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3. Methodische und rechtliche Grundfragen

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Ein europäisches öffentliches Recht, das effektiv und legitim sein soll, bedarf der Rechtsvergleichung gerade mit Blick auf die gestaltungsstarke Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Zielsetzung der innereuropäischen unterscheidet sich deutlich von globaler Rechtsvergleichung. Während die globale Rechtsvergleichung sich als gegenüber den rechtspraktischen Fächern getrennte Disziplin begreifen kann,[96] muss die innereuropäische Rechtsvergleichung angesichts der beschriebenen Herausforderungen eine juristische Standardmethode bilden.

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Die normative Grundstruktur des europäischen öffentlichen Rechts legt als juristisches Leitbild nahe, dass alle juristischen Akteure des Rechtsraums zwar nicht eine homogene Rechtskultur formen, wohl aber in einem Horizont gemeinsamer Kenntnisse, Fertigkeiten und Wertvorstellungen operieren. Nationale Verständnisse mit ihren dogmatischen Beständen sind in der Perspektive des europäischen öffentlichen Rechts rechtspraktisch wie rechtstheoretisch zu prüfen, wenngleich keineswegs stets zu harmonisieren.[97] Eine solche Prüfung verlangt Kenntnisse nicht nur des materiellen Rechts anderer Mitgliedstaaten, sondern auch Einblicke in die Funktionsweise und das Zusammenwirken von deren Institutionen und Verfahren.

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Hinsichtlich des rechtswissenschaftlichen und rechtspraktischen Stellenwerts von Rechtsakten und dogmatischen Figuren anderer Rechtsordnungen besteht kein allgemeiner Konsens.[98] Antonin Scalias Kritik eines arbiträren „cherrypicking“ steht mahnend im Raum.[99] Was immer man von rechtswissenschaftlicher und gerichtlicher Argumentation verlangt: Willkürlich darf sie auf keinen Fall verfahren.

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Nun ist die Idee des Vergleichens alles andere als willkürlich. Der Vergleich ist vielmehr ein geradezu unerlässlicher Bestandteil jeglicher Erkenntnis und regelmäßiges Moment normativer Argumentation. Die Funktion eines Vergleichs in der Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich oft in drei Typen fassen: die Bestätigung einer Aussage, die Entwicklung eines begrifflichen Rahmens, der eine bestimmte Aussage tragen soll, und die Kontrastierung.[100]

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Diese Typen erfassen den innereuropäischen wie den globalen Rechtsvergleich. Sie sind zunächst einmal analytisch. Zu klären bleibt, ob und wann ein vergleichendes Argument rechtlich zulässig ist und welchen Stellenwert es hat. Soweit der Vergleich bestätigend sein soll, ist weiter zu klären, ob überhaupt Vergleichbarkeit besteht.[101] Hier liegen schwierige Fragen, zugleich aber vor allem die vielleicht wichtigste Spezifik der Rechtsvergleichung im Rahmen des europäischen öffentlichen Rechts.

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Diese Spezifik beruht darauf, dass die innereuropäische Rechtsvergleichung, anders als wohl alle anderen Formen der Rechtsvergleichung, zwischen Rechtsordnungen erfolgt, die mit konstitutioneller Qualität verbunden sind, was den Singular europäisches öffentliches Recht rechtfertigt. Selbst wenn sie unterschiedlichen Rechtsordnungen zugehörig bleiben, bilden sie einen rechtlich verfassten Rechtsraum. Alle Rechtsakte jedweder öffentlichen Gewalt in der Europäischen Union fußen jedenfalls auf den gemeinsamen Rechtsprinzipien des Art. 2 EUV und stehen im Rahmen der Verbürgungen der EMRK. Art. 2 EUV setzt einen konstitutionellen Standard, der auf jede Ausübung öffentlicher Gewalt im europäischen Rechtsraum, sei es durch die Union oder durch die Mitgliedstaaten, Anwendung findet:[102] Er enthält keine dem Art. 51 Abs. 1 GRC vergleichbare Einschränkung.[103] An ihm sind, wie Art. 7 EUV verdeutlicht, die Mitgliedstaaten in jeder Tätigkeit zu messen. Diese gemeinsame rechtliche Grundlage etabliert grundsätzliche Kompatibilität als prinzipielle Vermutung. Weiter tragen alle Organe öffentlicher Gewalt eine gemeinsame rechtliche Verantwortung für diesen Kern des europäischen Rechtsraumes (Art. 4 Abs. 3 EUV). Da eine gemeinsame Verantwortung in einer pluralistischen Struktur nur dialogisch wahrgenommen werden kann, lässt sich somit eine Vermutung zugunsten vergleichenden Argumentierens als Baustein der Entfaltung gemeinsamer Normativität begründen. Dies gilt in besonderer Weise für den verfassungsrechtlichen Diskurs und so für die Verfassungsgerichtsbarkeit.

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Diese Vermutung prinzipieller Zulässigkeit, ja Indiziertheit innereuropäischer Rechtsvergleichung bedeutet kein „anything goes“. Jedes rechtsvergleichende Argument muss sich im Kontext des spezifischen Problems beweisen. Und es muss sich seines unvermeidbar problematischen Gehalts bewusst sein, birgt es doch auch die Gefahr weiterer Verselbständigung der verfassungsgerichtlichen Gewalt gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber. Werke wie Le gouvernement des juges et la lutte contre la législation sociale aux États-Unis,[104] Towards Juristocracy[105] oder Das entgrenzte Gericht[106] gehören insoweit deshalb zur notwendigen Begleitmusik, seit es Verfassungsgerichtsbarkeit gibt. Die demokratische Frage ist der Verfassungsgerichtsbarkeit wesensmäßig zu eigen. Dass sie nicht in jedem Fall überzeugend gelöst werden kann, liegt in der Natur der Sache. Besonders groß ist die Gefahr im demokratisch nur schwach verfassten europäischen Rechtsraum. Deshalb obliegt einem jeden Gericht ungeachtet aller Verantwortlichkeit für den Rechtsraum letztlich eine primäre Verantwortung gegenüber der Rechtsordnung, welche es eingerichtet und ermächtigt hat.[107] Doch auch diese Verantwortung ist in komparativer Umschau wahrzunehmen.

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › IV. Logik des Bandes

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