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KAPITEL 10
ОглавлениеDer Schlangenkoch
Quellen: E. L., Madame S.
Die Arbeit auf dem Amt hätte an diesem Tag nicht schlimmer sein können. Das endlose Ordnen offizieller Unterlagen und das Brummen meines Vorgesetzten bescherten mir rasende Kopfschmerzen. Selbst die Schwarze Katze enttäuschte mich, nachdem sie den Kaffee dort mit gerösteter Zichorie aufbrühten, um ein paar Öre zu sparen. Und das Schlimmste überhaupt: Ich hörte nichts von Carlotta. Der Leutnant hatte wohl den Sieg davongetragen – doch dann erinnerte ich mich an den Vorteil meiner acht Karten. An diesem Abend legte sich leichter Nebel auf die Straßen, aber der Vollmond schien am Himmel und verwandelte ihn in eine schimmernde Wolke, die die Stadt einhüllte. Magie lag in der Luft, und meine Hoffnung flammte wieder auf.
»Der Leutnant hat seinen Rivalen unterschätzt«, sagte ich, als ich mich an meinen gewohnten Platz im oberen Zimmer setzte. »Ich werde Carlotta für mich gewinnen, Madame Sparv.«
»Ist das Ihr Verständnis von Liebe und Verbundenheit?« Sie sah mich missbilligend an, während sie die Karten mischte. »Es ist ein hohes und geheimnisvolles Privileg – bedeutend genug, um dafür ein Oktavo zu legen. Sie aber reden daher, als wäre das Mädchen der Topf auf einem Spieltisch unten im Saal.«
»Ich gewinne eben gern – so wie Sie auch!«, sagte ich und zog meinen Umhang aus. »Ist das nicht Sinn des Spiels? Carlotta ist der Hauptgewinn: ein hübsches Vögelchen, ein gemachtes Nest, ein behütetes Heim und eine Zukunft im Amt.«
»Das klingt für mich nach einem Käfig.« Madame Sparv schob die sechs bekannten Karten zur Seite und legte aus. Der Geschwätzige musste es eilig gehabt haben, zu Wort zu kommen, denn er kam schon in der zweiten Runde.
»Die sechste Position. Der Geschwätzige. Wieder Stempelkissen! Sie haben viele Personen aus Handel und Gewerbe um sich. Der Geschwätzige redet und redet – entweder spricht er zu Ihnen oder über Sie. Sein Gerede hat hier viele mögliche Quellen und Themen. Die Karte ist schwer zu deuten. Aber es ist eine schöne Karte. Mir gefällt die Dame darauf. Und der Arm des Edelmanns liegt so liebevoll auf ihrer Schulter. Die Zahl Fünf steht für Veränderung und Bewegung. Die Personen scheinen es zu genießen.«
Ich nahm einen Schluck Bier aus dem Glas, das Katarina mir gebracht hatte. »Vermutlich wird der Leutnant einiges zu sagen haben, wenn er mich mit Carlotta im Arm sieht.«
Madame Sparv verdrehte die Augen. »Ich bin beeindruckt – Sie haben die Karten im Blut, Madame Sparv!«
»Nur weil ich sie lege. Um meiner Hellsichtigkeit willen. Denn ich habe herausgefunden, dass ich selbst die Karten genauso brauche wie jeder andere Suchende.« Eine Weile hörte man nur das Geräusch der blakenden Kerze. »Die Hellsichtigkeit wurde mir nicht in die Wiege gelegt – trotz meines Vornamens Sofia, der ›Weisheit‹ bedeutet. Und es war auch keine Gabe.« Sie nahm die Karten und schob sie zusammen. »Als kleines Mädchen liebte ich die Vorführungen der Gaukler, die durch die Lande zogen. Wann immer mein lieber Vater Zeit hatte, nahm er mich mit zu den Feuerschluckern, Jongleuren, Akrobaten und Zigeunerinnen. Eines Sommers waren mein Vater und ich besonders gespannt auf einen echten Schlangenbeschwörer, der von weit her aus dem Fernen Osten gekommen war. Der Gewölbekeller des Wirtshauses, wo diese Darbietungen stattfanden, war voll und von lautem Geplauder erfüllt. Mein Vater schob mich auf einen freien Stuhl ganz vorn, er selbst fand ein paar Reihen weiter hinten einen Platz. Dann ertönte das Blöken eines Horns und das Grollen einer Trommel. Aus dem Durchgang zur Küche trat der Schlangenbeschwörer – braun wie eine Walnuss, einen safrangelben Turban um den Kopf gewickelt, ein Gewand aus schön gestreiftem Stoff, der im Dämmerlicht schimmerte. Der Schlangenmann sprach gebrochen Französisch, das der Wirt nur schlecht übersetzte, aber Französisch war ja meine Muttersprache. Der Schlangenbeschwörer erklärte, Musik sei die Sprache, die allen Geschöpfen gemeinsam sei, und nun wolle er den König der Schlangen rufen, ›Le roi‹, sagte er leise und fing an, auf einer langen, dünnen Flöte zu spielen. Und aus einem schwarzen Schilfkorb erhob sich eine dicke Albino-Schlange.
Mittlerweile wimmelte es in der Taverne nur so von Menschen, und der Raum vibrierte vor Angst, ich aber spürte davon nichts. Der Schlangenmann sah, dass ich ihn verstand, und wusste, dass ich im Bann seiner Vorführung stand. Er fragte, ob ich den König der Schlangen halten wolle, und ich nickte. Er hob den Albino zärtlich hoch, küsste ihn auf den Kopf und gab ihn mir. Er war überaus weich, und ich spürte die Kraft dieses Wesens, als es sich um meinen dünnen Arm wickelte. Die Schlange wurde ruhig und reglos, und wie der Schlangebeschwörer küsste auch ich das liebliche Tier auf den Kopf.
Aus der versammelten Menge rief jemand laut und nannte mich Eva, ein paar junge Männer meinten, ich solle doch die biblische Szene nachspielen. Alle lachten und klatschten, vielleicht waren sie erleichtert, dass jemand die Bibel erwähnt hatte. Jemand warf einen verschrumpelten Apfel nach vorn, er landete auf dem Tisch. Ein betrunkener Hausierer brüllte, ich solle mich nackt ausziehen. Mein Vater ging mit Zähnen und Klauen auf ihn los. Eine alte Frau fing an, die Namen Jesu und des Teufels zu rufen, während sie mit dem Finger auf den Fremdling zeigte – in der Taverne ging es zu wie auf einem Schlachtfeld. Der Schlangenmann raffte schnell seine Körbe zusammen und verschwand, in dem ganzen Gewühl unbemerkt, durch die Küche.
Ich folgte ihm, um ihm seine Schlange zurückzugeben, doch er war bereits weg. Nur der fette Koch war in der Küche und buk Pasteten. Er warf mir kurz einen Blick zu und schrie, ich solle verschwinden, dann widmete er sich wieder seinem Teig. Doch dann hielt er inne und blickte mich noch einmal an, und dieses Mal sah er die Schlange, die sich um meine Handgelenke geringelt hatte. Mit mehlstaubigen Händen kam er langsam um den Tisch herum und schloss ganz ruhig die Tür zum Schankkeller. ›Ich habe viele Geschichten gehört, kleines Fräulein, und habe mich immer gefragt, ob sie wohl wahr sind.‹
Ich dachte, er meine Eva und den Garten Eden und wolle die Gelegenheit nutzen, den König der Schlangen aus der Nähe zu sehen. Ich hielt ihm den Albino hin, dass er ihn berühren konnte. ›Keine Angst!‹, sagte ich. Und da sprang der Koch auf mich zu, riss mir die Schlange aus den Händen und warf das arme Geschöpf in einen Kessel, der an einem Spieß über dem Feuer hing. Der zischende Dampf und das Zucken der bleichen Schlange in dem sprudelnden Wasser verfolgen mich bis heute.
›Wir tunken die Brühe auf, wenn sie gar ist‹, flüsterte er in heller Aufregung, ›und dann haben wir Visionen. Meine Großmutter hat geschworen, es sei wahr. Wir werden sehen, kleines Fräulein, wir werden sehen!‹
Die Schlange war nun tot und trieb in der brodelnden Brühe. Der dicke Koch riss ein Stück grobes Schwarzbrot ab, tunkte es in den Sud und gab es mir. Sein Umfang und seine grimmige Miene versperrten die Tür zum Schankraum. Ich konnte die Küche nicht verlassen, ohne von seinem Gericht zu kosten.
›Aber wollen Sie selbst denn nicht auch Visionen haben?‹, fragte ich, in der Hoffnung, entkommen zu können. Lächelnd verbeugte er sich vor mir wie der vornehmste Herr und wartete, bis ich das Brot in den Mund geschoben hatte und kaute. Es schmeckte weder nach Fegefeuer noch nach der eisigen Kälte des Jenseits, es war einfach nur feuchtes Schwarzbrot. Ich zwang mich zu einem Lächeln und zuckte mit den Schultern – ich wollte einfach nur weg. Der Koch trat lachend zur Seite. ›Verfluchtes Volksmärchen!‹, schnaubte er und stopfte sich ein Stück rohen Pastetenteig in den Mund. ›Ich wollte nur wissen, ob es wahr ist.‹ Ich stürzte zur Tür, griff nach dem eisernen Riegel, und dann wurde alles in dem Raum, alles in der Welt weiß.«
Madame Sparvs oberes Zimmer war nun nur noch von einer einzigen Wandleuchte über dem Tisch und dem schwachen roten Feuerschein aus der Ofenklappe erhellt. Ich trank mein Glas in einem Zug aus. »Die weiße Welt – war das Ihre erste Vision?«
»Weiß sehe ich immer als Erstes, es kommt vor der Vision«, sagte sie und rieb sich bei dieser Erinnerung beklommen die Hände. »Als ich wieder zu mir kam, hielt mich mein Vater im Arm, und die Wirtin drückte mir ein Tuch auf die Stirn, das sie in kaltes Wasser getaucht hatte. Der Koch hielt sich so weit von mir entfernt, wie er nur konnte, und als er seinen Teig ausrollte und sein Gebäck formte, zitterten seine Hände. Er wollte nicht in meine Nähe kommen, nicht einmal als mein Vater ihn bat, ihm zu helfen, mich die Treppe hinaufzutragen. Ich war zwar benommen, sagte aber zu meinem Vater, dass ich allein gehen könne, und füllte meine Lungen mit frischer Luft. Mein Vater war überzeugt, dass ich aus purer Aufregung ohnmächtig geworden war, doch als wir uns dem Riddarfjärden näherten, kam das gleißende Weiß wieder. Dieses Mal folgte eine Vision. Ich sah Wasser, glänzendes, rotschwarzes Wasser, und einen Konvoi Schiffe, der mit der Ebbe auslief. Die hohen, dunklen Masten zeichneten sich vor dem dämmernden Himmel ab, das Schlagen der Segel, als sie gefiert wurden, vertrieb einen Schwarm Möwen von den hohen Spieren und Wanten. Sie flogen vorwurfsvoll kreischend in einem Bogen vor rosigen Wolken vorbei und ließen mit ihren Flügelschlägen Wind aufkommen, einen Sturm, der mich zu Boden riss. Mein Vater rief mich vom Deck des am weitesten entfernten Schiffes, aber der Wind blies ihn außer Sicht und fegte dann durch die Straßen der Stadt wie ein Hurrikan. Und dann herrschte nur noch Stille.« Sie faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch und begutachtete sie eingehend. »Als ich wieder bei Sinnen war, erzählte ich meinem Vater, was ich gesehen hatte, doch er zog mich nur an sich und sagte, ich solle mich nicht quälen, den Wind könne man nicht stoppen. Am Martinstag desselben Jahres ertrank mein Vater. Er sollte Stuckarbeiten auf Schloss Drottningholm durchführen und fuhr mit dem Boot dorthin. Er fiel von Bord – oder er wurde gestoßen, das weiß niemand genau – und wurde von einer starken Strömung unter Wasser gezogen. Solche Winde sind ein fürchterliches Omen. Deswegen fürchte ich auch um Gustav.«
Ich wandte den Blick von ihr ab und sah in die dunkle Ecke des Raums. »Das tut mir leid für Sie, Madame Sparv.«
»Ich bin froh, dass Sie mich verstehen. Da gibt es nicht viele. Ich habe mir oft gewünscht, lieber ein Scharlatan zu sein.«
»Aber wenn Sie tatsächlich hellsichtig sind – haben Sie deshalb angefangen zu spielen?«, fragte ich.
»Ja und nein. Hellsichtigkeit hilft beim Gewinnen nicht, aber die Karten halfen mir, mit den Visionen zurechtzukommen, denn sie kamen immer wieder. Ich suchte andere Menschen auf, Frauen, die mit derselben Gabe geschlagen waren wie ich, um zu erfahren, was ich tun müsse, um davon loszukommen. Manche waren Schwindlerinnen, andere waren geisteskrank, doch die echten Seherinnen sagten, man könne die Gabe nicht zurückgeben, aber alle hatten Mittel und Wege gefunden, damit klarzukommen. Die einen strickten oder klöppelten, andere bedienten in Kaffeehäusern und Schänken, sie verrichteten Arbeiten, die Geist und Hände beschäftigt hielten. Ich wurde Wäscherin und lernte Karten spielen, ich spielte überall und mit jedem. Spielen war für mich das beste Mittel, um mich abzulenken, und ich stellte fest, dass in der Ruhe, die mir die Karten schenkten, das Wildpferd der Hellsichtigkeit gezähmt werden konnte.« Sie lehnte sich zurück und legte die Hände in den Schoß. »Als ich dann nach Paris reiste, stieß ich zufällig auf ein Buch: Etteilla, ou manière de se récréer avec un jeu de cartes von einem gewissen Jean-Baptiste Alliette. Es war eine elaborierte Philosophie und eine Unterweisung in der Kartomantie – die Divination mit Hilfe ganz normaler Spielkarten. Dieses Buch veränderte, oder ich sollte wohl besser sagen: rettete mein Leben. Ich fand nicht nur einen Weg, das, was ich sah, zu dechiffrieren und zu nutzen, sondern ich fand damit auch ein Gewerbe, mit dem ich vom Koch bis zur Krone Kunden finden könnte. Ansonsten wäre ich wohl auf einer Schute auf den Abwasserkanälen oder als Gespenst in Lalins Schießpulverfabrik gestrandet – nachdem ich als leichtes Mädchen durchgescheuert gewesen wäre. Im Übrigen«, sagte sie und beugte sich mit einem traurigen Lächeln zu mir vor, »konnte ich mit dem Werkzeug bereits umgehen, ich musste nur noch lernen, was man daraus machen kann.«
»Und nun ebnen Sie mir damit einen goldenen Weg«, sagte ich.
»Wie ihn das fröhliche Paar hier auf Ihrer Betrüger-Karte beschreitet.« Sie nahm die Karten, klopfte sie zusammen und legte sie mit der Bildseite nach unten hin. »Nur noch zwei weitere Karten, Herr Larsson.«