Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 13

2. Foren, Institutionen und Probleme

Оглавление

21

Ein besonders wichtiges Forum der Verbundbildung ist die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte. Sie geht auf das Jahr 1972 zurück und sollte zu Beginn vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit in den sozialistischen Ländern stärken.[50] Zunächst erschöpfte sie sich in einem diplomatisch geprägten Erfahrungsaustausch. Dank der europäischen Integration repräsentiert sie heute ein Netzwerk, welches Institutionen mit verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten aus ganz Europa in einen inzwischen dichten Interaktionszusammenhang bringt.

22

Der europäischen Vielfalt in der Verfassungsgerichtsbarkeit Rechnung tragend geht der Kreis der vertretenen Gerichte über die Verfassungsgerichte im engeren Sinne hinaus. Als Verfassungsgericht gemäß § 6 des Statuts gilt etwa auch das Schweizer Bundesgericht, obwohl es weder ein spezifisches Verfassungsgericht ist noch Bundesgesetze verwerfen darf. Dasselbe gilt für den Hoge Rad der Niederlande. EuGH und EGMR genießen seit 1981, die Venedig-Kommission des Europarats seit 1996 Beobachterstatus.[51] Nach der Präambel und der in § 3 der Satzung niedergelegten Zielsetzung geht es, abstrahierend formuliert, um die Einpassung der eigenen Funktion in den neuen gesamteuropäischen Kontext.

23

Zumindest in offiziellen Verlautbarungen hat diese Verbundbildung erhebliche Wirkkraft. Der Präsident des litauischen Verfassungsgerichts Egidijus Kūris sprach 2007 in seiner Funktion als Repräsentant der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte auf der 5. Konferenz der asiatischen Verfassungsgerichte sogar von einer „community of European constitutional courts“.[52] Wie immer man die Dichte des europäischen Zusammenhangs begrifflich deuten will: Sicherlich ist er vielfach stärker als der globale.[53]

24

Nicht nur ein Forum, sondern gar eine Institution, welche die europäischen Verfassungsgerichte vernetzt, ist die Venedig-Kommission.[54] Sie wird von einem Präsidenten geleitet und vor allem von aktuellen und ehemaligen Verfassungsrichtern getragen. Spätestens seit ihrer Auseinandersetzung mit dem neuen ungarischen Grundgesetz von 2011 ist ihr Gewicht offensichtlich.[55] Die Venedig-Kommission verfolgt zwei Initiativen mit rechtsvergleichender Stoßrichtung. Das seit 1993 erscheinende Bulletin on Constitutional Case-Law enthält Zusammenfassungen wichtiger Entscheidungen von über 60 Verfassungs- und Höchstgerichten, die von Mitarbeitern der Gerichte erstellt werden. Es soll „den Informationsaustausch zwischen den Gerichten fördern und den Richtern helfen, heikle Rechtsfragen, die sich gleichzeitig in mehreren Ländern stellen, zu lösen.“[56] CODICES, die InfoBase on Constitutional Case Law,[57] ist noch breiter und umfasst weitere 7000 Entscheidungen in englischer und französischer Sprache. Sie ist mit dem Anspruch verbunden, in hohem Maße die vergleichende Arbeit der Juristen zu unterstützen.[58] Eine bessere und spezifischere Erschließung ihres Potentials steht auf der Agenda der nächsten Jahre.

25

Im sogenannten „Sechser-Treffen“ existiert ein engeres Forum für die deutschsprachigen Verfassungsgerichte, welches neben den Verfassungsgerichten von Deutschland und Österreich, den Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein, das Schweizer Bundesgericht sowie EGMR und EuGH umfasst. Mitunter werden Referate auf diesen Treffen veröffentlicht.[59] Ein ähnliches Forum stellen die regelmäßigen trilateralen Treffen (Incontri) zwischen dem italienischen, dem portugiesischen und dem spanischen Verfassungsgericht dar.[60] Daneben gibt es zahlreiche weitere Kontakte wie im Gesprächskreis zwischen Mitgliedern des BVerfG, des britischen Supreme Court und des französischen Conseil d’État[61] oder bei zahlreichen Besuchen, von denen etwa die Pressemitteilungen des Bundesverfassungsgerichts oder die Internetseiten des spanischen und des österreichischen Verfassungsgerichts berichten.

26

Es ist ein bemerkenswertes, aber konsequentes Moment der diversen Institutionen europäischer Verbundbildung, dass sie sich nicht mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union decken. In der Tat nutzen die staatlichen Organe des europäischen Rechtsraums für ihre horizontale Vernetzung ebenso weitere wie auch engere Foren. Dies mindert den Einfluss der unionalen Organe und so die Gefahr einer unionalen Vereinnahmung. Zweifellos bilden die Gerichte von EU-Mitgliedstaaten eine Art „Kerngruppe“, welche die Ausrichtung in vielen Bereichen bestimmt. Gleichzeitig kommt es zu einem Austausch und zu einer Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen über den Raum der EU hinaus. Eigendynamik und Relevanz der horizontalen Verbundbildung werden aber auch innerhalb der Union gestärkt.

27

Das Konzept eines Verbunds sollte nicht verdecken, dass es deutliche Asymmetrien gibt. So zeigen die Länderberichte für den XVI. Kongress der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, dass der rechtsvergleichende Ausblick sich kaum jemals auf die Rechtsprechung aller beteiligten Verfassungsgerichte erstreckt, sondern meist selektiv erfolgt. Einigen wenigen Gerichten kommt regelmäßig eine besondere Rolle zu, vor allem dem Bundesverfassungsgericht.[62] Unabhängig von sprachlichen oder regionalen Gesichtspunkten wird es besonders häufig zitiert.[63]

28

Die Gründe für diese Asymmetrie dürften vielseitig sein. Der Präsident des tschechischen Verfassungsgerichtes führt aus, sein Gericht hätte sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „identifiziert“ und „darin wiedererkannt“.[64] Eine solche Identifikation mag unter anderem daran liegen, dass das Bundesverfassungsgericht sich in einer besonders starken und daher für andere Gerichte erstrebenswerten Rolle befindet.[65] Weiter würde eine Analyse der Rechtsprechung aller Gerichte die oft knappen Ressourcen überstrapazieren. Sicherlich spielen die Sprache und die Vertrautheit eine wichtige Rolle: Die herausgehobene Rolle des Bundesverfassungsgerichts hat auch etwas mit dem Gewicht Deutschlands und der vergleichsweise ressourcenstarken deutschen Forschungsförderungspolitik zu tun.[66] Nicht wenige Verfassungsrichter anderer europäischer Staaten haben kürzere und längere Forschungsaufenthalte in Deutschland verbracht und sprechen deutsch. Rechtsordnungen mit weniger günstigen Randbedingungen rücken dagegen seltener ins Blickfeld.[67]

29

Die weitere horizontale Verbundbildung sollte solche Asymmetrien, im Lichte der prinzipiellen Gleichwertigkeit der verschiedenen verfassungsrechtlichen Arrangements, kritisch im Auge behalten. Dies unterstreicht die Bedeutung der Mitwirkung aller Verfassungsgerichte an der CODICES-Datenbank und ihre Bereitschaft, Urteile in englischer Sprache online verfügbar zu machen.[68]

§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх