Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 9
1. Ansiedelung in der Forschungslandschaft
Оглавление1
Das Interesse an der Verfassungsgerichtsbarkeit anderer Staaten ist so alt wie die Institution selbst. Schon der Gründungstext verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Federalist No. 78, nutzt die Erfahrung anderer Länder. Andere Schlüsselwerke zur Verfassungsgerichtsbarkeit sind sogar im Kern vergleichend.[1] In Deutschland haben vergleichende Studien das Bundesverfassungsgericht von Anfang an begleitet,[2] bislang insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Obersten Gericht der Vereinigten Staaten.[3]
2
Rechtsvergleichung zur Verfassungsgerichtsbarkeit ist somit nichts Neues. Mittlerweile sind aber eine neue Dynamik und eine bemerkenswerte Ausdifferenzierung zu beobachten. Zunächst einmal gibt es heute einen wahrlich weltumspannenden Diskussionszusammenhang. Er korrespondiert zu der bemerkenswerten Entwicklung der Institution: Inzwischen verfügen 164 von 193 Staaten über eine Verfassungsgerichtsbarkeit, also Institutionen mit verfassungsgerichtlicher Funktion, wobei in 76 Staaten eigens eingerichtete Verfassungsgerichte diese Aufgabe wahrnehmen.[4] Während in der von den Verfassungsgerichten unternommenen Selbstreflexion das deutsche Modell eine besondere Aufmerksamkeit genießt,[5] ist die inzwischen wahrlich weltumspannende akademische Debatte vor allem durch die reiche amerikanische Theoriebildung geprägt, wenngleich sie sie keineswegs monopolisiert.[6]
3
Daneben stehen regionale Diskurse, die mit engerem Fokus spezifischere Interessen verfolgen. Besonders lebendig ist der lateinamerikanische Raum mit seiner zweihundertjährigen konstitutionalistischen Tradition.[7] Hier soll die Rechtsvergleichung demokratische Verfassungsstaatlichkeit in einem besonders schwierigen Kontext voranbringen,[8] den Gewalt, systemische Exklusion breiter Bevölkerungskreise, das Vermächtnis autoritärer Regierungen, ein oft überbordender Präsidentialismus sowie schwache rechtliche Normativität kennzeichnen. Dem begegnet ein innovativer rechtebasierter, überstaatlich abgesicherter und regional radizierter Konstitutionalismus, den eine lateinamerikanische Vergleichung verfassungsgerichtlicher Institutionen und Funktionen inspiriert und stützt.[9] Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird dabei auch als Instrument verstanden, schwersten Ungerechtigkeiten zu begegnen.
4
Die spezifischen Herausforderungen, denen sich der Rechtsvergleich zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen des europäischen öffentlichen Rechts gegenübersieht, sind vielleicht von geringerer existentieller Dringlichkeit, aber doch von größter juristischer und politischer Relevanz. Sie ergeben sich daraus, dass das europäische öffentliche Recht mit seiner einzigartigen Verklammerung von unionalem Primärrecht, dem Recht der EMRK und den staatlichen Rechtsordnungen unterschiedliche und sich als autonom begreifende Regime verfassungsrechtlicher Normativität rechtlich zusammenführt, ohne sie zu einer Rechtsordnung zu verschmelzen.[10] Dies ist weltweit bislang ohne Beispiel. Und es birgt zahlreiche neuartige und komplexe Fragestellungen.
§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › I. Zur Programmatik des Bandes › 2. Die Herausforderungen des europäischen öffentlichen Rechts