Читать книгу Das Stockholm Oktavo - Karen Engelmann - Страница 12

KAPITEL 5

Оглавление

Glücksspiel

Quellen: E. L., Madame S., Katarina E., Dame C. Kallingbad,

Hausmeister E., A. Nordell u. a.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass beim Kartenspiel alle verlieren. Interessant ist, wie und was sie verlieren und was daraus folgt. Graf Oxenstierna verhielt sich wie ein perfekter Gentleman, als er bei dem Spiel La Belle zwei große Grundstücke verlor. Die Mitspieler waren erstaunt über seine Contenance, doch der Sturm, der daraufhin bei ihm zu Hause losbrach, war monatelang ein ergiebiges Gesprächsthema, das seine Gattin, seine erwachsenen Kinder, ein Teil der Bediensteten und die Irischen Wolfshunde umfasste. Doch versteckte Andeutungen und Gerüchte sind nur eine kärgliche Labsal, verglichen mit dem mitreißenden Festmahl eines großen Verlustes, dessen Augenzeuge man wird. So war es, als ich zwei wohlhabende Damen kostbarste Faltfächer am Spieltisch setzen sah. Deutlich hörte ich eine Kartenspielerin, die auf einen Bluff hereinfiel, und in diesem Moment schenkte ich meine Aufmerksamkeit dem Spiel, statt mich mit jeder Faser meines Seins auf Carlotta Vingströms schöne Brüste zu konzentrieren. Bei der Spielerin, die das Wagnis eingegangen war, handelte es sich um die Baroness, allen bekannt als »die Uzanne«, eine Frau, die nie verlor.

Ich will Ihnen von der Uzanne erzählen. Getauft war sie auf die Namen Kristina Elisabeth Luisa Gyllenpalm, die zwar alle einen majestätischen Anklang hatten, aber nie benutzt wurden. Als Kind war sie das Junge Fräulein, nach ihrer Heirat eine Madame. Doch im Gespräch hieß sie immer nur die Uzanne, vielleicht weil es nur eine geben konnte. Die Uzanne sammelte Faltfächer. Diese Begeisterung hatte sie mit fünfzehn Jahren entwickelt, als sie beobachtet hatte, wie eine gleichaltrige Cousine, die weder reicher noch hübscher war als sie, einen ganzen Salon mit ihrem kunstvollen Gewedel in Bann schlug. Die Uzanne, damals noch das Junge Fräulein, konnte ihre Cousine überreden, sie in diese fesselnde Sprache einzuführen. Männer und Frauen kannten die Zeichen des Fächers gleichermaßen, und wie in jeder Sprache konnte man desto mehr ausdrücken, je geübter man war. Bald war die Schülerin darin geschickter als die Lehrerin. Zuschnappen, sinken lassen, Drehungen des Handgelenks, kleine Schläge, Fächeln und sehnsüchtiges Streicheln füllten die Lücken, die unaussprechliche Worte des Verlangens hinterließen. Die Uzanne wusste, in welchem Winkel sie den Fächer über ihre Brust halten musste, wenn sie als Kurtisane betrachtet werden wollte oder auch nicht, und wie sie mit einem Blick über einen halbgeschlossenen Fächer jeden Mann auf ihre Seite ziehen konnte. Die Gesellschaft riss sich um die Anwesenheit der Uzanne auf Bällen und in Salons. Die eifersüchtige Cousine sann auf Rache und gab ihr beim jährlichen Figurentanz einen bürgerlichen Tölpel an die Seite. Die Uzanne zog die Maske der fürsorglichen Kupplerin auf und machte einen epileptischen finnischen Grafen, der die leere Mulde in seinem Hochzeitsbett gern füllen wollte, auf die Cousine als erwartungsvolle Jungfrau aufmerksam. Die Uzanne vergoss die herrlichsten Krokodilstränen, als sie ihrer Cousine zum Abschied winkte, die sich nach Åbo einschiffte, einem scheußlichen Kaff, das sich als Finnlands Hauptstadt bezeichnete.

Die Uzanne hatte ihre Waffe gefunden. Jahrelang praktizierte sie ohne Unterlass, sie reiste nach Paris und Wien, um von Konkubinen und Königinnen zu lernen, die hinter dem Thron die Fäden zogen, und sie besuchte Fächerhersteller, von denen sie Tipps und Tricks bezog. Mit neunzehn Jahren feierte sie ihren größten Triumph, als sie den reichen jungen Baron Henrik Uzanne erst in ihre Arme und dann in ihr Bett fächelte. Nach drei Monaten vermählten sie sich. Nur ihre ältere Schwester, die mit besagtem Edelmann verlobt gewesen war, schien völlig am Ende. Stolz nahm das junge Fräulein den alten französischen Familiennamen an, der ein Jahrhundert zuvor Einzug in Schweden gehalten hatte. Dass der Name Uzanne damals einen ehrgeizigen Landsknecht verkörperte, der sich seinen Weg nach oben mit dem Säbel erkämpft hatte, erwähnte sie nie.

Henrik war die perfekte Eroberung: hochbegehrt, aristokratisch, gutaussehend, eine angenehme Gesellschaft und mit ausreichend eigenem Vermögen ausgestattet, um ihren Wünschen nachzukommen. Mit der Zeit fand die Uzanne heraus, dass Henrik mehr war als nur eine Trophäe, die sie mit ihrem beispielhaften Talent gewonnen hatte. Er liebte sie, und mit ihm fand sie die Leidenschaft ihres Lebens. Henrik war politisch sehr engagiert und führte die Uzanne in die Spiele der Regierenden ein, was sehr viel verlockender war als die Tändelspielchen und Intrigen bei Hof. Erst weckte Henrik ihr Interesse, dann fand er in ihr eine scharfsinnige Beobachterin und Analytikerin. Die Uzanne und ihr Henrik verschworen sich mit den Patrioten zugunsten einer Wiedereinsetzung der Herrschaft des Adels mit Herzog Karl als Strohmann auf dem Thron. Ihr Komplott schweißte sie enger zusammen als viele andere Ehepaare, und keiner konnte verstehen, warum sie sich nicht mitunter zu einem Stelldichein trafen. Henrik war betrübt über ihre Kinderlosigkeit, aber die Uzanne hatte nicht vor, schon bald Mutter zu werden. Abgesehen von ihrer Eitelkeit und den Risiken einer Geburt hielt sie Kinder für die größte Unannehmlichkeit, die sie sich vorstellen konnte. Sie ließ Henrik freie Hand bei ihren Zofen, mit denen er ein paar süße Bastarde zeugte, und so war diese kleine Unstimmigkeit beseitigt. Als sie es schließlich für angebracht hielt, einen Erben zu produzieren, war es leider zu spät.

Henrik gab auch ihrer Leidenschaft für Fächer nach, und bald besaß die Uzanne eine Sammlung, die ohnegleichen war. Sie umfasste alle Farben, alle Länder, alle Arten. Italienisches Sandelholz, spanische Spitze, russisches Pergament, englisches Silber, japanische Seide und alles, was aus Frankreich kam. Und die Uzanne würde alles geben für einen Fächer, den sie einen »Charakter« oder eine »Novität« nannte. Charaktervolle Fächer übermittelten ein bestimmtes Gefühl; ihre Sammlung beinhaltete Sehnsucht, Melancholie, Wut, Langeweile, Lust, Verliebtheit und verschiedene Formen des Wahnsinns. Novitäten waren Teleskopfächer, double-entente, die sich in beide Richtungen öffnen ließen und zwei verschiedene Ansichten hatten (Henrik mochte vor allem die pornographische Variante), Cabriolet-Fächer, Surprise-Fächer mit Vexierbildern, Blätter mit Gucklöchern aller Art, Deckstäbe mit Uhr, Stäbe mit Thermometer und sogar einen Fächer mit einer Gemme am Dorn, die eine Prise Schnupftabak oder Arsen enthielt. Als Henrik seiner Frau den Fächer »Kassiopeia« zum Geburtstag schenkte, wurde er zum Kronjuwel ihrer Sammlung. Kassiopeia vereinte auf sich den Charakter unwiderstehlicher Autorität und das Novum eines geheimen Schaftes im exquisit gearbeiteten Mittelstab sowie Schönheit und die geheimnisvollen Bande einer Künstlerin mit ihrem Instrument. Die Uzanne und Kassiopeia passten zusammen wie eingeschworene Liebende auf einem zu kleinen Diwan, die wissen, wie sie sich bewegen müssen, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen.

Mit der Zeit baten die Damen der Stadt die Baroness, ihnen ihre Geheimnisse zu enthüllen; die Uzanne aber wusste, dass Wissen wertvoll war. Schon bald bezahlten die Töchter aus den Adelshäusern von nah und fern teuer für ihren Unterricht. Unter ihrer Anleitung konnten Mütter zusehen, wie ihre Töchter sich allmählich als raffiniert und schlau erwiesen und selbst in der schillerndsten Gesellschaft auf dem Kontinent in der Lage waren, zu brillieren. Nicht selten wurde ihnen die Ehe angetragen. Die Mädchen sahen sich einer langen Schlange von Freiern gegenüber, Offiziere drückten sich in ihren dunkelblauen Uniformen und nach Kölnischwasser duftend an sie, Diplomaten flüsterten ihnen unübersetzbare Worte ins Ohr, Edelleute wagten es, ihre Hände, Brüste, Schenkel zu berühren und ihre Lippen mit der Zunge zu teilen, sie zu öffnen wie einen Fächer von der Hand einer Expertin: langsam, ganz langsam, bis er so weit offen ist, dass er zu reißen droht. Doch ein Regiment Freier war gar nichts – die Uzanne wusste, dass der Fächer weitaus größere Macht hatte.

Nach vielen Jahren des Studiums und der Übung war sie in der Lage, den Informationsfluss in jedem beliebigen Raum mit dem Fächer zu steuern. Sie konnte einem unbeabsichtigten Ohr eine Nachricht zukommen lassen oder sich selbst eine zufächeln, sie konnte die Aufmerksamkeit eines Einzelnen oder vieler mit einer leichten Veränderung des Winkels, der Geschwindigkeit und des Vorsatzes durch den Äther hindurch wecken. Es war eine umwerfende Kombination aus Kunstfertigkeit und Können, die als Visitenkarte, soziales Band und Statusanzeige fungierte. Doch es war auch ein perfektes Werkzeug für eine Frau, die an Spielen teilnehmen wollte, die normalerweise mächtigen Männern vorbehalten waren. Denn einen Fächer würde man niemals für eine Waffe halten.

1789 waren die politischen Ziele von Henrik und der Uzanne in Reichweite. Nach Gustavs verheerendem Krieg mit Russland lag Schweden danieder, der Reichsrat stand im Verdacht des Ämterkaufs, und die Angst vor einer Revolution fachte den weitverbreiteten Wunsch nach einer Rückkehr zur Tradition an. Doch die Vereinigungs- und Sicherheitsakte – Staatsstreich und unblutige Revolution in einem – sahen die Uzanne und Henrik nicht voraus. Als Gustav die Führer der Adelspartei verhaften ließ, war alles verloren. Henrik erholte sich nie wieder von dieser Prüfung, obwohl er während seines Arrests auf Schloss Fredrikshof standesgemäß behandelt wurde. Im November desselben Jahres starb er an einer Lungenentzündung, und die Uzanne dachte, ihr Leben sei zu Ende. Fast einen Monat lang hütete sie das Bett, dann konnte Herzog Karl sie überreden, mit ihm und der jungen Herzogin zur Christmette zu gehen. Ein Jahr lang trug sie Schwarz, sie empfing nur wenige Besucher, weigerte sich, bei Hof zu erscheinen, und gab den Unterricht für die jungen Damen für immer auf. Doch in ihrer wachsenden Verdrossenheit über König Gustavs scheinbare Unbesiegbarkeit sowie über Herzog Karls unentwegte Ambivalenz gegenüber seinem Bruder, dazu in einem plötzlichen, unstillbaren Rachedurst begriffen, begab sich die Uzanne im Dienste ihrer Nation schließlich wieder aus ihrer Isolation heraus.

1791 war sie bereits an den vielen Intrigen und Ereignissen in der Stadt beteiligt. Am 20. Juni dieses Jahres, es war Mittsommer, besuchten die Uzanne und Kassiopeia ein Fest, das neben Politik auch das übliche Kartenspiel, Klatsch und Tratsch und ausgelassene Lustbarkeit versprach. Für die Uzanne war es die perfekte Mischung, und ihre neueste Protégée Carlotta Vingström sollte sie unbedingt begleiten.

Carlotta und ich tauschten eine Reihe dringlicher Nachrichten hinsichtlich dieses Abends aus, denn wir hatten schon andere Pläne, aber Carlottas Position bei der Baroness war eine unanfechtbare Ehre und Verpflichtung. Und für mich war es genau die Gelegenheit, die ich brauchte. Fast zwei Wochen pflegten Carlotta und ich nun schon eine tägliche Korrespondenz, und ich besuchte die Weinhandlung so oft wie möglich, wichtige Themen hatten wir bislang jedoch noch nicht angeschnitten. Ich erstickte das Gemecker meines Vorgesetzten mit einer Flasche eines ausgezeichneten Tempranillo und versprach ihm, es sei die erste von vielen aus dem Keller meiner zukünftigen Schwiegerleute, denn zu Mittsommer wollte ich meine Absichten offenlegen und auf Antwort drängen.

Ich setzte Carlotta meine gewagten Pläne auseinander, um als ungeladener Gast Zutritt zu bekommen – nur um mit ihr zusammen zu sein. Dabei wusste ich, dass es nichts Leichteres gäbe, denn die Adresse war Gråmunkegränd 35. Aber das verriet ich Carlotta nicht. Um elf Uhr wurde ich erwartet, um die dritte Karte meines Oktavos zu legen, und Madame Sparv würde niemals von mir verlangen, meinen Schwur zu brechen.

Der Abend ließ sich gut an: Um sieben Uhr überbrachte mir meine Vermieterin Frau Murbeck eine letzte Nachricht von Carlotta, in der sie ihre Anerkennung für das Risiko ausdrückte, das ich ihretwegen einzugehen bereit war, ihre Überzeugung, dass ich mit Leichtigkeit in diese illustre Gesellschaft passen würde, und ihre Ungeduld, mit mir zusammen zu sein, sobald das Fest vorüber wäre. In einem frischgebügelten vornehmen Anzug und mit einem Spritzer Kölnischwasser benetzt eilte ich in die Gråmunkegränd. Die Glocken der Sankt-Nikolai-Kirche schlugen acht Uhr, aber der Himmel war hell wie am Mittag. Die Häuser und Straßen der Stadt waren mit Birkenzweigen und Blumengirlanden geschmückt. Hier und da standen zur Feier des Tages Mittsommerstangen, umschlungen von grünen Ranken und Blüten, angetan mit Kränzen und Bändern, die im Wind von der Bucht herauf flatterten. Die Gäste kamen lärmend an, die Räder ihrer Kutschen holperten über die Steine, man rief sich gegenseitig Grüße zu. Dann fuhr eine besonders elegante schwarze Kutsche mit einem freiherrlichen Wappen vor, und in das Hufgeklapper mischte sich das unmissverständliche Geplapper, das nur eine erregte Carlotta von sich geben konnte.

»Ich weiß Ihnen so viel über dieses Haus zu erzählen, Madame«, Carlotta sprang in schäumender zitronengelber Seide aus der Kutsche, »ich habe aber gewartet, bis wir hier sind, damit Sie das Geheimnis aus erster Hand erleben können. Wenn Sie einen Blick auf den Scheitelstein im Türbogen werfen wollen, Madame – sehen Sie das Gesicht? Es heißt, es würde sich bewegen. Das hier ist ein Geisterhaus, Madame.«

Die Uzanne spickte aus der Kutsche. »Das interessiert mich nicht, Carlotta. Ich will wissen, warum Herzog Karl uns alle hier in dieses gottverlassene Viertel bestellt hat«, sagte sie. Ihre Stimme war überraschend melodisch. Ich erwartete eine plumpe Matrone, die aussah wie ein großer, angeknabberter Kuchen vom Fest der letzten Nacht. Die Uzanne berührte kaum die Hand des Dieners, als sie aus der Kutsche stieg. Ihr helles Kleid schimmerte vor dem schwarzen Lack der Kutschentür. Die Robe, die sie trug, war nach der neuen Mode, à la anglaise, eng geschnitten, und die seegrüne Schärpe um ihre Taille brachte ihre Figur aufs Vorteilhafteste zur Geltung. Ihr dunkles Haar war nicht gepudert und schlicht frisiert, sie berührte es kurz, wie um sich zu vergewissern, dass es richtig saß. Im Spiel aus Licht und Schatten sah sie aus, als wäre sie in Carlottas Alter.

»Herzog Karl wünscht eine Audienz bei der Wahrsagerin hier.« Carlotta biss sich auf die Lippe, blickte aber weiterhin auf das steinerne Gesicht. »Ich habe die zuverlässigsten Quellen befragt, Madame, und alle haben mir versichert, dass diese Hellseherin unfehlbar ist.«

»Niemand ist unfehlbar, Carlotta – egal, was der Papst sich wünschen mag.« Die Uzanne ließ mit einer solchen Schnelligkeit einen Fächer aufschnappen, dass ich erstarrte. »Und warum soll Herzog Karl gerade von dieser Scharlatanin so angetan sein?«

»Sie ist König Gustavs Beraterin.« Mitten im Schlag ließ die Uzanne ihren Fächer innehalten – es folgte die Stille einer überheblichen Zurückweisung. Carlotta fuhr fort: »Herzog Karl teilt das Interesse seines Bruders am Okkulten und sucht Bestätigung und Führung. Und wer könnte das besser leisten als des Königs Quelle des Glücks? Der Herzog bestand darauf, dass die Hellseherin und ihre Räumlichkeiten ganz kurzfristig verfügbar sein mussten.«

»Und Gustav ist bereit, sein Orakel zu teilen?«

»O nein, König Gustav weiß davon nichts. Er ist auf Reisen.« Carlotta dämpfte die Stimme: »Die Frau ist eine glühende Royalistin, Madame. Sie hat sich geweigert, den Herzog zu empfangen. Und natürlich wurde sein Interesse durch ihre Ausflüchte nur noch angefacht. Er hat ihr klargemacht, dass er eine Weigerung nicht akzeptieren würde.« Die Damen betraten das Treppenhaus. »Ich verstehe nur nicht, warum der Herzog nicht allein kommt. Warum will er während eines Mittsommernachtsfestes eine Wahrsagerin aufsuchen?«

Die Uzanne drehte gemächlich ihren Fächer. »Der Herzog ist auf Veränderung bedacht, aber er braucht eine Menge Rückversicherungen. Er braucht Gesellschaft.«

Ich sah, wie sie die Treppen hinaufstiegen, ihre gerafften Röcke entblößten weiße Strümpfe und Satinschuhe mit geschweiften Absätzen. Die kleinen Messinglaternen auf jeder Stufe ließen den weichen Schwung der Knöchel schimmern. Carlotta war ein saftiger Pfirsich, aber sie hüpfte und sprang wie ein junges Mädchen. Die Uzanne hingegen bewegte sich mit einer Anmut, die man nur durch jahrelange aristokratische Übung erlangte, und das machte sie noch schöner – eine Frau, die man berühren wollte, auch wenn man wusste, dass man es nicht tun sollte, bei der man aber dennoch dreist genug sein wollte, es zu versuchen. Ich folgte in respektvollem Abstand und beobachtete, wie Carlottas prachtvoller Hintern sich majestätisch vor mir erhob.

Katarina zog eine Augenbraue hoch, wagte aber nicht, mich daran zu hindern, dass ich mich zu den Gästen gesellte. Im Foyer blieb die Uzanne kurz stehen und besah sich die Porträts des schwedischen und des französischen Monarchen. »In der Galerie der Herrscher fehlt ein königliches Bildnis«, sagte sie. »Herzog Karl. Es sei denn, hier bekommen nur diejenigen die Ehre, deren Zeit abgelaufen ist.«

Einen Herzschlag lang herrschte tiefes Schweigen, dann brandete Applaus auf, die Kommentare überschlugen sich.

Madame Sparv beobachtete alles vom anderen Ende der Diele aus. Sie trug ein helles grau-grünes Kleid und einen Paisley-Schal, der eher zu einer Tagesgarderobe gepasst hätte. Ihr braunes Haar war ungepudert, sie hatte es im Nacken zu einer Schnecke zusammengebunden und trug weder eine Perücke noch eine Haube. Ihr Gesicht war eine starre Maske. Nur die Hände verrieten ihren Ärger, sie hatte sie an ihren Seiten zu roten Fäusten geballt. Neben ihr stand ein zierlicher Mann in einer Militäruniform von äußerst vornehmem Schnitt und Tuch. Mit geübter Anmut trat er vor und schenkte der Uzanne einen ausgiebigen Kuss auf ihre behandschuhte Hand, dabei sah er Carlotta an, die ein paar Schritte hinter ihr stand.

Hinter mir kam Katarina herauf und zwickte mich in den Arm. »Das ist er. Herzog Karl.« Ich hatte erwartet, dass dieser Armeeheld und königliche Casanova von eindrucksvollerer körperlicher Statur wäre. »Er hat seine Gemahlin am Mälarsee und seine Mätresse auf der anderen Seite der Brücke auf Kungsholmen zurückgelassen«, flüsterte sie.

»Ich bestehe darauf, dass wir hier und heute Nacht nur in die Zukunft blicken, Madame Uzanne«, sagte Herzog Karl, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas zu. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund. Sie sah durch den Flur zu Madame Sparv, fing deren Blick auf und hielt ihm stand. Hätte Herzog Karl die Uzanne nicht zu den Spielsälen geführt, wären sie wahrscheinlich noch eine ganze Zeit lang so stehen geblieben.

»Der Herzog denkt, Madame Sparv würde ihn für die spirituelle Sitzung reiner finden, weil er allein gekommen ist, aber vielleicht steigt er die Treppen jetzt dennoch befleckt herauf.« Katarina schluckte ein Lachen hinunter, und ich kaschierte meines, indem ich hustete. Ich beobachtete, wie der Herzog Carlotta vorgestellt wurde. Lange hielt er ihre Hand in seinen beiden Händen, was mich erröten ließ, dann entschuldigte er sich und verlangte nach Madame Sparv, die ihn die Stufen zum oberen Zimmer hinaufführte. Ein Offizier stellte sich vor die Stiege und blockierte den Weg.

Ich folgte Carlotta und der Uzanne in den Spielsaal. An die vierzig Gäste hatten sich eingefunden, Gesichter und Roben der Damen wirkten blass in dem dunklen Raum. Die Herren, die gedecktere Farben trugen, traten in den Hintergrund wie Geister. In der warmen, stehenden Luft roch es nach Parfüm, Tabak und Schweiß. Das Gelächter klang ein wenig gezwungen, die Spieltische waren noch leer, und eine erwartungsvolle Spannung schmälerte die sonstige Lust auf Spiel und Gelage.

»Ich kann nicht glauben, dass ich Seiner Gnaden begegnet bin«, sagte Carlotta ehrfürchtig. »Ich bin dem Herzog begegnet! Oh, Madame, meinen Sie, die Zeichen sind günstig?«

»Dieser Hang zur Magie ist pure Schwäche. Der Herzog muss sich zuverlässigere Mittel beschaffen«, sagte die Uzanne und klappte langsam ihren Fächer auf.

»Aber der Herzog …«

»Ich bin durstig, Carlotta. Nehmen Sie selbst auch eine Erfrischung zu sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und hören Sie auf, an Ihrer Lippe herumzubeißen!«

Carlotta eilte davon. Ihre respekteinflößende Gönnerin begann, in einem steten Rhythmus mit dem Fächer zu wedeln, langsamer nach außen, gefolgt von einem schnellen Schlag nach innen. Sie schien sich auf die Damen im Raum zu konzentrieren – oder eher auf die Fächer, die diese bei sich trugen. Der heutige Abend bot ihr Gelegenheit, in aller Ruhe die Faltfächer zu begutachten, die vor kurzem die Stadt erreicht hatten, und sowohl ihr Wissen über sie als auch ihre Sammlung zu erweitern. Die Uzanne wartete geduldig, in der Hoffnung, ein neues oder seltenes Exemplar zu entdecken. Wenn etwas Begehrenswertes auftauchte, verwickelte sie die Besitzerin in ein Gespräch, entlockte ihr Preis und Herkunft des Fächers und überlegte dann, ob er es wert war, nach ihm zu trachten. Nach ein paar Minuten zog sie einen elfenbeinfarbenen Block und einen Bleistift aus der Tasche ihres Kleides und machte sich Notizen. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Herren; sie begann, durch den Saal zu wandern und deren Gespräche zu belauschen. Während ich ihr unauffällig folgte, bekam ich Bruchstücke davon mit: König Gustav wolle die Führung des Reichstags und die Arbeit in den Ministerien unwissenden Ladenbesitzern und ungehobelten Bauern überlassen; Schweden sei in größter Gefahr, es brauche Stabilität und Tradition, die nur die Patrioten dem Land geben konnten; der Tyrann müsse beseitigt und sein angeblich unrechtmäßiger Erbe unter Kontrolle gebracht werden; Herzog Karl müsse ganz einfach den Thron besteigen. Wenn die Hellseherin doch nur ein Omen dazu liefern würde – er würde es tun!

Der Eifer dieser hochverräterischen Gespräche wurde immer glühender, das Tempo des Fächers der Uzanne steigerte sich entsprechend, bis sich auf einmal alle Köpfe drehten und die Stimmen verstummten. Herzog Karl stand mit Madame Sparv am Arm am Fuß der Treppe. Er lächelte herzlich, aus seinem Gesicht sprach Bewunderung. Madame Sparv war blass, sie hatte den Blick starr auf den Boden gerichtet.

»Dass Gustav Sie seit Paris für sich allein behalten hat, ist eine Ungerechtigkeit und macht die alte Kränkung, damals zurückgelassen worden zu sein, nur noch größer. Ich bin überglücklich, Sie endlich kennengelernt zu haben.«

Der Herzog nahm Madame Sparvs Hand und küsste sie in Dankbarkeit. Die Menge applaudierte und drängte sich zu ihm, aufgeregte Stimmen erhoben sich. Die Zeichen waren also eindeutig günstig gewesen. Madame Sparv machte einen schnellen Knicks, dann eilte sie zurück ins Hinterzimmer und wischte sich die Hand am Kleid ab. Als sie vorbeilief, berührte ich sie am Ärmel. Sie blieb stehen und starrte mich an. »Sie?«

»Madame Sparv!«, zischte ich. »Ein Treffen der Patrioten – hier?« »Ich habe nicht darum gebeten, weiß Gott nicht! Aber warum, in Dreiteufelsnamen, sind Sie hier, Herr Larsson?«, fragte sie aufgeschreckt.

»Wegen meines Oktavos. Und wegen Carlotta«, sagte ich leise. »Carlotta Vingström. Sie begleitet die Uzanne.«

»Sie müssen lauschen!«, flüsterte sie und deutete auf den Herzog. »Ich bin verpflichtet, meine Visionen zu schildern, und ich fürchte, er will danach handeln. Gehen Sie schnell, aber seien Sie diskret«, sagte sie und war schon weg, bevor ich noch protestieren konnte.

Aus Neugier und nun auch aus einem gewissen Maß an Vorsicht hielt ich mich im Hintergrund. Ich ging ins Foyer, wo Herzog Karl und die Uzanne im Gespräch mit General Carl Fredrik Pechlin waren, König Gustavs langjährigem Gegner. Pechlin wechselte seine politischen Verbündeten öfter als ein Mann die Strümpfe, immer aber stand er auf der Seite der machtvollsten Gegner des Königs. Man sagte, Pechlin sei nur noch auf freiem Fuß, weil es für seine landesverräterischen Reden keine Zeugen gab. Ich stellte mich locker zu einem Grüppchen in ihrer Nähe und sorgte dafür, dass mein Gesicht im Dunkeln blieb.

»Herzog Karl, Ihr braucht wahrlich keine Bestätigung von einem Blatt Karten«, sagte die Uzanne.

Der Herzog wurde rot und zog in nervöser Erregung seine Manschetten glatt. »Wir hatten keine Karten, Madame. Diese Sofia Sparv ist in irgendeinen veränderten Bewusstseinszustand eingetreten. Ich durfte ihre Verwandlung nicht beobachten.« Der Herzog blickte die Stiege hinauf zu dem oberen Raum. »Zwei Kronen – sie hat gesagt, ich würde zwei Kronen tragen.«

»Na, dann haben wir doppeltes Glück«, sagte Pechlin und umklammerte mit seinen altersfleckigen Händen den Elfenbeinknauf seines Gehstocks. »Hat sie Euch weiteren Rat gegeben?«

»Ich drang in sie, aber sie wollte nichts sagen.« Herzog Karl machte ein wütendes Gesicht, als hätte man ihn irgendwie hintergangen. »Ihr müsst mich beraten, liebe Freunde. Ich bin nicht sicher, auf welchem Weg diese ruhmreiche Vision eintritt.«

»Es gibt nur einen Weg«, sagte Pechlin, »es scheint zwar ein dunkler zu sein, doch er wird uns alle zum Licht führen. Er muss verschwinden. Für immer.«

»Das ist zu dunkel, General, viel zu dunkel.« Herzog Karl zog die Stirn kraus und wandte sich an die Uzanne. »Sie sehen heute Nacht aus wie ein Engel, Kristina. Wie schön, Sie aus den schwarzen Kleidern heraus zu wissen! Vielleicht haben Sie in dieser Sache eine sanftere, klügere Vorgehensweise anzubieten.«

»Ich würde sagen, viele Pfade führen zum Sieg, und die offensichtlichsten Wege sind nicht immer die besten. Ein Verschwinden ja, aber nicht für immer. Lediglich körperlicher oder auch geistiger Abstand. Ich bevorzuge ein raffinierteres Gefecht.«

»Für eine Frau ist in der Schlacht kein Platz, Herzog Karl«, sagte Pechlin.

Der Herzog ignorierte ihn, seine Hand glitt über die grüne Seidenschärpe an der Taille der Uzanne, seine Augen und sein Atem hingen an ihrem Busen. »Welche Waffen würden Sie tragen?«

»Nicht die Waffen der Männer«, gab sie mit einem Lächeln zurück und hob mit dem Rand ihres Fächers Herzog Karls Kinn an.

Er beugte sich weit vor, seine Lippen berührten ihr Ohrläppchen. »Ein Engländer sagte einmal: ›Damen sind mit dem Fächer bewaffnet wie Männer mit dem Schwert, und manchmal führen sie damit mehr Exekutionen aus.‹«

»Das Rascheln und Raffen eines Rocksaums, ein Seufzer, ein Fächer. Haltet Ihr das für geeignete Mittel, um eine Krone zu brechen?«, fragte Pechlin.

»Sie haben es zwanzig Jahre lang ohne Erfolg versucht, General, und Sie hatten alle Mittel der Männerwelt zur Verfügung«, konterte die Uzanne, ihre Wangen wurden rosig unter dem Film aus weißem Puder.

Pechlin blickte an die Decke. »Kennt Ihr die Fabel von der Sonne und dem Wind, Herzog? Die beiden schließen eine Wette ab, welches Element dem Wanderer den Umhang vom Rücken reißt. Und es ist nicht die Luft – das Feuer gewinnt die Oberhand. Ich nähre diese Flamme seit Gustavs Handstreich ’72.«

»Ich hüte beides, General, Wind und Feuer, und mein Feuer ist frisch; ich habe die Trauerzeit erst seit kurzem hinter mir«, sagte die Uzanne und ließ ihren Fächer zuschnappen.

»König Gustav hat mich zusammen mit Ihrem Gatten und achtzehn weiteren Edelleuten inhaftiert, Madame. Meinen Sie, mein Feuer sei erloschen?«

Herzog Karl ließ langsam die Hand von der Taille der Uzanne gleiten und verbeugte sich vor Pechlin. »Gab es jemals einen standfesteren General?« Er küsste der Uzanne die Hand. »Und gab es jemals eine charmantere Amazone?«

»General.« Die Uzanne nickte Pechlin kühl zu.

»Madame.« Pechlin verbeugte sich, allerdings nur leicht.

»Madame?« Carlotta war erleichtert, die Uzanne zu finden, und eilte herbei. »Oh!« Sie blieb stehen und machte einen anmutigen Knicks vor dem Herzog, dabei streckte sie die Hände mit Kelchen voller Minze-Punsch aus und bot sie ihm an, die schlaffen Blätter hingen an dem beschlagenen Glas.

»Der Zauber des Abends geht weiter! Sie kommen genau im richtigen Moment, meine liebe Nymphe.« Der Herzog nahm die angebotenen Kelche, einen reichte er der Uzanne, den anderen dem General. »Ich werde zwei Kronen tragen, eine für die Luft, die andere für das Feuer. Ihr müsst einander zuprosten wie Sonne und Wind, die sich am Firmament in vollkommener Eintracht befinden.« Man hörte ein leises, zögerliches Klirren und wie der Stolz hinuntergeschluckt wurde. »Dann ist das Spiel nun eröffnet. Gut Glück für alle!«, kündigte der Herzog mit lauter, heiterer Stimme an. Er wandte sich an Pechlin: »Sie haben einen Tisch reserviert, General?«

Pechlin nahm den Herzog am Arm und führte ihn weg von der Uzanne. »Einen hervorragenden Ecktisch, wo wir die Vision der beiden Kronen in ernsthafter Runde besprechen können. Meine Männer werden dafür sorgen, dass wir völlig ungestört sind.«

»Ich muss der jungen Herzogin die gute Nachricht überbringen … und der ersten Mätresse natürlich auch. Gut, dass ich zwei Kronen haben werde, nicht wahr?«, sagte der Herzog zu Pechlin.

»Ich finde, wir sollten die Einzelheiten für uns behalten, bis wir einen Plan gefasst haben.«

Die Uzanne sah, wie die beiden Männer Arm in Arm weggingen, immer wieder klappte sie dabei ihren Fächer halb auf und schloss ihn wieder.

»Genießen Sie die Zerstreuung, Madame!«, rief Pechlin über seine Schulter.

Carlotta wartete, bis der Herzog weit genug weg war. »Ich dachte, er sei größer«, sagte sie.

»Die Krone macht jeden Mann größer«, wusste die Uzanne. »Sogar der Speichellecker, der an seinem Arm hängt, wird erhoben.«

Es dauerte eine Weile, bis ich Madame Sparv diese Gespräche mitteilen konnte, sie wies gerade einen Hausjungen an, eine Kiste Wein im hinteren Treppenhaus auszupacken. Sie fuhr herum und wischte sich das Stroh vom Kleid. »Können Sie sich an den Tisch des Herzogs setzen?«, fragte sie.

»Das ist unmöglich.«

»Ja, natürlich. Und wenn Sie sich in seiner Nähe herumtreiben, fällt es auf …« Sie presste die Lippen zusammen und überlegte. »Dann bleiben Sie dicht an der Uzanne dran und warten Sie auf ein Zeichen.«

»Was für ein Zeichen?«

»Das weiß ich nicht.« Verdruss lag in ihrer Stimme. »Kommen Sie zu mir ins obere Zimmer, wenn alle Gäste gegangen sind.«

»Aber ich habe vor …«

»Wir müssen heute Nacht unsere dritte Karte legen, auch wenn es lange nach elf Uhr ist. Gehen Sie jetzt, Herr Larsson, gehen Sie!«

Ich widersprach nicht weiter, ich würde Carlotta einfach mitbringen. Sie wäre fasziniert, Herzog Karls neues Orakel kennenzulernen.

Ruhiges Auftreten ist die erste Faustregel des professionellen Spielers, also ließ ich mir Zeit und trank ein halbes Glas Punsch, bevor ich in die Spielsäle ging. Carlotta und die Uzanne schlängelten sich mit ihren Kleidern zwischen den Sitzgruppen der mit grünem Tuch bespannten Tische und schweren Stühle hindurch. Die Uzanne ging hinter Carlotta, sie ließ ihren Schützling einen Weg durch das Gedränge bahnen, doch ihre Augen waren auf den Tisch des Herzogs und die Nebentische gerichtet, die sich schon mit Spielern füllten. Sie ging hin und sprach kurz mit Herzog Karl, wurde aber nicht aufgefordert, Platz zu nehmen. Dann folgte sie Carlotta auf die andere Seite des Raums, ihr Fächer wedelte neben ihrem Ohr und trug die Worte des Herzogs so nah wie möglich zu ihr heran.

Carlotta hatte ihre Erfrischung zu schnell hinuntergestürzt, ihre Wangen waren rot.

»Madame, ich habe den besten Tisch für uns, dort können wir alle sehen und von allen gesehen werden, er ist nicht zu nah an der Musik, aber nahe dem Buffet, das, o Madame!, mit dem allerhübschesten oberfränkischen Porzellan gedeckt ist, Erdbeeren in Kristallschalen türmen sich bis an die Decke, russischer Kaviar, Himbeeren, pochierter Lachs in Aspik, weißer Spargel, Pfirsichspalten und …«

»In Zukunft sollten Sie versuchen, einen Tisch mit dem Kopf oder zumindest mit dem Herzen auszusuchen, Carlotta, und nicht mit Ihrem Magen!«

Carlotta knickste im Gehen, zum Zeichen, dass sie den Hinweis verstanden hatte. »Ah, hier ist unser Spieltisch. Und … unsere liebe Freundin Frau von Hälsen.« Carlotta blieb stehen, um ihre Bahn angesichts des unerwarteten Hindernisses auf ihrem Weg zu korrigieren. »Wie schön, dass Sie uns beim Spiel Gesellschaft leisten können, Frau von Hälsen. Was Sie hier sehen, ist meine Schärpe, die ich über die Stühle gelegt habe, um unsere Plätze zu belegen. Natürlich hoffen wir, dass Sie zu einer netten Partie bleiben«, sagte Carlotta mit einwandfreier Heuchelei. Ihr Wissen über Frau von Hälsen gründete auf ein paar Abschnitten schmutzigen Tratsches, der in der Zeitung Nya Posten unter der Schlagzeile »Ein freudiges Leben« erschienen war. »Madame?« Carlotta wandte sich an die Uzanne, die diese Entscheidung treffen musste.

Frau von Hälsens Augenbraue zeigte deutlich, dass sie nicht die Absicht hatte, einen Tisch mit Carlotta und der Uzanne zu teilen, aber nun saß sie in der Falle. Würde sie gehen, wäre das ein schlimmer Affront; wollte sie aber bleiben, müsste sie erst fragen. Die Uzanne, die gesellschaftlich höher stand, nickte, sie setzte sich auf den Stuhl rechts von Frau von Hälsen und tauschte Höflichkeiten mit ihr aus. Erst als Frau von Hälsen ihren Fächer öffnete, machte die Uzanne ein gespanntes, neugieriges Gesicht.

»Was für ein exquisites, schönes Exemplar, Frau von Hälsen. Erzählen Sie mir davon.« Ihre Stimme war weich und warm.

Frau von Hälsen legte ihren Fächer sanft auf den Tisch. »Er heißt Eva.« Eva war mit vergoldeten Elfenbeinstäben gefertigt, das Blatt bestand aus weichster weißer Schwanenhaut und war kunstvoll mit einer verschnörkelten Kartusche bemalt, die einen üppigen Garten einrahmte. Dichte tropische Bäume, die mit reifen roten und purpurnen Früchten vollhingen, beschatteten Rabatten mit farbenprächtigen Blumen. Der Himmel war wolkenlos und strahlend blau. Ein Pfau stand am Rand, er schlug ein Rad, das voller Augen war. Im Schatten des Hains sah man die vagen Umrisse einer Frau neben einem Zweig, von dem dicke Ranken herabhingen. Eva war nicht nur ein schönes Exemplar von Wertarbeit aus dem Paris der Jahrhundertmitte, sie hatte darüber hinaus auch einen Charakter, den der Kenner als »Versuchung« definieren könnte. So einen Fächer hatte die Uzanne in ihrer umfangreichen Sammlung noch nicht.

»Für so einen Fächer würde ich einiges geben«, sagte sie.

»Ich habe dafür bereits einiges gegeben«, antwortete Frau von Hälsen, schloss den Fächer langsam und legte ihn auf ihren Schoß.

»Welches Spiel ist Ihnen genehm, Frau von Hälsen?«, fragte die Uzanne höflich.

»Boston Whist, Madame. Gibt es auch andere?« Frau von Hälsen nahm eines der beiden Kartendecks vom Tisch und reichte es der Uzanne. »Madame gibt.«

»Haben wir einen vierten Spieler?«, fragte Carlotta und drehte sich zu mir. Ich hatte einen Platz an einem nahen Fenstersitz gefunden, von dem aus ich die Partie beobachten konnte, und schüttelte den Kopf. Ich wollte in meiner Position als ungeladener Gast nicht auffallen.

»Meine junge Nichte, Fräulein Fläder.« Frau von Hälsen winkte einem hübschen flachsblonden Mädchen zu, das sich der Uzanne gegenüber an den Tisch setzte; es hatte ein rundes Gesicht, das vor Hitze und vom Punsch gerötet war. Die Nichte machte den Mund nie weiter auf als einen Spalt, und wenn, dann hielt sie die Hand davor, damit man nichts sah – vielleicht fehlten ihr ein paar Zähne.

Alle zweiundfünfzig Karten wurden ausgeteilt, das ergab vier Blätter mit je dreizehn Karten. Der Spieler links des Gebenden spielte aus, die anderen bedienten. Die höchste Karte stach, wer die meisten Stiche erzielte, gewann die Runde. Die Etikette beim Boston Whist verbot zwar jede Äußerung während des Spiels, aber es war erheiternd, wie viele Menschen ein Gesicht machten, das ihnen die Zunge ersetzte – Carlotta war dafür ein hervorragendes Beispiel: Wenn sie dachte, sie hätte ein gutes Blatt, blähten sich ihre Nasenlöcher aufs Betörendste; das war zwar selten der Fall, dennoch war sie eine unverbesserliche Optimistin. Frau von Hälsens Augenbrauen waren Signalflaggen, deren Flattern noch von dem Holzkohlestift unterstrichen wurde, den sie für den Abend aufgetragen hatte. Fräulein Fläder stieß immer ein fürchterliches, beschwipstes Kichern aus, unterbrochen von einem Schluckauf, den sie zu unterdrücken versuchte, indem sie die Lippen zusammenpresste. Sie verlor eine ansehnliche Summe, es schien sie aber keinen Deut zu scheren. Doch als die Uzanne die letzte ihrer dreizehn Karten auf den Tisch legte, war ihr hübsches Gesicht reglos wie griechischer Marmor. »Schon wieder übertrumpft«, seufzte sie.

Die Uzanne verlor ständig, keine großen Summen, aber genug, um Frau von Hälsen in Sicherheit zu wiegen. Da stellte ich fest, dass die Uzanne eine echte Spielerin war, die ihren Gewinn plante.

Allem voran hatte die Uzanne einen Sinn für die Tischrunde, denn Spielen ist immer politisch. Durch ihre Fingerfertigkeit mit dem Fächer ging sie auch gewandt und anmutig mit den Karten um. Sie brachte all ihre Talente ein, denn im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als Frau von Hälsens Fächer. Und den würde sie bekommen. Die Damen machten nur eine kurze Pause, um etwas zu trinken, und Frau von Hälsen wollte nichts davon hören, dass man die Spieler wechselte oder die Partie abbrach. Sie sagte, es sei schon lange her, dass Fortuna ihr so nah und so hold gewesen sei.

Gegen zehn Uhr befand sich jeder Spieltisch in seiner eigenen Welt. Madame Sparv ging wie üblich zwischen den Tischen hin und her und brachte als stille Beobachterin neue Kartendecks oder orderte eine Flasche. Dem Tisch des Herzogs näherte sie sich nicht, die Spieler dort verscheuchten alle, die zu nahe kamen. Aber um den Tisch der Uzanne herum bewegte sie sich häufig und erspürte, dass eine List im Gang war.

Die Uzanne schob ihren Kartenstapel weg. »Sie haben mich erledigt, Frau von Hälsen. Wenn ich noch eine weitere Öre setze, werde ich als Gefangene im Spinnhaus von Långholmen enden.«

Frau von Hälsen war ganz geknickt, ihre Augenbrauen versuchten, sich zu treffen und sich gegenseitig Trost zu spenden. Sie klopfte mit dem Stiel der schönen Eva auf den Tisch. »Eine weitere Partie würde doch sicherlich …«

Die Uzanne trommelte mit den Fingern, dann hellte sich ihre Miene auf. »Es kommt vor, dass man andere Einsätze am Tisch macht als Geld. Wir könnten unsere Fächer setzen. Aber meiner ist so altmodisch – sehen Sie nur, wie lang er ist. Wer verliert, kann sich damit trösten, einen neuen zu kaufen.«

»O Madame, ein neuer Fächer wäre wunderbar!« Carlotta legte einen mittelmäßigen Fächer auf den Tisch, ein Andenken aus Italien. Miss Fläder, die einen drittklassigen englischen Fächer mit einem Blatt aus bedrucktem Papier bei sich hatte, klatschte in die Hände und knallte ihn neben den italienischen. Frau von Hälsen jedoch senkte stirnrunzelnd den Blick. »Nennen Sie den Wert Ihrer Einsätze, meine Damen, ich setze dafür Bargeld. Mein Fächer ist alt, aber ich hänge an ihm.«

Die Uzanne wartete einen Moment, nahm dann ihren Fächer und befühlte die warmen Elfenbeinstäbe. »Auch mir würde es leidtun, eine alte Freundin zu verlieren, aber der Herzog hat uns befohlen, heute Nacht nur in die Zukunft zu blicken«, sagte sie. Sie fächerte ihn mit dem kleinen Finger der linken Hand auf und legte sein bemaltes Seidenblatt aus. »Ich biete Kassiopeia«, sagte sie liebevoll. »Sie war ein Geschenk meines verstorbenen Mannes Henrik.«

Kassiopeia war groß, sie war zwei Spannen lang. Stäbe und Deckstäbe waren aus schlichtem Elfenbein, der Dorn war aus Silber und mit einem blauen Schmuckstein versehen. Der Stiel lief eng zusammen, und das Seidenblatt zeigte eine melancholische Landschaft – ganz oben war der Himmel tief purpurn, dann von einem Kobaltblau, das in einen orangeroten Sonnenuntergang überging; Wolkenfetzen bildeten lange rote Schleppen, Vögel flatterten in einem Bogen auf. Ich beugte mich vor, um dieses so merkwürdig vertraute Bild besser zu sehen. Vor einem stattlichen Herrenhaus wartete eine schwarze Kutsche darauf, einen ins Reich der Sinne zu bringen.

Carlotta drehte den Kopf und begutachtete den aufgeklappten Fächer. »Verzeihung, Madame, aber warum heißt er Kassiopeia? Sollten Sie ihn der Kutsche wegen nicht lieber ›Der Reisende‹ oder ›Der Gast‹ nennen?«

»Ich ändere nie einen Namen, auf den der Fächer bereits hört, vor allem wenn er von einer Dame von solcher Begabung und solcher Berühmtheit getauft wurde.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Frau von Hälsen.

»Henrik schwört … schwor, dass er Madame de Montespan gehört hat, der Hauptmätresse Ludwigs XIV. Das Bild auf dem Blatt erinnert an ein frühes Rendezvous auf dem Landschloss ihres Geliebten, des Königs.« Die Uzanne drehte den Fächer um, die indigogefärbte Seide war über und über mit Pailletten und kleinen Glasperlen bestickt. »Die Darstellungen auf der Rückseite erinnern an die Mysterien und Freuden der Nacht. Und ihre vielen Geheimnisse. Madame de Montespans Name ist auf ewig mit Liebe und großem Zauber verbunden, aber auch mit schwarzer Magie und der Giftmischerinnenaffäre. Soll ich Ihnen das Geheimnis meines Fächers verraten?«

Die Damen nickten begierig und steckten die Köpfe zusammen.

»Wenn Sie ganz genau hinsehen, erkennen Sie, dass Kassiopeias Mittelstab auf der Rückseite mit Seide überzogen ist. Darin steckt ein Federkiel, er kann wiederum ein Stückchen Papier mit einer Geheimbotschaft oder einen Holzsplitter enthalten, der mit einem betörenden Parfüm getränkt ist oder auch … nun ja, mit etwas Gefährlicherem.«

Die Damen lachten nervös. Die Uzanne lächelte Frau von Hälsen zu und legte Kassiopeia mit der Vorderseite nach oben auf den Tisch. »Wollen wir?«

Frau von Hälsen spürte den Druck, der Uzanne zum Gefallen sein zu müssen, aber sie spürte auch ihr falsches Vertrauen auf ihre Glückssträhne, das mit Punsch geölt worden war. Sie nahm das zweite Deck in ihre Wurstfinger und teilte aus. Sie spielten nur eine Runde. Die Uzanne machte den Stich, da wurde Fräulein Fläder plötzlich ganz still, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie entschuldigte sich abrupt.

»Was ist denn?«, fragte Carlotta. »Wir haben noch zwölf weitere Stiche zu machen, die Einsätze liegen auf dem Tisch.«

»Es würde mir gar nicht gefallen, Ihre Partie zu Ende gehen zu sehen, bevor sie richtig angefangen hat.« Madame Sparv trat aus der Dunkelheit am Rande des Raums und stellte sich an die Tischkante. »Darf ich?«

Es war nicht ungewöhnlich, dass Madame Sparv spielte – aber am Tisch mit einer Dame vom gesellschaftlichen Rang der Uzanne, die zudem eine politische Gegnerin war, das war gewagt. Zuerst dachte ich, Madame Sparv wolle einfach nur ihre Gäste glücklich machen, aber sie hatte etwas anderes im Sinn, denn sie rang die Hände, als fürchtete sie um ein Menschenleben.

»Unsere Gastgeberin!«, säuselte Frau von Hälsen mit gespielter Begeisterung. Carlotta wurde schlagartig nüchtern und hielt ihre Karten vor sich wie einen Schild. Beide warteten auf die Reaktion der Uzanne, die kurz und ausdruckslos aufsah.

Madame Sparv langte in eine Tasche an ihrer Taille und zog einen elfenbeinernen Brisé-Fächer heraus. Sie legte ihn offen in die Mitte des Tischs. Von vielen Jahren des Gebrauchs hatte das Elfenbein eine warme, gelbe Patina. Der Fächer war zwar so klein, dass er einem Kind gehört haben könnte, aber die Elfenbeinschnitzereien waren so hochwertig, dass er einer Prinzessin anstand, und die lange rote Seidenquaste war mit Goldfäden durchwirkt. »Ein Schatz aus dem Fernen Osten. Er wird die Einsätze versüßen.«

Das Gesicht der Uzanne hellte sich vor Gier auf. Kinderfächer waren äußerst rar. »Bitte setzen Sie sich.«

Die Spielerinnen nahmen ihr Blatt wieder auf und bereiteten sich auf die nächste Runde vor. Niemand sah das kaum wahrnehmbare Nicken, das Madame Sparv über die Köpfe der anderen Spieler hinweg in meine Richtung sandte. Sie forderte mich auf, das Spiel mit einem »Schubs« zu lenken. Ich beobachtete Madame Sparvs Hände. Zeige- und Mittelfinger ihrer linken Hand lagen an der Rückseite der Karten – zwei Spielerinnen in der Runde: Die Uzanne sollte verlieren. Sie hatte die ganze Nacht über ständig verloren, nun aber strahlte sie eine Hitze aus, die jeder geübte Spieler spüren konnte: Auf dieses Spiel hatte sie gewartet, und sie wollte es gewinnen. Ich erhob mich von meinem Platz und näherte mich dem Tisch.

Madame Sparv fing meinen Blick auf und neigte den Kopf zu den Fächern. Wenn möglich, wollte sie die Uzanne nicht nur dazu bringen, zu verlieren, sondern die Einsätze auch in eine bestimmte Richtung lenken. Madame Sparv hob die Karten an ihre Lippen. Dieses Zeichen hatte ich bislang nur ein Mal gesehen: Sie wollte gewinnen. Das war eine doppelte Gefahr; eine Schiebung ihrerseits war in jedem Spiel fragwürdig, aber die Uzanne war überdies scharfsinnig und nüchtern.

Madame Sparv legte ihre Karten verdeckt auf den Tisch. »Nach der Regel darf ein Spieler den letzten Stich einsehen, nicht wahr?«

Die Uzanne reichte ihr die vier Karten, Madame Sparv studierte sie kurz und konzentriert und gab sie zurück. »Und darf ich auch die Einsätze sehen?«, fragte Madame Sparv höflich. Zuerst besah sie sich den englischen Papierfächer und gab ihn Frau von Hälsen. »Ich habe den Platz Ihrer Nichte eingenommen und deren Einsatz durch meinen eigenen Fächer ersetzt, sie ist nicht mehr länger im Spiel. Das sind die Hausregeln, ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.« Frau von Hälsen nickte. Madame Sparv betrachtete den italienischen Fächer, dann nahm sie Frau von Hälsens Eva. »Wie der erste laue Juniabend in einem geheimen Garten. Der Verlust der Unschuld«, sagte sie. Frau von Hälsen nickte, und ein Anflug von Sorge huschte über ihre zusammengezogenen Augenbrauen. Dann nahm Madame Sparv Kassiopeia in die Hand und starrte auf das Bild der Reisekutsche. »Den kenne ich«, sagte sie leise zu sich selbst.

»Ach ja?«, fragte die Uzanne mit herablassender Skepsis. »Er ist alt. Und aus Frankreich.«

»So wie ich«, sagte Madame Sparv leichthin und legte den offenen Fächer wieder zu den anderen in die Mitte des Tischs.

»Machen wir weiter?«, fragte Frau von Hälsen, die unbedingt ihre Eva wiederhaben wollte.

Das Spiel ging weiter. Wie versteinert und mit halbgeschlossenen Augen saß Madame Sparv da. Nur ihre Hände bewegten sich, wenn sie ausspielte. Sie brauchte jedes bisschen Geschick, denn bei den bereits ausgeteilten Karten konnte sie keine verschwinden lassen, und sie konnte auch nicht durch gezieltes Abheben manipulieren. Die beiden nächsten Stiche gingen an die Uzanne, der vierte an Madame Sparv. Frau von Hälsen war schweißgebadet, sie spürte, dass ihre Glückssträhne nachließ. Ihre Augenbrauen verwoben sich ständig in Sorge. Zwei Stiche gingen an sie, aber ihr Gesicht war ein Spiegel der Unruhe. Die Uzanne behielt ihren ausdruckslosen Blick bei, sie war sich ihrer Überlegenheit sicher. Carlotta indes versuchte, ihr Gähnen zu kaschieren, und wedelte mit ihrem Blatt wie mit einem Miniaturfächer, sodass jeder ihre Karten sehen konnte. Irgendwie kam auch sie an einen Stich, doch die nächsten vier Stiche gingen an Madame Sparv und die Uzanne. Beide hatten nun je vier Stiche.

»Sie spielen, als würde Ihre Zukunft davon abhängen, Madame Sparv«, sagte die Uzanne leicht erstaunt, denn sie erwartete, dass ihre Gastgeberin gegen sie, als die gesellschaftlich Höherstehende, gütigerweise verlor.

Madame Sparv sah sie nicht an, sie starrte auf das offene Blatt der Kassiopeia. »Nicht nur meine Zukunft, Madame, unser aller Zukunft.«

»Ich dachte, die Wahrsagerei sei für heute Abend beendet«, versetzte die Uzanne kühl. »Lesen Sie etwa auch unsere Karten?«

»Oh, das ist ja so geheimnisvoll!«, lallte Carlotta.

»Still, Sie betrunkene Kuh!«, befahl die Uzanne.

Der Schreck über diese Bemerkung schwang durch den Raum und zog neue Zuschauer an den Tisch. Doch das Entsetzen wich gleich wieder aus Carlottas Blick, denn sie wusste, dass eine Erwiderung unangebracht war. Ich jedoch beschloss, dass die Uzanne dieses Spiel nicht gewinnen durfte, koste es, was es wolle. Da nur noch zwei Stiche zu machen waren, blieben wenig Möglichkeiten. Ich ging zu einem leeren Tisch und nahm ein Deck zur Hand, war aber nicht sicher, ob ich genug Zeit hätte, die Karte zu finden, die ich brauchte, und noch weniger, ob ich sie ins Spiel schmuggeln konnte. Vorsichtig ging ich um den Tisch herum und konzentrierte mich auf die Karten, die die Damen noch auf der Hand hatten. Carlotta hatte nichts, Frau von Hälsen könnte noch einen Stich machen, aber wenn die richtigen Karten kämen, würde die Uzanne trumpfen und den letzten Stich mit einer Bildkarte machen. Madame Sparv war in keiner guten Position. Ich müsste mir Frau von Hälsens Hilfe sichern, um die Karte zu platzieren. Ich gab Madame Sparv ein Zeichen, dass sie Pik ausspielen sollte.

Sie spielte die höchste Karte aus, die sie noch auf der Hand hatte, den Pikbuben. Carlotta legte die Herzdrei, die Uzanne zückte lächelnd die Pikdame. Frau von Hälsen lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Wenn sie wollte, könnte sie den Stich machen, aber sie konnte auch an Gunst gewinnen, wenn sie mit einer anderen Farbe bediente und der Uzanne das Spiel schenkte. Ich ging in den hinteren Teil des Raums und sang, ziemlich schlecht, ein paar umgedichtete Verse aus Carl Michael Bellmans Elegie auf eine Schlägerei in Gröna Lund – als verzweifeltes Zeichen an Frau von Hälsen, sich mit der Uzanne als Verliererin auf dieselbe Stufe zu stellen.

»Vertragt euch, Schwestern, alle!

Denn die Vernunft gebeut’s.

Tuut-tuut. Dem Schlag ins Kreuz

Entgeht in keinem Falle,

Die selbst als Erste schlug.

Tuut-tuut … Schluss … genug!«

Viele Zuschauer lachten und fielen ein, bald waren auch Herzog Karl und seine Entourage auf den Beinen. Die Uzanne schloss angewidert die Augen und sagte: »Diese Melodie ist von Händel gestohlen.«

Ich ging zu Madame Sparv und streifte ihre Schulter, als ich einem anderen Gast die Hand schüttelte. Dabei schob ich die Karte zwischen ihren Oberarm und ihren Brustkorb, ein plumper Trick, der im momentanen Trubel unterging. Wenn überhaupt jemand unbemerkt diese Karte an sich nehmen konnte, dann Madame Sparv.

Ich kehrte wieder an meinen Tisch zurück, lachte und scherzte mit den anderen, während wir weitersangen. Frau von Hälsen warf mir einen fröhlichen Blick zu. Lächelnd beugte ich den Kopf und nickte Madame Sparv zu, dann zog ich mich erneut in die Dunkelheit meines Fenstersitzes zurück. Nahm die Uzanne diesen Stich an sich, ging das Spiel unentschieden aus, aber mehr konnte ich nicht tun.

Frau von Hälsen sah die Uzanne an. Sie hatte die Hand über ihre verbleibenden Karten gelegt, die Finger der anderen klopften immer näher an den Fächern auf dem Tisch. Ihre Augen waren auf den dunklen Garten der Eva geheftet, und die elfenbeinerne Vollkommenheit des chinesischen Prinzessinnenfächers war hilflos in der Mitte des Tischs ausgebreitet. Frau von Hälsen sah Madame Sparv an, die ihrem Blick mit tiefempfundener Besorgnis begegnete. Sanft legte Frau von Hälsen den Pikkönig auf die Dame der Uzanne und zog die Karten schwungvoll an sich. Dann spielte sie zum letzten Stich die Karoacht aus, eine Lusche. Ihre Miene war aufgeräumt. Die Uzanne hob den Blick zu Frau von Hälsen, und ihre Mundwinkel hoben sich ganz leicht. Doch dann legte Madame Sparv den Karokönig auf den Tisch, Carlotta warf seufzend die Kreuzvier dazu. Die Uzanne bediente mit der Dame, ihr Gesicht reglos wie Stein. Frau von Hälsen drehte sich um und legte Madame Sparv die Hand auf den Arm. »Ich freue mich so!«, sagte sie.

Frauen sind sehr seltsame Spieler.

Die Zuschauer applaudierten, auch Carlotta klatschte, bis die Uzanne Madame Sparvs Handgelenk packte und deren Hand auf den Tisch drückte. »Ich dachte, der König sei schon vorher gefallen.«

»Das war der Bube auf mein Ass beim vierten Stich«, sagte Madame Sparv; sie zog das Karoass und den Buben aus ihrem Stapel und schob dann das ganze Deck zusammen. »Spieler verwechseln oft den Buben mit dem König.« Sie nahm Kassiopeia und schloss den Fächer, genauso wie die drei anderen. Dann stand sie auf, drückte die vier Fächer wie Zunder in ihren zitternden Händen und wandte sich an Frau von Hälsen: »Ich hatte Glück mit dem Blatt Ihrer Nichte, und Glück sollte man teilen. Bitte kommen Sie doch bald mit ihr wieder.« Sie nickte und verschwand durch den dunklen Flur in ihre Privaträume.

Ich konnte das Gesicht der Uzanne nicht sehen, aber Carlotta beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Nun kommen Sie schon, Madame! Sie selbst haben doch gesagt, dass wir in die Zukunft blicken müssen.« Carlotta zögerte, und ich konnte sehen, wie sich auf ihrem Gesicht der Sieg ihres gütigen Herzens über ihre gesellschaftliche Stellung ausbreitete. »Ich habe gehört, dass eine fröhliche Ausfahrt nach Djurgården stattfinden soll, wo wir den Morgen begrüßen. Werden Sie mitkommen?«

Ich glitt von meinem Platz und versuchte, Carlotta zu verstehen zu geben, dass das ganz einfach nicht angehen konnte – schließlich wollte ich ihr einen Antrag machen, sobald wir allein wären! Doch Carlotta hatte nur Augen für ihre geschlagene Wohltäterin.

Die Uzanne nahm ihren elfenbeinfarbenen Notizblock und den Bleistift und schrieb mit zitternder Hand SPARV. Unter den Achseln und unter ihren Brüsten zeichneten sich feuchte Flecken ab und tränkten die gestickten Blumen auf ihrem Kleid. Dann sagte sie zu ihrer zartfühlenden Begleiterin: »Ja, Carlotta, wir müssen in die Zukunft blicken. Aber ich habe bereits Pläne – und Sie auch.« Carlotta war verdutzt. »Ich habe für Sie ein Rendezvous mit Leutnant Halland arrangiert. Er steht Herzog Karl nahe und ist mit den De Geers verwandt.«

»Mit den De Geers!« Carlottas Hand fuhr an ihren Busen. Es war eine vornehme Familie, ihr Reichtum war Legende. »Wo ist er?«, fragte sie und sah sich mit dem strahlendsten Lächeln um.

Die beiden Damen gingen zu Karls Gefolge, und die Uzanne machte Carlotta mit einem betrunkenen Offizier mit widerspenstigem Gesichtshaar bekannt. Ein Eingreifen meinerseits hätte bestenfalls zu Ärger geführt, schlimmstenfalls zum Duell, und so stand ich steif da und sah zu, wie der Rüpel Carlottas nackte Hand küsste und sie seine Uniform bewunderte. Nicht mal einen Blick schenkte sie mir, während ihre Unterhaltung immer angeregter wurde! Als Carlotta seinen Arm nahm, sich an ihn drückte und ihre zarten Lippen zu seinem Mund hob, redete ich mir ein, dass sie nur das Spiel mitspielte und sowohl der Uzanne als auch ihrer Mutter einen Gefallen tun wollte, aber ihr offensichtliches Vergnügen war schmerzhaft mit anzusehen.

Die Uzanne schien mehr als nur ein kurzes Gespräch mit Herzog Karl zu wünschen, sie beugte sich aufs Verführerischste zu ihm vor, doch Pechlin stand plötzlich auf und rief laut nach der Kutsche des Herzogs. Auch die übrigen Gäste verabschiedeten sich allmählich, die Hausdiener verbeugten sich und sammelten hinter ihnen die leeren Gläser ein. Ich verschwand mit der Menge und zog mich in den dunklen Hof zurück. Endlich wurde der Himmel abenddunkel, die blaue Stunde lag vor uns, wenn die Sonne stundenlang am Horizont schwebt und nur die hellsten Sterne sich zeigen. Man ist in einer seltenen azurblauen Welt zwischen Tag und Nacht gefangen, so wie ich mich zwischen Carlottas anfänglichen Ermutigungen und ihrem Entschwinden gefangen fühlte. Ich wartete, bis alle weg waren, dann ging ich die Dienstbotentreppe hinauf und setzte mich ins obere Zimmer, damit mir Madame Sparv die Karten legen konnte.

Das Stockholm Oktavo

Подняться наверх