht nur in die wissenschaftliche und in die politische Diskussion tragen, sondern eben auch mit Vertretern anderer Verfassungsgerichte in einen Austausch treten. Man darf sagen, dass „die heutige Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit (…) nicht die isolierte Tätigkeit von Höchstrichtern ist, die eine klar abgegrenzte Rechtsschicht interpretativ zu erschließen und verbindlich zum Maßstab zu machen hat. Vielmehr liegt ihr ein komplexer und integrativer Interpretations- und Rechtsanwendungsvorgang zugrunde.“[44] Entsprechend lassen sich fünf spezifische Funktionen der Verfassungsgerichte im Verbund ausmachen: eine Verbindungs- bzw. Umsetzungsfunktion, eine Übersetzungsfunktion, eine Legitimationsfunktion, eine Funktion zur Schließung von Rechtsschutzlücken und nicht zuletzt eine auf das Zusammentreffen von Unionsrecht und Verfassungsrecht bezogene Kontrollfunktion.[45]

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In der Verbindungs- und Umsetzungsfunktion kommt zum Ausdruck, dass die Verfassungsgerichte ein besonders wichtiges Bindeglied zwischen den staatlichen Gerichten und den europäischen Gerichtshöfen sind. Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung für Beschwerden an den EGMR erfordert regelmäßig die Befassung des Verfassungsgerichts. Verfassungsgerichte sind häufig die ersten Gerichte, die sich mit neuer Rechtsprechung von EuGH und EGMR auseinandersetzen und so neue europäische Rechtsprechung im innerstaatlichen Recht, verarbeiten und in diesem Sinn umsetzen. In der damit eng zusammenhängenden Übersetzungsfunktion verbreiten Verfassungsgerichte „europäische Rechtskultur“ in den staatlichen Rechtssystemen. Entscheidungen der Verfassungsgerichte sind umgekehrt Grundlage für Entscheidungen der europäischen Gerichtshöfe, weil und insoweit sie parallele Rechtsgarantien, insbesondere im Bereich der Grundrechte, in europarechtskonformer Weise zur Anwendung bringen.

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Verfassungsgerichte haben aber auch eine Legitimationsfunktion. Dadurch, dass sie europäische Entscheidungen rezipieren und zustimmend zitieren, verleihen sie ihnen zusätzliche Legitimation, die für die Rezeption durch innerstaatliche Gerichte oft entscheidend ist. Dort, wo Verfassungen Bestimmungen europarechtlichen Ursprungs zum Inhalt haben, konkretisieren die Verfassungsgerichte mit Hilfe europäischer Vorgaben verfassungsrechtliche Pflichten und Gebote.

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Verfassungsgerichte sind auch in der Lage, Rechtsschutzlücken zu füllen. Sie haben in dieser Funktion im Grundrechtsbereich über die Kontrolle durch den EGMR hinaus die Aufgabe, Rechtspositionen zeitnahe und mit effektiver Durchsetzung innerstaatlich zur Wirksamkeit zu verhelfen. Dort, wo keine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union besteht, also insbesondere auf der Ebene des Primärrechts, haben sie eine ergänzende Rechtsschutzfunktion, die unabdingbar ist, damit die Mitgliedschaft in der EU nicht in Konflikt mit den Anforderungen der EMRK gerät. Verfassungsgerichte haben schließlich eine spezifische Kontrollfunktion an der Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht. Diese Kontrollfunktion wird auf zweierlei Weise erfüllt, zum einen in Gestalt der sogenannten Identitätskontrolle, d.h. zur Wahrung von Verfassungsinhalten und Grundprinzipien des Verfassungsrechts. Die Kontrolle der Wahrung eines Mindestniveaus des Grundrechtsschutzes ist als Teil dieser Identitätskontrolle begriffen. Zum anderen wird sie in Gestalt der ultra vires-Kontrolle ausgeübt, nämlich dahingehend, dass sie vor massiven Kompetenzüberschreitungen europäischer Organe schützt. Verfassungsgerichtliche Kontrolle vertieft und rationalisiert den Prozess der Erarbeitung gemeineuropäischer Lösungen.

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Dieser Verbund der Verfassungsgerichte leistet einen besonderen Beitrag zur Entfaltung des europäischen Rechtsraums, dessen unterschiedliche Rechtsordnungen nicht bundesstaatlich zusammen gezurrt sind, sondern in einem lockeren, rechtspluralistischen Zusammenhang stehen.[46] So hat die horizontale Interaktion der nationalen Gerichte eine Kontrollfunktion gegenüber der europäischen Judikative, also gegenüber EuGH und EGMR. So gewiss auch ein Gericht alleine diese Funktion erfüllen kann: gemeinsames Handeln verspricht wirkungsvoller zu sein, wie die Entwicklung der Schranken- und Identitätsdogmatik zeigt. Entwickeln mehrere Verfassungsgerichte im Konzert und im zeitlichen Zusammenhang ähnliche Judikaturlinien, stehen sie nicht im Verdacht einen nationalen Sonderweg gegenüber „Europa“ zu verteidigen. Zugleich kann die horizontale Interaktion der gemeinsamen Verantwortung mitgliedstaatlicher Gerichte für den europäischen Rechtsraum dienen, Orientierungen und Arbeitsweisen der nationalen Richter fortbilden sowie eine gemeinsame Begrifflichkeit und damit eine gemeinsame Rechtskultur fördern.

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Was immer Rechtskultur bedeutet,[47] auf jeden Fall hat sie, wie jede Kultur, etwas mit Orientierungen, Selbstverständnissen und sozialen Praktiken zu tun.[48] Daher können eine europäische Rechtskultur und das europäische öffentliche Recht nicht allein aus dem Unionsrecht oder der Rechtsprechung des EGMR wachsen. Vielmehr verlangt sie die Vernetzung der mit der Rechtspflege betrauten nationalen Organe. Dies bestätigt die Bedeutung der Überwindung der Sprachgrenzen, des institutionalisierten Austauschs von Entscheidungen, des regelmäßigen Dialogs sowie der Entwicklung von europaweit verwandten Rechtsfiguren und Argumentationsmustern.[49]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › II. Der horizontale Verfassungsgerichtsverbund › 2. Foren, Institutionen und Probleme

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