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Antinatalismus, larvierter (Maikäfer-Antinatalismus)

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Zwar kommt es erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu wesentlichen Durchbrüchen zum Antinatalismus, doch ist die Zeit davor erfüllt von diversen – zumeist religiös oder metaphysisch – maskierten oder, wie wir sagen, larvierten Antinatalismen. Im besten Wortsinne larviert antinatalistisch ist Widmanns Maikäfer-Komödie, in der die zunächst unterirdisch lebenden Maikäfer-Engerlinge vor dem Aufstieg in den oberirdischen Maikäfer-Himmel stehen, in dem sie als Imago leben (und auch Menschen begegnen) werden.

Widmann nannte seine Maikäfer-Komödie eine „Anklage des Welturhebers auf fahrlässige Schöpfung" (Fahrlässigkeit) – was wir lesen müssen als: Anklage der Menschen gegen den Welturheber wegen dessen fahrlässiger Schöpfung (zit. in Otto von Greyerz, Prometheus der Dulder und Käthi, die Großmutter, S. 303).

Ein erster Aufruf zum Antinatalismus ergeht von einer gewissen Anthusa genannten Maikäferin, der Artemisia widerspricht:

„Anthusa: Dass wir besser ledig blieben. / Artemisia: Ledig? / Anthusa: Ja, der Lasten ledig, / Die uns auferlegt die ‚Liebe‘. / Artemisia: Diese Last ist Lust, ist Zukunft / Unsres Volkes. / Anthusa: Ob ihm Zukunft / Auch zukommlich, ist die Frage. / […] / Artemisia: doch hier in der schönen Lichtwelt / Widerlegt das volle Leben / Dir mit jedem Atemzuge / Solche trübe Träumerei.“ (Widmann, Maikäfer-Komödie, S. 94f)

In vitalistischer Manier widerlegt das momentanistisch pralle Leben die Einwände gegen das Hervorbringen zukünftiger Maikäfer-Generationen. Auf eindeutige Fortpflanzungshinterfragung lässt Widmann unter Rückgriff auf Bionomie antworten:

„Anthusa: Ihr wollte gebären? / Phrixa: Wollen ist das Wort nicht, / Wir müssen. / Phyllis: doch wir können auch. / Lainilla: / Und drum / Ist Wollen gleichwohl mit dabei. Wer möchte / Nicht wollen, was er muss und kann? / Anthusa: Tut’s nicht. / Tattabaucis: Bist du kein Weib, dass du so töricht faselst?“ (Widmann, a.a.O., S. 158)

Nachdem als Daseinsübel erörtert wurde, dass sich die Maikäfermänner nach kurzem Taumel nicht weiter um ihre Frauen kümmern fragt Anthusa:

„Und wenn ihr dies erfuhrt, wollt dennoch / Fortsetzen ihr das unvernünft'ge Leben / In künftigen Geschlechtern? / Tattabaucis: Hört die Närrin, / Die nicht begreift, daß wir Notwendiges üben! / PHYLLIS: Fühlst du dich selbst nicht Mutter? / ANTHUSA: Nein. / PHYLLIS: Dann freilich / Hast du hier Sitz und Stimme nicht. / ANTHUSA: Doch graut mir, / Dass solches Possenspiel, wie wir's erfuhren, / Sich zwecklos ewig soll erneu'n. – Erschnapptet / An dieser Lebensmahlzeit jemals ihr / Nur einen Bissen, der gewürzt nicht war / Mit Lug und Trug?“ (A.a.O., S. 160)

In den nachstehend zitierten Zeilen entwirft Widmann nichts Geringeres als eine Maikäferdizee, eine Rechtfertigung der Hervorbringung neuer Maikäfer in Anbetracht der ihnen bevorstehenden Übel. Wiederum ist es Anthusa die eine Kompensation langfristiger Leiden durch kurzfristige Lust nicht gelten lässt. Zudem erinnert sie daran, dass die neuen Maikäfer ungefragt ins Weltgefängnis gesteckt werden, indem man sie zeugt:

„PHYLLIS: Mag sein, daß falsch die Männer sind und treulos, / Mag sein, daß wir auch allzuviel nicht taugen / Und daß die ganze Welt ein Possenspiel. / Doch gibt's im Zeitlauf dieser schlechten Welt / Für unsresgleichen mal ein Viertelstündchen, / Das alles zahlt: wenn zwei von diesen einzeln / So schlimm beschaffnen Wesen sich in Liebe / Verbinden. – Ach! es war halt schön! Und Kinder / Sind das Bekenntnis, daß die Welt uns einmal / So gut gefiel, um selbst an ihr zu baun.

ANTHUSA: In unbedachter Lust, ja wohl!

PHYLLIS: So sei es: / In unbedachter Lust!

ANTHUSA: Die neue Sklaven / In dies Gefängnis liefert, unbefragte!

LAINILLA: Geh, frag' sie doch, ob sie nicht kommen wollen. / Mir scheint, sie wollen alle.“ (A.a.O., S. 161f)

Mit Lainillas Aussage soll vielleicht besagt sein, dass alle, die bereits existieren, froh sind, dass man so handelte, dass sie zu existieren begannen und dass es überaus schwierig ist, eine Person davon zu überzeugen, dass „es“ besser gewesen wäre, wenn sie nicht zu existieren begonnen hätte. Auch diese Vitalitätsverzerrung bringt Widmann meisterhaft auf den Punkt, wo er den Maikäferkönig „dies Leben eine Zaubermaske“ (S. 208) nennen lässt:

„Mit Augen, die erst locken, herrisch dann / Uns bannen, endlich arg und hohnvoll funkeln, / Wer einmal dem gewalt'gen Zuge folgte, / Je in den Wirbeltanz gerissen ward, / Der kann sich denken nicht, noch möcht' er wünschen, / Er wäre nicht dabei gewesen! Nein! / Wer Leben je erfuhr, muß dennoch danken, / Daß ihn der Hauch berührte, der ein Nichts / Aus dumpfem Schlafe weckt, den Staub mit Atem / Beseelt und mit Gestaltung ihn bekleidet. – / Blüht, künftige Geschlechter! blüht wie wir, / Und tragt wie wir die Doppelfrucht des Lebens, / Die süße Lust und all das bittre Leid.

DER ROTE SEPP: So dankst du Gott für diese Welt?

KÖNIG: Ich tät' es, / Wär' sie so gut als schön! Da aber fehlt's!“ / (A.a.O., S. 209)

Der Maikäferkönig dankt Gott nicht für die Welt und damit auch nicht für seine Existenz. Wir stehen hier kurz vor einem Durchbruch zum Antinatalismus: Wer einmal da ist, ist kaum imstande zu wünschen, er wäre nicht gewesen.

Freilich erscheint der Antinatalismus bei Widmann maskiert durch das Maikäfertum und Gott an der Stelle der Eltern. Über den sterbenden Maikäferkönig heißt es kritisch gegen den Schöpfer, aber in existentialistischer Mutschöpfung:

„Da streckt er sich, der kleine Heldenkönig. / Der letzte seines Volks, ein Ueberwinder! / Ein Nichts, ein hingemartertes Geschöpf, / Wie wir es alle sind. Und doch ein Sieger. / Das Opfer würdiger als der Altar, / Auf dem's verblutet.“

Sieht man von aller Larvierung ab, so erscheint ein Antinatalismus, der Kinder – also alle Menschen – als von ihren Eltern hingemarterte Geschöpfe begreift.

Dizee-TransformationWidmann

Antinatalismus

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