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KAPITEL 1

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Stockholm 1789

Quellen: E. L., Polizeimeister X., Herr F., Baron G., Madame S.,

Archivar D. B. vom Riddarhuset

Stockholm wird das »Venedig des Nordens« genannt, aus gutem Grund. Reisende halten es für ebenso labyrinthisch, groß und geheimnisvoll wie seine Schwester im Süden. Im kalten Mälarsee und in den verschlungenen Wasserwegen der Ostsee spiegeln sich herrschaftliche Paläste, strohgelbe Stadthäuser, anmutige Brücken und wendige Skiffs, auf denen die Einwohner zwischen den vierzehn Inseln der Stadt unterwegs sind. Anders als Venedig jedoch, das sich in ein sonniges, hochentwickeltes Venetien hinein ausdehnen konnte, bilden die tiefen Wälder, die diesen glitzernden Archipel säumen, einen dunkelgrünen Saum voller Wölfe und anderer Wildheiten, der gleich hinter der Stadt in ein archaisches Land und in das rohe Leben der Bauern führt. Aber an der Schwelle zur letzten Dekade dieses Jahrhunderts, in den letzten Jahren der aufgeklärten Herrschaft Seiner Majestät König Gustavs III., dachte ich nur selten an das Hinterland und seine versprengten darbenden Bewohner. Die Stadt hatte so viel zu bieten, alle Möglichkeiten schienen offenzustehen.

Allerdings erschien diese Zeit auf den ersten Blick nicht als die beste. Vieh wurde oft mitten in den Häusern gehalten, baufällige Sodendächer moderten vor sich hin; Pockennarben, Schleimhusten und unzählige andere, nicht zu übersehende Symptome von Krankheiten, die die Bevölkerung heimsuchten, waren allgegenwärtig. Zu jeder Stunde schlug die Totenglocke, denn der Tod fühlte sich in Stockholm heimischer als in jeder anderen europäischen Stadt. Der Gestank offener Kloaken, verfaulter Nahrungsmittel und ungewaschener Leiber verpestete die Luft. Doch inmitten dieses düsteren Tableaus konnte man einen Blick auf ein wasserblaues Seidenwams mit goldgesticktem Vogelmuster erhaschen, man konnte das Rascheln einer Taftrobe und Verse aus der französischen Lyrik hören, konnte rosenduftende Pomade und Eau de Cologne riechen, herangetragen vom selben Wind, in dem auch eine Melodie von Bach, Bellman oder Kraus schwang – die wahren Kennzeichen der gustavianischen Zeit. Ich wünschte mir, diese goldene Ära würde ewig andauern.

Ihr Niedergang sollte unvergesslich werden, doch fast alle verpassten den Anfang vom Ende. Das war nicht sonderlich überraschend, rechneten die Menschen doch nur im Zusammenhang mit gewaltsamen Ausschreitungen mit einer Revolution – Amerika, Holland und Frankreich waren die jüngsten Beispiele dafür. In jener Februarnacht, in der unsere stille Revolution begann, war es jedoch ruhig in Stockholm, die Straßen waren so gut wie ausgestorben, und ich spielte Karten bei Madame Sparv.

Wie jeder andere in der Stadt liebte auch ich das Kartenspiel. Wo Menschen zusammenkamen, gab es auch Karten, und wer nicht mitspielte, galt nicht nur als unhöflich, sondern als tot. Man vergnügte sich bei allen möglichen Partien am Tisch, Boston Whist aber war unser Nationalspiel. Spielen war ein Beruf, dem, ähnlich der Prostitution, lediglich eine Zunft und ein Wappen fehlten, dennoch war er in der gesellschaftlichen Architektur der Stadt eine anerkannte Säule. Es schuf auch eine Art soziale Durchlässigkeit: Menschen, mit denen man sonst niemals Umgang pflegen würde, saßen einem am Kartentisch gegenüber, vor allem wenn man zu den eingefleischteren Spielern gehörte, die Zutritt zu Sofia Sparvs Spielsalon hatten.

Einlass in dieses Etablissement zu bekommen war sehr begehrt. Trotz der gemischten Gesellschaft – hochwohl und nieder geboren, Damen und Herren – bedurfte es dazu einer persönlichen Empfehlung, nach der die französischstämmige Madame Sparv ihre neuen Gäste mit Hilfe eines unergründlichen Systems eingehend prüfte: Spielgeschick, Charme, politische Haltung, ihre eigenen verborgenen Neigungen. Fiel man durch ihr Raster, hatte man für immer verspielt. Ich bekam eine Einladung über den Polizeispitzel in der Straße, mit dem ich einen intensiven, fruchtbaren Austausch von Informationen und Waren in meiner Eigenschaft als Angestellter der Zoll- und Steuerbehörde der Stadt pflegte. Ich hatte die Absicht, ein vertrauenswürdiger Stammgast von Madame Sparv zu werden und mein Glück in jeder Hinsicht zu machen. So wie unser König Gustav einen eisigen, provinziellen Landstrich übernommen und ihn in eine Hochburg der Kultur und Vornehmheit verwandelt hatte, so wollte ich vom Botenjungen zum geachteten rot livrierten Sekretär aufsteigen.

Madame Sparv betrieb ihren Salon im zweiten Stockwerk eines alten Treppengiebelhauses in der Gråmunkegränd Nummer 35, verputzt im allbekannten Gelb der Stadt. Von der Straße betrat man es durch ein Steinportal, in dessen Scheitelstein ein aufmerksames Gesicht eingemeißelt war. Die Gäste behaupteten, die Augen würden sich bewegen, doch als ich in dem Haus war, bewegte sich nichts außer einer beachtlichen Geldsumme aus meiner Tasche heraus und in meine Tasche hinein. An diesem ersten Abend war mir vor Aufregung zugegebenermaßen ganz flau im Magen, aber als wir die gewundene Steintreppe hinaufstiegen und ins Foyer traten, fühlte ich mich ausgesprochen wohl. Die Atmosphäre war warm und gastlich, es gab hellen Kerzenschein und bequeme Stühle. Der Spitzel stellte mich Madame Sparv gebührend vor, ein Dienstmädchen reichte mir ein Glas Weinbrand von einem Tablett. Teppiche dämpften die Geräusche, die Fenster waren mit dunkelblauem Damast verhangen, sodass die Räume zu jeder Zeit in ein Dämmerlicht getaucht waren. Diese Stimmung kam sowohl den Spielern an den Tischen zugute als auch den Kunden, die auf eine Konsultation warteten, denn in einem privaten Gemach am Ende einer schmalen Stiege übte Madame Sparv auch die Kunst des Hellsehens aus. Sie beriete König Gustav, hieß es. Jedenfalls verhalf ihr dieses zweifache Geschick mit den Karten zu einem hübschen Einkommen und ihrer exklusiven Spielergemeinde zu einem zusätzlichen Schauder der Wonne.

Der Spitzel fand einen Tisch und einen dritten Mann, ich suchte gerade einen vierten Mitspieler, als ein grinsender Kerl mit fauligem Zahnfleisch ankam, dem Spitzel etwas ins Ohr flüsterte und dessen sonst steinigem Gesicht ein Lächeln abrang. Ich setzte mich, nahm eines von zwei Kartenspielen aus einer Schatulle und klopfte es ordentlich zusammen. »Gute Neuigkeiten?«, fragte ich.

»Kommt darauf an, für wen«, antwortete der Mann.

Der Spitzel setzte sich und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Sie sind ein Königsfreund, nicht wahr, Herr Larsson?«

Ich nickte. Ich war ein glühender Royalist – genauso wie Madame Sparv, wenn man von den Porträts ausging, die im Foyer hingen: Gustav III. von Schweden und Ludwig XVI. von Frankreich.

Der Mann reichte mir die Hand, nannte mir seinen Namen, den ich gleich wieder vergaß, und schob seinen Stuhl an den Tisch. »Riddarhuset ist unter Waffen«, verkündete er. »König Gustav hat zwanzig führende Mitglieder der Patrioten verhaftet. General Pechlin, den alten von Fersen und sogar Henrik Uzanne.«

»Dann müssen sie ausnahmsweise ja mal etwas Bemerkenswertes getan haben«, sagte ich und mischte die Karten.

»Es geht um das, was sie nicht getan haben, Herr Larsson.« Der Mann mit dem fauligen Grinsen beugte sich vor und hob die Hand zum Zeichen, dass wir schweigen sollten. »Die Adelspartei hat die Unterzeichnung der königlichen Vereinigungs- und Sicherheitsakte verweigert. Sie ist empört über die Vorstellung, dass das gemeine Volk dieselben Rechte und Privilegien bekommen soll, die bislang dem Adel vorbehalten waren. Gustav hat der Adelspartei Einhalt geboten und verhindert, dass ihre ablehnende Haltung sich ausbreiten und der aufgeklärten Gesetzgebung ein Ende bereiten könnte. Die drei niederen Stände haben unterschrieben, Gustav hat unterschrieben. Die Akte ist nun Gesetz.«

Ich verharrte kurz mit den Karten in der Hand und beobachtete, wie die drei anderen Männer die Vision eines neuen Schwedens in ihren Köpfen wälzten.

»So eine Errungenschaft kommt anderswo nur durch blutige Revolutionen zustande«, sagte der Spitzel ehrfürchtig. »Gustav hat die Bedrohung mit dem Federkiel erstickt.«

»Erstickt?«, fragte der dritte Spieler und leerte sein Glas. »Der Adel wird sich zusammenschließen und mit Gewalt darauf antworten – so wie ’43, so wie überall. Es geht in diesem Gesetz um die Einheit.«

»Und wo ist die Sicherheit?«, fragte ich. Da keiner etwas sagte, hielt ich die Karten hoch: »Boston Whist?«

Madame Sparv, die unserem Gespräch aufmerksam gelauscht hatte, nickte mir mit billigendem Blick zu – sie wollte das Thema Politik also eindeutig vertagt wissen. Ich teilte die Karten an vier Hände aus, weiße Rückseiten auf grünem Billardtuch.

»Wurde auch der Bruder des Königs festgenommen?«, fragte der Spitzel neugierig. »Karl ist neuerdings de facto Anführer der Patrioten.«

»Karl – Anführer?« Der Mann verzog das Gesicht. »Herzog Karl wechselt die Seiten wie die Frauen. Und Gustav kann nicht glauben, dass Karl ein Komplott gegen den Thron schmiedet. Er hat ihm sogar die Gunst gewährt, es zu beweisen: Er hat seinen lieben Bruder zum Militärgouverneur von Stockholm ernannt.«

»Und deswegen schlafen wir heute Nacht alle besser«, sagte ich und fächerte meine Karten auf. »Aber jetzt müssen Sie Ihre Einsätze tätigen.«

Das Gespräch verstummte. Man hörte nur das Klatschen und Schleifen der Karten, das Klimpern von Münzen und das Rascheln von Banknoten. An den Tischen schlug ich mich in jener Nacht außerordentlich gut, Spielen war ein Talent, an dem ich ständig feilte. Auch dem Spitzel erging es gut, denn es war in Madame Sparvs Interesse, die Polizei zu schmieren, obschon ich nicht sagen konnte, wie sie die Partien manipulierte, denn er spielte nicht besonders geschickt.

Kurz vor drei Uhr stand ich auf und streckte mich. Madame Sparv kam zu mir und umfasste meine Hand. Sie hatte ihre Blütezeit lange hinter sich und war schlicht gekleidet, doch im weichen Schimmer des Kerzenscheins und des Alkoholdunstes erstrahlte sie in früherem Glanz. Sie hielt den Atem an und zog mit einem langen, schlanken Finger eine Linie auf meiner Handfläche nach. Ihre Hände waren kalt und zart, sie schienen über meinen zu schweben und sie gleichzeitig sanft zu wiegen. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war, dass sie eine ausgezeichnete Taschendiebin abgeben würde, aber für Schnickschnack war sie nicht zu haben – ich prüfte danach meine Taschen –, und ihr Blick war warm und ruhig.

»Sie sind für die Karten wie geschaffen, Herr Larsson, und hier in meinem Salon werden Sie spielen und größten Nutzen daraus ziehen. Ich würde sagen, wir haben noch viele Partien vor uns.«

Die warme Woge dieser Anerkennung durchspülte mich von Kopf bis Fuß, und ich erinnere mich, dass ich ihre Hand an meine Lippen führte und unsere Verbindung mit einem Handkuss besiegelte.

In jener Nacht begann ein zwei Jahre andauerndes übermäßiges Glück im Spiel, und bald sollte ich das Oktavo kennenlernen, eine Kunst der Weissagung, die nur Madame Sparv beherrschte. Sie bestand darin, acht Karten eines alten, geheimnisvollen Kartendecks auszulegen – anders als jedes Blatt, das ich bisher gesehen hatte. Im Unterschied zu den vagen Andeutungen der Zigeunerinnen auf dem Marktplatz lagen Madame Sparvs exakten Voraussagen Visionen zugrunde, und die Karten standen für acht Personen, die das vorhergesehene Ereignis verursachen würden – ein Ereignis, das eine Veränderung, eine Wiedergeburt des Suchenden mit sich brachte. Wiedergeburt steht selbstverständlich auch für Tod, aber das wurde nie ausgesprochen, wenn die Karten gelegt wurden.

Der Abend endete mit einer Reihe betrunkener Toasts: auf König Gustav, auf Schweden, auf die Stadt, die ich liebte.

»Auf die Stadt!«, sagte Madame Sparv und stieß mit mir an, die bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte mir auf die Hand.

»Auf Stockholm«, antwortete ich mit einem sentimentalen Kloß im Hals, »und das gustavianische Zeitalter!«

Das Stockholm Oktavo

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