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KAPITEL 9
ОглавлениеTeufelszeug
Quellen: E. L., Madame S., A. Vingström
Am folgenden Tag spazierte ich nach dem Kaffee in der Schwarzen Katze zu Vingströms Weinhandlung, in der Hoffnung, Carlotta anzutreffen und mich zu vergewissern, dass sie meinen Brief bekommen hatte. Herrn Vingströms Willkommensgruß baute mich mächtig auf, doch als ich mich nach dem Befinden der Tochter erkundigte, holte seine Frau aus und erschlug mich mit einem einzigen Satz: »Carlotta ist verlobt, Herr Larsson.«
Ich schluckte den spanischen Crianza, den ich im Mund hatte, mit nervöser Hast hinunter. »Mit wem?«
»Na, na, Magda, das können wir so noch nicht sagen«, widersprach Herr Vingström. Sie aber hob die Hand und gebot ihrem Gatten zu schweigen, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und knallte die Tür zum Lager hinter sich zu.
»Ist das wahr, Herr Vingström?«, fragte ich und drückte bange mein Glas in der Hand.
Er öffnete die Tür einen Spalt, um nachzusehen, ob seine Frau auch wirklich weg war. »Carlottas Gönnerin hat ihr einen möglichen Kandidaten vorgestellt, einen Leutnant mit Verbindungen zu Adelskreisen. Meine Gattin hofft, dass die Verlobung bald bekanntgegeben wird.« Er goss einen Schluck Wein in ein Glas und schwenkte es. »Ich für meinen Teil halte ihn für einen großspurigen Grünschnabel, der nicht die Kraft hat, den Stürmen der Ehe standzuhalten. Vor allem mit meiner Carlotta.« Er schwenkte den Wein im Mund, dann spuckte er ihn in einen Napf. »Wollen Sie kosten?«, fragte er mich lächelnd.
Ich trank ein Glas mit Herrn Vingström, lobte Carlotta und stellte mir die ganze Zeit vor, wie es wohl sein mochte, ihn Vater zu nennen. Es war kein unangenehmer Gedanke, wiewohl merkwürdig, denn er war ein Käufer meiner beschlagnahmten Waren, und ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie zu jemandem Vater gesagt. Als ich aufbrach, gaben wir uns die Hand. »Bitte übermitteln Sie Ihrer reizenden Tochter meine besten Wünsche. Mehr als alles andere verdient sie Glück!«
Lustlos ging ich zum Abendessen in den Pfauen, danach spielte ich in der Gråmunkegränd Karten, bis Katarina mir auf die Schulter klopfte – Madame Sparv war so weit und wartete oben am Tisch.
»Machen Sie es sich bequem, Herr Larsson. Der Betrüger lässt sich für gewöhnlich Zeit.«
Madame Sparv betrachtete die Karte, die nach zwölf ermüdenden Runden auftauchte. »Wieder Stempelkissen. Hier haben wir eine weitere arbeitsame Person, sie ist aber nicht unbedingt diejenige, die sie zu sein scheint. Der Betrüger kann den Hofnarren spielen, der aber ist oft der beste Berater des Königs. Anderseits … nun, gilt nicht der Satan als Vater aller Lügen?« Sie reichte mir die Karte.
»Sieht aus wie Frau Murbeck.« Ich sah ihren fragenden Blick. »Meine Vermieterin. Sie schimpft ständig mit ihrem Sohn.«
»Lassen Sie sich nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten, Herr Larsson. Ihr Betrüger kann nach außen hin anders erscheinen, als er ist – wie im Märchen von der alten Hexe, die sich in eine hübsche Maid verwandelt, wenn man ihr Achtung und wahre Zuneigung zollt. Oder im Märchen vom Zauberer, der sich als Einfaltspinsel verkleidet, nur zu dem Zweck, einen zu verführen. Mit der Betrüger-Karte müssen Sie vorsichtig sein, besonders wenn es eine Sieben ist – denn das ist die Zahl des okkulten Mysteriums: Abrakadabra.«
Ich betrachtete die Karte genauer. »Der Mann sieht zu einfältig aus, um ein Magier zu sein. Aber die Frau ist geschäftstüchtig. Sehen Sie, wie sie ihn verflucht.«
»Sind Sie sicher, dass es ein Fluch ist und nicht ein Segen?«
»Oh!« Ich spürte, wie mir das Blut zu Kopfe stieg. »Das sind die Vingströms! Ich habe sie heute getroffen, Carlottas Vater war herzlich, aber die Mutter stürmte aus dem Laden, nachdem sie vor ihrem Mann die Hand gehoben hatte. Und der umgekippte Korb heißt wohl, dass Carlotta für mich verloren ist. Sie hat mir nicht mehr geschrieben, und ihre Mutter hat gesagt, sie würde sich bald verloben.«
»Sie ziehen in jeder Hinsicht zu schnelle Schlüsse. Die acht Karten sind noch nicht vollständig, und Familien sind kompliziert. Ich fürchte, ich sage das eher aus meiner Beobachtung heraus denn aus jüngerer eigener Erfahrung.« Sie stand auf und goss sich ein Glas Wasser ein. »Was ist mit Ihrer Familie? Es würde mir helfen, Ihr Oktavo besser zu deuten, wenn ich mehr über Sie wüsste.«
Ich stand auf und ging ans offene Fenster, der weiche Vorhang strich mir über die Wange. »Meine Familie ist Stockholm.«
»Aber Sie hatten Eltern, vielleicht Geschwister, Cousins und Cousinen …«
»Man hat mir gesagt, mein Vater sei Musiker gewesen. Er starb, bevor ich ihn kennenlernen konnte. Ich wurde nach seinem besten Freund benannt, einem französischen Violinisten. Aber Emil ist ein zu vornehmer Name für mich. Alle nennen mich nur Larsson oder jetzt Sekretär.«
»Mir gefällt der Name Emil. Vielleicht sind Sie noch nicht in ihn hineingewachsen«, sagte sie. »Wie ich in Sofia.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Nach dem Tod meiner Mutter schickte man mich zu entfernten Verwandten, weil niemand sonst mich aufnehmen wollte. Eine ausgedehnte neunköpfige Familie, die in Småland den Boden beharkte und das Ganze Landwirtschaft nannte. Zehn Jahre lang grub ich Steine aus der Erde, starrte in dunkle Kiefernwälder und aß Rindenbrot und Pökelfleisch von jedem toten Tier, das mein Onkel anschleppte. In einem rauen Wintermonat aßen wir nur Dachs und Wassersuppe.« Madame Sparv verzog das Gesicht. »Doch dort lernte ich von einem Nachbarn den segensreichen Zeitvertreib des Kartenspiels, er war der einzige nette, aufrichtige Mensch, den ich je getroffen habe. Er schenkte mir zum Dreikönigsfest ein Deck – eine Großzügigkeit, die dem Mitleid geschuldet war. Wer weiß? Als mein frommer Onkel die Karten fand, verbrannte er sie und schlug mich blutig. Beim Sonntagsgebet verkündete er, dass ich mich mit Teufelszeug eingelassen hätte und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden müsse. Er verbannte mich in die Scheune.«
»Ich kenne den Kummer eines Außenseiters gut«, sagte Madame Sparv.
»Ich lief weg, zurück in die Stadt, und schlug mich so durch. Als Lampenanzünder, Vogelfänger und schließlich als Gehilfe in den Docks. Wissen Sie, was ich mir für meinen ersten zusätzlichen Skilling gekauft habe?«
»Eine richtige Mahlzeit, hoffe ich.«
»Ich kaufte zweiundfünfzig Karten Teufelszeug, Madame Sparv, und die haben mich weit gebracht. Ich habe in der Werft angefangen, wo die Dockarbeiter in ihren Freistunden Rommee mit niedrigen Einsätzen spielten. Damit kam ich aus, bis ich Rasmus Bleking traf, einen Sekretär beim Zollamt. Er brauchte einen Jungen, der die Stadt kannte wie seine Westentasche und der den Mund halten konnte. Der Junge musste alles tun, was Bleking verlangte – was sich am Ende als dessen eigene Arbeit herausstellte. Er bot mir ein mageres Taschengeld, eine Mahlzeit am Tag und die Bodenkammer in seiner Hütte auf Södermalm am Fatburs-See, einem stinkenden Tümpel voller Scheiße, Unrat und Kadavern.« Madame Sparv sog die Luft ein. »Aber ich hatte meine Karten, und meine Reise hatte gerade erst begonnen. Im Spiel war Bleking ein Dummkopf, und ich bot an, ihm beizubringen, was ich wusste. Ich ließ ihn nicht einmal gewinnen, damit er die Lust nicht verlor, ich knöpfte ihm schlicht und ergreifend sein Geld ab. Wir spielten Tag und Nacht, bis er es mit mir aufnehmen konnte. Im Gegenzug brachte er mir lesen und schreiben bei – was für ihn ein gutes Geschäft war, denn so konnte ich auf dem Amt seinen Papierkram erledigen. Doch für mich war es ein noch besseres Geschäft: Als er starb, behielt ich die Stelle und sein Zimmer und klammerte mich daran, bis die Karten mich in die Gråmunkegränd und zu Ihnen führten. Letztes Jahr kaufte ich Blekings Sekretärtitel und zog wieder zurück zu meiner Familie: in die Stadt.«
»Und nun?«, fragte sie.
»Nun habe ich mein Ziel erreicht, Madame Sparv. Ich werde im Amt und in der Stadt bleiben, bis ich meinen Posten verkaufe oder sterbe. Vorausgesetzt, mein Oktavo bildet sich schnell genug heraus, dass ich meinem Vorgesetzen zu Willen sein kann. Er ist bereit, noch bis zu seinem Namenstag im August zu warten, aber nur weil er die De Geers hasst.«