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KAPITEL 7
ОглавлениеInspiration im Krug zum Sauschwanz
Quellen: E. L., Kapitän H., J. Blom
Trotz einer kurzen, schlaflosen Nacht stand ich am nächsten Morgen früh auf und verfasste einen feurigen Brief an Carlotta. Eine Seite voller Komplimente, gefolgt von einer Seite, auf der ich meine Bestürzung über ihre Abfahrt ausdrückte sowie meine diesbezügliche Vergebung und die Versicherung, dass von derselben Hellseherin, die Herzog Karl beraten hatte, mir das Vorwissen um unsere Liebe und Verbundenheit zugespielt worden war. Dass das Oktavo noch nicht vollständig war, spielte keine Rolle, ich hatte volles Vertrauen in seinen glücklichen Ausgang. Als ich mit dem Brief die Treppe herunterkam, fing meine Vermieterin Frau Murbeck – die ich im Allgemeinen um jeden Preis zu meiden suchte – wieder mit ihrer Leier über mein spätes Nachhausekommen und meine gelegentliche Katerstimmung an, bis ich ihr von meiner bevorstehenden Verlobung erzählte. Diese Neuigkeit verwandelte sie in eine zartfühlende Freundin. Sofort rief sie nach ihrem Sohn, den sie ständig wegen irgendeines Vergehens schalt, und bot mir dessen Dienste als Liebespostillion an. Doch bis zum Abend kam keine Antwort von Carlotta, was mich plagte wie eine Stechmücke – bis mir klar wurde, dass dies das Spiel des Freiens war und sie die Macht hatte, mich leiden zu lassen.
Mein Einsatz führte mich an jenem jämmerlichen Abend durch spritzende Pfützen und Spurrillen zu einem der vielen Docks auf Skeppsholmen, einer Insel gleich östlich der Stadt. In einem dicken Cape und hohen Stiefeln blickte ich auf einen durchhängenden Lastkahn, der so aussah, als wäre er öfter durchgeschüttelt worden als eine alte Hure. Solche Schiffe wurden oft vom Zoll kontrolliert – Wracks, auf denen Verzweifelte in der Hoffnung auf letzte Rettung segelten oder Kriminelle, die sie verlassen konnten, ohne dass der Verlust sie besonders hart traf. Der Kahn war bis oben hin mit Konterbande beladen und kam aus Riga. Eine erfolgreiche Passage belohnte das große Risiko. Nachdem Frankreich durch die Revolution seinen Status als Zentrum der zivilisierten Welt verloren hatte, waren Luxusgüter knapp, die Einfuhrsteuern hoch. Dieses Schiff hatte Spitze geladen. Sie war teuer in der Herstellung und eine beliebte Zierde für Männer, Frauen und Kinder sowie für das eine oder andere Schoßhündchen und würde ein kleines Vermögen einbringen. Schlechtes Wetter und Arbeit zu später Stunde schreckten mich nicht, schließlich bekam ich einen Teil der beschlagnahmten Güter.
Zwei Polizisten waren schon vor Ort, sie hatten mit dem Licht ihrer Laternen einen Seemann eingekreist. Der Festgenommene war ein drahtiger Mann mit einem runzligen Gesicht, er hatte eine kleine Ziehharmonika bei sich. Als er meinen roten Rock sah, nickte er respektvoll. »Eine schreckliche Nacht, Sekretär, ich wurde zufällig bei Fjäderholmarna abgetrieben«, sagte der Kapitän und schüttelte mir die Hand. »Wollen wir nicht ins nächste Wirtshaus gehen? Dort kann ich Ihnen im Trockenen und bei einem wärmenden Getränk meine Geschichte erzählen. Ich lade Sie natürlich ein.«
Ich sagte den Polizisten, dass der Fall eindeutig in die Zuständigkeit des Zollamts fiele und ich mich persönlich um den Halunken kümmern würde. Der Kapitän und ich gingen in den Krug zum Sauschwanz, wo eine Laterne einladend im Regen flackerte. Bei dem scheußlichen Wetter waren alle außer den eingefleischtesten Trinkern zu Hause geblieben.
»Für den Fall, dass es später Fragen geben sollte, möchte ich Ihren Namen lieber nicht wissen«, sagte er.
»Die wenigsten kennen ihn«, erwiderte ich, »ich aber kenne Ihren. Auf dem Amt wird oft über sie gesprochen, Kapitän Hinken.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als hätte er dieses Kompliment schon zu oft gehört. »Es ist nützlich, mich zu kennen, denn ich kann alles – und jeden – von A nach B transportieren, ohne dass der Rest des Alphabets es mitbekommt.« Er rief den Wirt, bestellte Glühwein und setzte sich. »Sie sehen aus wie der typische Zollbeamte, Sekretär«, hob Hinken an. »Gardemaß und -statur, ein ebenmäßiges Gesicht. Sie könnten jedermann sein und gefallen sich zweifellos darin, als jemand anders zu gelten. Auf den ersten Blick sind Sie eine angenehme und vertrauenswürdige Erscheinung, wenn man jedoch näher hinsieht …«
»Sie schmeicheln mir, Kapitän.«
»Ganz und gar nicht, Sekretär. Jede junge Dame würde mir zustimmen.« Er verlangte erneut nach den Getränken, und der Wirt eilte mit unseren Bechern herbei. Hinken wartete, bis der Mann außer Hörweite war, und fuhr fort: »Ich bin Seemann, Sekretär, daher ist allein schon die Haft für mich die Hölle auf Erden. Vielleicht können wir zu einer Übereinkunft kommen.«
Ich nickte, allerdings nicht zu enthusiastisch. Hinken bot mir eine Kiste russischen Wodka und ein Dutzend Rollen Spitze als Abschlagszahlung an, wenn ich einen Bericht über seine strenge Gesetzestreue verfasste und ihn nach Sankt Petersburg segeln ließ. Wir einigten uns auf drei Kisten Alkohol und eine halbe Kiste Spitze, dazu bekam ich sein Versprechen, mir irgendwann einmal eine heimliche Überfahrt zu ermöglichen, sollte ich sie je brauchen. Hinken schickte den Küchenjungen mit einer Nachricht für seinen ersten Maat aufs Schiff, und bevor wir noch die erste Runde ausgetrunken hatten, kam die Ware. Ich steckte eine Rolle Spitze in meinen Quersack und ordnete an, dass der Rest später geliefert werden solle. Für den Kapitän war es ein günstiges Geschäft – die Spitze erwies sich als so faserig, dass nur ein Fischweib ihr Mieder damit schmücken würde, und der Wodka war mittelmäßig –, für mich war es dennoch einträglich. In der Stadt konnte man Alkohol jeder Art verkaufen, und Flitterkram wie Spitze konnte man immer gebrauchen, um jemanden zu etwas zu überreden. Ich würde am Ende schon auf meine Kosten kommen.
Doch Hinken hatte noch etwas anzubieten: neueste Nachrichten von den Revolutionen auf dem Kontinent. England leckte sich noch die Wunden, die die abgelösten Kolonien geschlagen hatten. Hollands republikanischer Aufstand war von preußischen Stiefeln niedergetrampelt worden. Frankreich hatte gerade begonnen, den Inhalt seines kranken Magens von sich zu geben.
König Gustav hatte eine Sperre über Meldungen aus Frankreich verhängt, aus Angst, sie könnten im Land zu ähnlichen Ausschreitungen anstiften. Die Stammgäste des Wirtshauses waren also ganz hingerissen.
»Die Franzosen singen das Kampflied ›Ah! Ça ira!‹, inspiriert von einem amerikanischen Revolutionär namens Franklin. Aber ich bezweifle, dass alles gut werden wird. Die Leute emigrieren zuhauf – Ratten, die wissen, dass das Schiff bald sinken wird. Die Zeichen stehen auf Sturm, Sekretär«, sagte Hinken, »und alles aus Frankreich weht nach Norden.«
»Wir hatten bereits unsere Revolution – ganz ohne Sturm, dank unserem König.«
Hinken schürzte die Lippen und schüttelte wissend den Kopf. »Nein, der Sturm kommt erst noch.«
Diese Neuigkeit verdüsterte die Stimmung in der Schänke, und so bat ich Hinken, seine Ziehharmonika zu nehmen und etwas Fröhliches zu spielen. Ich winkte dem Schankmädchen für eine weitere Runde und hoffte, ein hübsches Gesicht würde meine Moral heben. Das Mädchen kam ziemlich zügig, aber ich könnte nicht sagen, dass irgendetwas dadurch gehoben wurde. Es war schmächtig, hatte ein ausgemergeltes Gesicht und hellblaue Augen unter spärlichen Brauen, eine Stupsnase, dünne Lippen und stumpfes braunes Haar, das zu einem Knoten gebunden war. Die Kleidung war schlecht geschnitten und von schwermütigem Grau, das verriet, dass das Mädchen erst kürzlich aus irgendeinem abgelegenen Landstrich in die Stadt gekommen war. Doch seine Haut fiel mir auf, sie war weich und weiß wie Milch, die Schatten um die Augen leuchteten lavendelblau. Das Mädchen hatte keine einzige Sommersprosse und auch kein Muttermal, nicht einmal an den Händen – erstaunlich für jemanden, der für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste. »Armes Ding«, sagte ich zu Hinken, »sie wird es hier nicht lange machen.«
»Das will ich hoffen, Herr«, sagte sie kurz angebunden, als sie das Tablett abstellte. »Sind Sie mit meinen Diensten unzufrieden?«
»Keineswegs, Fräulein«, sagte ich und nahm mein Getränk.
»Sie sind uns kaum aufgefallen.« Hinken langte nach seinem Becher.
»Und ich freue mich zu hören, dass Sie höher hinauswollen«, sagte ich, »aber Ihre Kleidung ist eher für …«
»Den Friedhof?«, unterbrach sie mich und drückte das leere Tablett an ihre Brust. »Sie haben recht, denn ich bin erst kürzlich wiederauferstanden und brauche bessere Kleider. Wie würden Sie denn Ihre Bedienungen ankleiden, Herr Sekretär? Vielleicht mit Ärmeln, die in duftiger schneeweißer Spitze auslaufen? Und wenn nicht Weiß, dann würde sich auch Eierschale hübsch machen.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Kisten mit Bestechungsware von Hinken. »Vielleicht könnten Sie mir helfen, Ihren hohen Ansprüchen zu genügen, Sekretär. Es braucht nicht viel, um mir den Mund zu stopfen.«
Es lag nicht in meinem Interesse, dass mein Geschäft mit Hinken hinausposaunt wurde, und ich musste zugeben, dass das Mädchen einen klugen Zug gemacht hatte. Ich gab ihm eine Rolle Spitze aus der Kiste und setzte mich schnaubend hin. »Können Sie uns Brot und Dörrwurst bringen, Fräulein …?«
»Grå«, sagte sie und ging zum Hinterzimmer.
Hinken und ich brachen in Gelächter aus, doch der Kapitän verstummte abrupt, als Fräulein Grå sich umdrehte und uns ansah, ihr Gesicht verhärmt.
»Dazu gibt es eine Geschichte«, sagte sie.
Ich brauchte fast ein Jahr, um sie vollständig zu erfahren.
Ihr Nachname war in der Tat Grå. Als sie aus Gävle, einer Kleinstadt zwei Tagesreisen im Norden, nach Stockholm kam, passte dieser Name auch perfekt auf sie. Denn Johanna Grå und ihre ganze Familie trugen nur Grau. Johannas Mutter, eine außergewöhnlich gottesfürchtige Frau, betrachtete es als eine Beleidigung für den Allmächtigen, wenn man sich mit bunten Kleidern schmückte. Der Mensch war farblos geboren und sollte sein Leben mit Beten verbringen, bis er über die Brücke des Todes ins schillernde Paradies käme. Die Kleiderfarbe, die Frau Grå für das Erdenleben vorzog, war die Farbe der Buße und eine Erinnerung an das irdische Jammertal: ein Novemberhimmel voller Kälte und beißendem Regen. Da Farblosigkeit für Frau Grå ein Zeichen von Reinheit war, rieb sie Johannas Haut mit Creme ein, damit sie keinen Sonnenbrand und keine Sommersprossen bekäme. Und so blieb Johannas Haut so durchscheinend hell, wie andere Frauen es nur mit Arsenpulver erzielten. Abgesehen von ihrer ätherischen Blässe setzte sich Johanna durch ihre Arbeit noch mehr von den anderen Mädchen im Dorf ab. Ihre beiden älteren Brüder waren an der Cholera gestorben, und Herr Grå brauchte Hilfe in der Apotheke. Mit vierzehn Jahren konnte Johanna lesen und schreiben, sie beherrschte ein bisschen Latein und Französisch und verstand sich auf Botanik und Arzneien, doch ihre Hauptaufgabe war die Suche, der Anbau und die Herstellung von Ingredienzien, aus denen viele einfachere Medikamente bestanden: Löwenzahn, Wacholder, Kamille, Hagebutte, Stechapfel, Holunderblüte, Bärentraube, Arnika. In den gemäßigten Jahreszeiten holte sie ein, zwei Mal im Monat Blutegel, dann stand sie barfuß im Weiher, bis ihre Beine schwarz davon waren. Die gesammelten Pflanzen und Tierchen brachten der Familie Geld, um Kräuter und Arzneien zu kaufen, die sie nicht selbst anbauen, sammeln oder herstellen konnten.
In diesen Pflanzen und Blumen entdeckte Johanna einen ganzen Regenbogen. Sie fing an, die Pigmente zu trocknen oder zu mazerieren, um die Farben zu bewahren. Sie studierte die Färbungen der Wurzeln, Samen, Blüten und Rinden, die sie trocknete und zu Pulver zermahlte. Wenn sie die Pigmente in Leinöl oder Alkohol gab, erzielte sie die buntesten Ergebnisse. Ihrem Vater sagte sie, sie würde auf diese Weise Botanik und Pharmazeutik studieren, ihrer Mutter sagte sie, es sei ein persönliches Gebet. Manche ihrer Mixturen hatten heilende Eigenschaften, und sie schlug ihren Eltern vor, durch deren Verkauf das Familieneinkommen aufzubessern. Die schmackhaften Tinkturen waren wohltuend und wurden schnell beliebt, vor allem eine, die Herr Grå das »Anti-Katzenjammer-Tonikum« nannte. Es bestand aus Ingwer, Kardamom und Schnaps. In der klaren Flüssigkeit schwammen winzige weiße Teilblüten der Schafgarbe, und es kurierte so manch einen Kater im umliegenden Land, während es ein beachtliches Sümmchen in die Kasse spülte.
Die Grås erlebten ein Jahr der Blüte und der relativen Ruhe, bis Johanna mit sechzehn zur Frau wurde. Frau Grå betrachtete dies als den Eintritt ihrer Tochter in den gefährlichen Schärengarten der Weiblichkeit und hielt ihr täglich Standpauken gegen die Todsünde der Lust. Sie stachelte ihren Mann dazu an, grauenerregende Geschichten über verstümmelte Dirnen aus dem Alten Testament vorzulesen, sie nahm Johanna das farngrüne Haarband weg, das diese in ihrem Leibchen versteckte, und verbrannte es als den Keim der Liederlichkeit. Doch diesbezüglich war ihre Angst unbegründet – weder hatte Johanna fleischliche Gelüste, noch wurde ihr vom anderen Geschlecht jemals die geringste Aufmerksamkeit zuteil. Es war, als hätte sich die neutrale Chemie, die ihre Erscheinung bestimmte, mit dem Odem des Keuschheitsengels vermischt. Johanna wäre es nicht im Traum eingefallen, ihre eigene Hand über die weiche Haut ihrer Brüste und ihres Unterleibs wandern zu lassen, um zu erkunden, was sie zwischen den Beinen hatte. Ihre körperliche Reife weckte in ihr einzig und allein des Öfteren das Bedürfnis nach einem Bad. Als Frau Grå die natürliche Tugendhaftigkeit ihrer Tochter erkannte, betrachtete sie diese als einen Segen des Herrn und fing an, ein passendes Gegenstück für sie zu suchen. Herr Grå sah sich nach einem neuen Lehrling um. Aber die Dinge liefen nicht nach dem Plan Gottes oder dem Plan der Grås. Und auch nicht nach dem der jungen Johanna.
Hinken nahm Johannas Hand und steckte ihr eine Münze zu. »Wir haben es nicht böse gemeint, Fräulein Grå.«
»Sie haben ein gutes Herz, Kapitän«, sagte ich und wünschte spontan, ich wäre der Großzügige gewesen.
»Es wird durch Übung weicher, Sekretär«, sagte Johanna.
Ich fischte eine Münze aus meiner Tasche und reichte sie ihr. »Ich nehme an, ich kann klein anfangen.«
»Ein kleiner Schlüssel kann ein großes Tor öffnen«, sagte sie und ging weg.
Hinken und ich stießen mit unseren Bechern an, dann zog ein lauter Tisch mit Spielern unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren in eine Partie Poch vertieft, ein altes elsässisches Kartenspiel, das an einem Pochbrett gespielt wurde, bestehend aus acht Feldern für die Einsätze und einem Mittelfeld für den Talon. Ich verfolgte eine Weile das Melden und Pochen, dann studierte ich das Brett mit den acht Feldern, die mich an meine Verabredung mit Madame Sparv erinnerten. Die Felder waren mit Begriffen wie Mariage, König und Bube benannt. Es war schon nach elf Uhr, und bei dem Gedanken, in der regendunklen Nacht in die Gråmunkegränd zu eilen, verfinsterte sich mein Gesicht, aber wenn ich mich nicht zeigte, wäre ich selbst der Leidtragende.
Hinken stieß mich in die Rippen. »So ein düsteres Gesicht, Sekretär – das kann man mit einem Liedchen vertreiben. Hier kommt endlich die Musik, um die Sie gebeten haben.« Er nahm seine Ziehharmonika von der Nebenbank und stimmte sich mit einer einfachen Tonleiter ein: c, d, e, f, g, a, h, c’.
»Das ist eine Oktave, nicht wahr?«, fragte ich. »Der erste und der letzte Ton sind gleich.« Hinken nickte.
»Warum muss man den Grundton wiederholen? Warum können es nicht sieben Töne sein, warum müssen es acht sein?«
Hinken runzelte bei dieser verwirrenden Frage die Stirn. Er spielte ein paarmal die Tonleiter hinauf und hinunter und ließ jeweils den letzten Ton aus. Dann setzte er seine Ziehharmonika ab und zuckte mit den Schultern. »Es klingt einfach nicht stimmig, man braucht alle acht Töne.«
»Dann … dann ist das also eine Wahrheit«, fragte ich ruhig, »im weiteren Sinn?«
Wieder zuckte Hinken mit den Achseln und fing an zu spielen, doch nach zwei melancholischen, mit falschen Tönen durchzogenen Balladen hatte der Wirt genug und sagte, er solle aufhören. Die letzte Bestellung wurde ausgerufen, das Knarren der Stühle und Bänke, die auf die Holztische gestellt wurden, mischte sich in das Scheppern aus dem Spülstein im Hintergrund. Johanna streute Sägemehl und Sand auf die Bodendielen und machte sich ans Auskehren.
»Was wissen Sie sonst noch über Oktaven und Achterkonstellationen?«, fragte ich Hinken. Johanna kam näher, sie fegte so langsam, dass man ihren Besen kaum hörte.
»Die Acht hat mir immer Glück gebracht, Herr Sekretär. Es gibt zwar nur sieben Meere, aber mein Schiff heißt Der Achte – ich nenne es Henry. Ein Schiff hat zwar selten einen Männernamen, meines aber schon.«
Johanna stützte sich auf ihren Besen. »Mein Vater ist Apotheker, er hat Kräuter von einem Chinesen gekauft, der eine Tätowierung in Form einer Acht hatte, sie begann am Mittelfinger und zog sich über den ganzen Unterarm bis zum Ellbogen. Der Chinese huldigte den ›Acht Unsterblichen‹, die Reichtum und ein langes Leben schenken. Er erzählte meinem Vater, die Acht sei die beste Zahl und stehe für Glück.«
Hinken nickte. »Und die aus dem Fernen Osten sind die glücklichsten Bastarde! Alle, die ich getroffen habe, hatten noch sämtliche Zähne im Mund«, sagte er. »Aber warum fragen Sie, Sekretär?«
»Eine Wahrsagerin hat begonnen, mir mit acht Karten ein sogenanntes Oktavo zu legen«, antwortete ich. »Ich sollte jetzt bereits bei ihr sein, damit wir die nächste Karte legen können.« Ich blickte zum Nebentisch und dem verlassenen Pochbrett mit den acht Mulden um die leere Mitte herum. »Ich musste ihr gegenüber einen Schwur leisten, dass ich das Oktavo beende. Es führe zu meiner Wiedergeburt, sagte sie.«
»Und welche Art von Wiedergeburt soll Ihnen das Oktavo bescheren, Herr Sekretär? Reichtum und ein langes Leben wie die Unsterblichen des Chinesen?«, fragte Johanna.
»Sie sagte, es würde mir Liebe und Verbundenheit bringen, aber das bekomme ich sowieso, Karten hin oder her. Ich bin fast verlobt.«
»Meinen Glückwunsch!« Hinken schlug mir auf den Rücken. »Und mein Beileid.«
Ich reckte die Arme und spürte, wie die Gelenke an meinen Schulterblättern knackten. »Vielleicht kann ich stattdessen morgen Nacht gehen.«
Hinken stand so jäh auf, dass er sich an mir festhalten musste, um nicht zu fallen. »Es ist riskant, einen Schwur zu brechen, vor allem wenn die Hellseherin eine wahre Gabe hat. Sie könnte Sie dafür verfluchen.«
Madame Sparv würde zwar ungern ihren Partner im Falschspiel verlieren, aber sie hatte tatsächlich gesagt, dass Suchende, die das Oktavo nicht ernst nahmen, auf ihrem Weg strauchelten. Und ich sollte mir das reiche Schiff namens Carlotta mit allen Mitteln sichern. »Sie haben recht, Hinken, es wäre weise, die Sache durchzuziehen. Als eine Art Zusatzversicherung für meinen Erfolg.«
»Stecken Sie Ihren Kurs ab, dann kommen Sie ans Ziel Ihrer Wahl«, riet mir Hinken, als er seinen Mantel überzog. »Ich würde Sie ja gern zu dieser Wahrsagerin begleiten, aber Sie werden verstehen, dass es für uns beide das Beste ist, wenn sich unsere Wege hier trennen.«
»Und wie kann ich Sie finden, um die Gefälligkeiten abzuholen, die Sie mir schulden?«, fragte ich und hob meinen roten Rock vom Boden auf.
Kapitän Hinken öffnete die Tür, der Regen schlug mir kalt ins Gesicht.
»Tantchen von Platen, meiner Cousine, gehört das orangefarbene Haus in der Baggensgatan. Dort in der Mansarde biwakiere ich zwischen meinen Fahrten und in den Monaten, wenn die Ostsee zugefroren ist. Sie weiß, wo ich zu finden bin.«
Ich pfiff und nickte. Johanna griff aufgeregt nach ihrem Besen, selbst sie wusste von dem berüchtigten orangefarbenen Haus in der Straße der Huren. »Ich hoffe, dieses Vergnügen zu haben«, sagte ich.