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Die Botschaft Gottes

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Sadi, am 17. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Seffenaiu hatte es mit seiner Rückkehr nach Pinapataui nicht eilig. Zum einen wurde er erst im Lauf des Tages zurückerwartet. Zum anderen hatte er, ganz wie ihm die Gräfin vor seinem Aufbruch mitgeteilt hatte, von dem Kaufherrn keine Botschaft mündlicher oder schriftlicher Art erhalten, weshalb er ihr bloß würde berichten können, daß alles wie erwartet verlaufen sei. So stand also einem Bummel durch Sadi nichts im Wege.

Das Leben in der wohlhabenden Stadt, die wegen ihrer dunklen Häuser und ihres streng geometrischen Aufbaus auf Fremde oftmals abweisend und bedrückend wirkte, unterschied sich kaum von dem in sorgloseren Zeiten. Solange sich Seffenaiu nur in den Bogengängen bewegte, welche die meisten der quadratischen Wohnblöcke zur Straße hin zierten und wo kleine Läden, Werkstätten und Tavernen ihr Zuhause hatten, erschien alles wie immer. Dieser Eindruck war indes nicht mehr aufrechtzuerhalten, wenn er an einem der endlos vielen Heiligenschreine vorbeikam, was spätestens der Fall war, wenn er eine Kreuzung überquerte. Denn dort fanden sich meist gleich vier, nämlich einer an jeder Hausecke.

Obgleich Seffenaiu in einem nicht sonderlich glaubensstrengen Elternhaus im ländlichen Norden Ikarillas aufgewachsen war, hatte es ihm die Sprache verschlagen, als er zum ersten Mal erlebt hatte, wie die Stadtbewohner ihren religiösen Pflichten nachzugehen pflegten. Sie hatten sie vollständig in ihr Leben eingegliedert und erledigten sie sozusagen nebenher auf ihren alltäglichen Gängen. Sie verbeugten sich im Vorbeieilen vor dem Schrein der heiligen Elili, knieten kurz vor dem des heiligen Akolu nieder, ohne jedoch das Gespräch zu unterbrechen, das sie gerade führten, betraten etwa die Werkstatt des Schneiders Hafokui und danach den Laden, in dem sie schon immer ihr Kokosöl gekauft hatten, und ließen dazwischen weder den heiligen Tomu noch die heilige Erna gänzlich unbeachtet.

Mit der großen Aionarsbasilika sah es dagegen ganz anders aus. Sie fand so wenig Beachtung, daß die Priesterschaft des Abwesenden Gottes das Gebäude schon seit Generationen nur noch an den höchsten Feiertagen öffnete.

Heutzutage, als Erwachsener, wußte Seffenaiu, daß sich Sadi nicht wesentlich vom restlichen Ikarilla unterschied. Allein der Umstand, daß die Bauern in ihren Dörfern nicht ebenfalls Hunderte von Schreinen erhalten konnten, hinderte sie daran, derselben leichtflüchtigen Frömmigkeit wie die Städter anzuhängen.

Doch das, was der Ritter an diesem Tag während seines Gangs durch die Straßen sah, entsprach keineswegs dem gewohnten Bild. Sämtliche Schreine waren geschmückt, und vor vielen standen oder knieten hilfe- und trostsuchende Gläubige, die augenscheinlich nicht beabsichtigten, so bald wieder weiterzugehen.

Wie zum Ausgleich entdeckte er dafür erheblich weniger Männer oder Frauen, die glutäugig und heiser ihre Mitmenschen zu Besinnung und Abkehr von allerlei Bosheiten aufforderten. Er hatte den Sinn solcher Ermahnung ohnehin nie verstanden, wenn die Prediger doch im selben Atemzug verkündeten, daß jede Reue vergeblich und das Ende der Welt längst beschlossen sei – und daß man nun die wenigen Augenblicke abzählen könne, bis die Gerechten von den Verdammten getrennt würden, die Schuldlosen von den ebenfalls Verdammten und die zu Erlösenden von den gleich drei- und vierfach Verdammten und den bis lange nach dem Ende aller Tage Verfluchten!

Dennoch blieb Seffenaiu bei einer Menschenansammlung stehen, die sich urn eine dieser Schicksalsverkünderinnen gebildet hatte. Obwohl die schlicht gekleidete Frau nichts anderes von sich gab als das, was auch Seffenaiu im Grunde seines Herzens dachte und erwartete, fing er nach einiger Zeit an, sie zu hänseln. Er gefiel sich darin, seinen Geist blitzen zu lassen, um mit gelenkiger Zunge scharfsinnige und zunehmend bissiger werdende Zwischenrufe von sich zu geben.

Wie aufgeblasen sie war, wie selbstgerecht! Wie wenig dieses Trampel seinen geschliffenen Sätzen entgegenzusetzen hatte! Allein ihre Dummheit, nicht einzusehen, wie völlig überlegen er ihr war, hinderte sie daran, sich geschlagen zu geben!

Einige Zuhörer wandten sich zu ihm um, andere zischten. Seffenaiu richtete sich überheblich lächelnd kerzengerade auf, damit sie ihn besser sehen konnten: ihn, den Ritter. Ihn, einen zwar unbedeutenden, aber dennoch einen Herrn dieses Landes! Er ließ sie spüren, was er von ihnen hielt: Sie waren nichts! Gar nichts. Sie mochten sich zwar über ihn ärgern, aber letztlich blieb ihnen nur eines übrig, nämlich ihn zu erdulden.

Plötzlich erkannte Seffenaiu, daß seine Einschätzung nicht mehr ganz so zutreffend war wie ehedem. Er fragte sich, oh seine Bissigkeiten und Pöbeleien immer noch so ohnmächtig ertragen werden würden, wenn jetzt eine andere Tageszeit wäre, vielleicht auch ein etwas abgeschiedenerer Ort? Er hatte Zweifel daran, sogar erhebliche. Das war neu! Das war besorgniserregend.

Selbstverständlich nur allgemein gesprochen!

In einem Anfall von Blutrünstigkeit stellte sich der Ritter vor, wie sich die Verhöhnten gegen ihn wandten und sich auf ihn stürzten. Sollen sie kommen, dachte er und malte sich aus, wie er mit der Reiterkeule ihre Schädel zerschmetterte und ihnen mit dem Schwert die Köpfe abschnitt, die Leiber aufschlitzte, ihr Blut verspritzte.

Sollten sie nur kommen! Sie würden doch nichts damit erreichen!

Seffenaiu hörte sich mit den Zähnen knirschen, fühlte die Muskeln seines Gesichts, die verkrampft waren von dem, was ihn ihm vorging, und sah die Furcht derer, die ihn erschrocken ansahen. Er wandte sich ab und ging. Sein boshaftes Vergnügen hatte plötzlich einen schalen Beigeschmack bekommen.

Etwa einen Häuserblock entfernt fühlte der Ritter seine Ohren heiß werden.

War das die fröhliche Gelassenheit, mit der er seinem Ende entgegensehen wollte? War sie das? Falls ja, so sollte sie künftig als unsagbar peinlich bezeichnet werden.

Was war bloß in ihn gefahren?

Eine Ablenkung mußte her, um seine Beschämung möglichst schnell zu vertreiben. Seffenaiu sprach den nächsten Menschen an, der ihm entgegenkam, nämlich eine zahnlose Greisin: »Sag, Frau, gibt es in der Stadt irgendwo auch einen Schrein des heiligen – wie hieß er gleich? – Pilui?«

»Der Säufer?« fragte die Frau unverblümt. »Mein verstorbener Mann ...«

Seffenaiu lächelte gemäßigt höflich. Er wollte eine kurze Auskunft erhalten und keine Lebenserinnerung erzählt bekommen.

»... mochte ihn nie«, fuhr die Alte fort. »Aber ich habe ihn immer in Ehren gehalten.« Sie kratzte mit den gekrümmten Fingern der einen Hand an seinem Gewand.

Der Ritter griff nach seiner Börse, worauf die Frau zwar aufhörte, an ihm zu kratzen, dafür sich aber mit ihrem ganzen Gewicht zutraulich gegen ihn lehnte. Zu spät fiel ihm ein, daß er schon am Vortag den Stallburschen hatte vertrösten müssen. Er besaß noch immer keine kleinen Münzen. Seffenaiu schickte sich in sein Los und gab der Alten einen silbernen Schein. Sie geriet darüber ganz außer sich vor Freude und versprach, ihn augenblicklich zu dem Heiligen zu führen. Schon bewegte sie sich mit winzigen, sorgfältig überlegten Schrittehen vorwärts.

»Ist es denn weiter als bis zum nächsten Haus?« erkundigte sich Seffenaiu vorsorglich.

»O ja!« antwortete seine Führerin. »Es ist am Markt!«

»In dem Fall zöge ich es vor, wenn du mir beschriebest, wo der Schrein steht. Ich werde ihn dann schon finden.«

»Aber ich kann Euch doch begleiten, junger Herr.«

»Sicherlich. Aber lieber nicht. Zeig mir einfach den Weg, Mütterchen.«

Ihre Beschreibung war gut genug, so daß Seffenaiu wirklich nicht allzu lange suchen mußte. Der Schrein des heiligen Pilui befand sich in der Nische einer Hauswand, gleich neben der Werkstatt eines Hutmachers. Die flache Vertiefung war etwa vier Ellen hoch und drei breit und enthielt ein durch die Berührung vieler Hände glänzend poliertes, bronzenes Halbrelief, das den Heiligen darstellte. Er war überhaupt nicht so dargestellt, wie Seffenaiu erwartet hatte, nämlich wie ein fröhlicher Mops. Statt dessen war er spindeldürr. Auch sah man ihm an, wie sehr er litt. Was war – genau bedacht – auch anderes zu erwarten gewesen? Mondelanges Trinken unter Heiden hinterließ hei jedem Spuren.

Wie so viele vor ihm legte auch Seffenaiu seine Hand auf das Relief, was nach gängigem Glauben vorbeugend wirken sollte gegen künftige Beschwerden.

Sadis Markt bildete den Kreuzungspunkt zweier Straßen, nämlich einer, die an der Küste entlanglief, und einer zweiten, die vorn Hafen ins Landesinnere führte. Auf dieser war Seffenaiu auf dem überwiegenden Teil des Weges von Pinapataui nach Sadi geritten. Der Platz, der gegenwärtig von Tausenden geschäftiger Menschen gefüllt war, wurde umrahmt von Häusern, die für den Baustil Sadis so typisch waren und denen man sofort den Wohlstand ihrer Bewohner ansah. Auch wenn sie alle quadratisch waren und einen Innenhof besaßen, unterschieden sie sich in der Ausdehnung der unbebauten Fläche um sie herum und der Anzahl ihrer Stockwerke. Das waren wichtige Kennzeichen. Gebäude mit nur einem Stockwerk wurden von den Reichen der Stadt bewohnt, solche mit zwei Stockwerken von den nicht mehr ganz so Reichen, die darauf angewiesen waren, ihre Wohnstatt mit einer weiteren Familie zu teilen. Gebäude mit fünf, gar sechs Stockwerken waren Mietshäuser. Seffenaiu hatte zwar nie einen Fuß in einen der lauten, hellhörigen, nach ranzigem Öl und den Kochkünsten gegenwärtiger und verflossener Bewohner stinkenden Kästen gesetzt – bewahre! –, wußte aber, daß in ihnen weit mehr als nur fünfmal soviel Menschen wohnten wie in den flachen Häuschen der Reichen.

Zwei Gebäude unterschieden sich. Sie standen sich an entgegensetzten Enden des Platzes gegenüber, nämlich der mächtige weiße Rundbau der Basilika des Abwesenden Gottes und der prächtige Vogtspalast. Er war ein längliches Gebäude, das dem Marktplatz die schmale Seite zeigte. Der Palast, durch die Verwendung dunkel- und hellgrauer Steine mit Mustern überzogen, bestand im wesentlichen aus einem Hauptschiff, an das sich beidseitig je drei parallele Seitenschiffe anlehnten, deren Höhe zum Hauptschiff anstieg. Seffenaiu hatte das Gebäude vor ein paar Jahren kurz von innen gesehen. Er war überrascht gewesen, sich urplötzlich in einem Wald von Säulen wiederzufinden, den das Licht aus ausgeklügelt angebrachten Fensteröffnungen in eine Traumwelt mit tanzenden Geistern verwandelte.

Der Ritter ließ sich in der Menschenmenge treiben. Sadis Markt bot alles, was Felder, Meer und Weiden hergaben. Dieses für sich schon reichhaltige Angebot wurde erweitert durch eine Fülle getöpferter, geschnitzter, geschmiedeter, gehämmerter, gegossener, geflochtener, gewobener und gefärbter Erzeugnisse vieler kleiner und großer Werkstätten. Hinzu kamen noch Waren, die in vertraut oder fremd aussehenden Schiffen über das Meer gebracht worden waren. Von seiner Unterkunft aus, die sich in der Nähe des Hafens befand, hatte Seffenaiu zwanzig dickbauchige Schiffe gezählt, die gegenwärtig in Sadi vor Anker lagen. Knapp die Hälfte von ihnen waren einheimische Segler, fast noch einmal so viele entstammten den Ländern der Ehernen Liga und anderen Anrainerstaaten des Ikarillischen Golfes. Der Rest kam von sehr viel weiter her, eines sogar aus Eulykien, das wer-weiß-wo liegen mochte. Seffenaiu kannte den Namen des Landes nur deswegen, weil er die Kapitänin des Schiffes – eine Frau mit wahrhaft abenteuerlichem Kopfputz – beim Betreten eines Hauses beobachtet hatte, das in der Nähe seiner Herberge stand. Ein Schild wies es als Eulykisches Kontor aus. Zu Gunsten des Hauses nahm Seffenaiu an, daß sich »eulykisch« auf ein Land beziehe und nicht etwa eine beschönigende Umschreibung für eine Stätte des Lasters sei.

Am Stand eines Schneiders blieb Seffenaiu stehen und verfolgte, wie die beiden fast erwachsenen Töchter mit schlafwandlerischer Sicherheit Stoffe zerteilten. Ihr kleiner Bruder schnitt Grimassen, worauf der Ritter spielerisch mit dem Finger drohte, womit er das Kind zum Lachen brachte. Unterdessen versuchte der Schneider einer Kundin, die einen Sarong in Auftrag geben wollte, das komplizierte Muster auszureden, das ihr vorschwebte.

»Ihr müßt verstehen, daß wir das Tuch für jede Farbschicht neu einfärben müssen«, hörte ihn Seffenaiu erklären. »Dabei müssen wir allen Stoff, der keine Farbe abbekommen soll, mit Wachs schützen. Das heißt also jedesmal: färben, trocknen, altes Wachs entfernen, neues auftragen. Diesen Vorgang wiederholen wir fünf-, sechsmal, was aber voraussetzt, daß das Muster, das Ihr haben wollt, sich einfach zerteilen läßt. Doch damit – hei der heiligen Semal! – meine ich etwas ganz anderes als Ihr. Geht davon aus, daß jeder Färbevorgang mindestens einen Tag verschlingt. Das dauert also gut und gern ...« Völlig ohne Vorwarnung drang ein lauter Schluchzer aus seiner Brust. Obwohl dem Schneider Tränen über die glattrasierten Wangen liefen, sprach er mit bebender Stimme weiter. Seine Kundin sah betreten zur Seite, während Tropfen um Tropfen auf das Tuch zwischen ihnen fielen. Die Töchter beugten sich tiefer über ihre Arbeit und gingen ihr noch eifriger nach. Einzig der Sohn versuchte nicht vorzutäuschen, daß alles seine Richtigkeit habe und wie immer sei. Er trat zu seinem Vater, umarmte ihn und sah verständnislos zu dessen nassem Gesicht auf. Da er nur halb so groß wie der Erwachsene war, sah er zwangsweise dort hinauf, wo sich die Quelle des väterlichen Schmerzes befand. Doch das verstand er nicht, und sowohl Seffenaiu als auch jeder, der Zeuge des Vorfalls war, hütete sich, zum Himmel zu blicken, wo der böse Stern im Verborgenen lauerte. Nach einigen Augenblicken stieß der Schneider seinen Sohn mit erstickter Stimme von sich. Umgehend begann das Kind die Kränkung in eine Welt hinauszuplärren, die mit ihrer Trauer nicht mehr zurechtkam. Seffenaiu bemühte sich, den durchdringenden Schreien schleunigst zu entkommen.

Wenn es ihm nicht gelang, zwischen langsamer gehenden Besuchern des Marktes hindurchzuschlüpfen, so schob er sie kurzerhand zur Seite. Wagten sie, sich zu beschweren, brachte er sie mit überheblich hochgezogener Augenbraue zum Schweigen. Zwischendurch erstand er hei einem Schnellbrater eine verlockend riechende Mahlzeit. Ein Meerschweinchen – halbiert, paniert und mit Erdnußmus bestrichen. Es roch köstlicher, als es schmeckte. Daher überließ es Seffenaiu einem Bettler, der offenbar kurz zuvor von einer Fischhändlerin von seinem ursprünglichen Platz vertrieben worden war. Nun saß er zeternd und immer wieder auf sein verlorenes Paradies deutend, auf einem sehr viel schlechteren Platz, wo ihn außer dem Ritter niemand wahrnahm und er mit angezogenen Beinen darauf achten mußte, nicht ständig getreten zu werden.

Die Fischhändlerin war eine praktisch denkende Frau. Unaufhörlich redend bot sie ihre Ware an. Sie bewahrte sie gut sortiert in Körben auf Fische in allen Farben des Regenbogens – große, kleine, längliche, tellerrunde, manche glatt, manche mit Auswüchsen, andere teilweise durchsichtig. Sie hob sie an den Schwänzen hoch, pries ihre Vorzüge und warf sie zurück in die Körbe, wo sie mit halboffenen Mündern und glasigen Augen in eine Welt glotzten, die ihnen nicht mehr allzu viel zu bieten hatte. Gingen die Kunden nicht gleich auf das Angebot der Fischhändlerin ein, so gab sie zu dem großen Fisch, der schon auf dem Palmblatt lag und darauf wartete, eingewickelt und weggetragen zu werden, rasch noch einen kleineren. Schon wechselten kupferne Racs und silberne Scheins ihre Besitzer.

Ein Klatschen riß Seffenaiu aus seinen Betrachtungen des einfachen Volkes und ließ ihn zu der gegenüberliegenden Seite der Gasse blicken, welche die Reihen der Marktstände trennte. Dort tätigte unter einem Sonnendach ein Buchhändler seine Geschäfte. Er hatte drei Lehrlinge dabei, ein Mädchen und zwei Jungen. Das Mädchen Führte das Buchbinden vor, während die Jungen in schönen Buchstaben ein Dokument in der lingua dei kopierten. Die beiden sahen sich so ähnlich, als wären sie mindestens Geschwister, vielleicht sogar unechte Zwillinge. Gegenwärtig unterschied die beiden nachhaltig, daß sich auf der Wange des einen ein Handabdruck abzeichnete.

Der Buchhändler erkannte in Seffenaiu sogleich seine natürliche Kundschaft und wies den Ritter auf einige angeblich in das Leder ungeborener Kälber gebundene Schmuckstücke hin, von denen er stolz behauptete, sie stammten aus Danakinga, jenseits des Meeres, und seien erst gestern mit dem Schiff geliefert worden. Seffenaiu hörte aus Höflichkeit den Ausführungen des Händlers zu und berührte die Einbände der angepriesenen Bücher. Sie fühlten sich überaus weich und zart an. Plötzlich erinnerte er sich an Beatarisa. Den ganzen Tag hatte er noch nicht an die Schöne im weißen Sarong gedacht, die ihn auf der Königsburg angesprochen hatte. Er hoffte, daß sie sich noch immer »entsetzlich« langweilte und nicht inzwischen einen anderen Erlöser gefunden hatte. Ohne eine Pause im Redefluß seines Gegenübers abzuwarten, unterbrach er den Buchhändler: »Führst du auch etwas Frivoleres?«

Der Mann stutzte nur kurz. Er ging zu einer in Samt eingeschlagenen Truhe, öffnete sie und ...

»Seht doch!« ertönte durchdringend die Stimme der Fischhändlerin. Sie deutete zum Himmel.

Zuerst dachte der Ritter, die Frau wolle auf den großen Geierschwarm hinweisen, der ungewohnt schnell über die Stadt flog und mit etwas Abstand einem einzelnen Leittier folgte. Dann erkannte er, was sie wirklich meinte: Der sattblaue Himmel wurde durch eine durchgehende weiße Linie in zwei Hälften geteilt!

Während sich Seffenaiu noch einen Reim auf den Anblick zu machen versuchte, sah er, daß sich immer mehr Arme hoben, um zum Himmel zu zeigen. Diese Bewegung breitete sich in solcher Gleichförmigkeit über den Platz aus, daß sich Seffenaiu an eine Pfütze erinnert fühlte, in die jemand gespuckt hatte: eine kleine Welle, die immer noch randwärts wanderte, ab sich – abermals vom Zentrum ausgehend – schon wieder die ersten Arme senkten. Am Ende blieb nur noch eines: Ein jeder dieser Tausenden von Menschen, die sich auf dem Markt aufhielten, starrte zum Himmel. Selbst der Bettler hatte sich staunend erhoben.

Unversehens blickte Seffenaiu in ein Augenpaar, in dem nacktes Entsetzen lag. Er benötigte nur einen Herzschlag, um das Mädchen zu erkennen. Sie war eine der Töchter des Schneiders. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie flink und sicher Stoffe zerteilt hatte. Im Nu begriff er, was sie am Himmel sah.

Er blickte hinauf zu der Linie aus unschuldigem Weiß, die den Himmel zerrissen hatte, und bewegte tonlos murmelnd die Lippen: »Der Teilung des Himmels folgt die Teilung der Welt! Sie trennt die, die verschont bleiben sollen, von jenen, für die es keine Zuflucht mehr geben wird.«

Das, was er seit Tagen mit Bangen erwartet hatte, hatte begonnen.

Urplötzlich erklang ein hundertfaches, verzücktes »Oh!«, als überraschend eine zweite weiße Linie auszumachen war. Sie überspannte nicht urplötzlich den gesamten Himmel – wie es ihre Vorgängerin vielleicht auch nicht getan hatte –, sondern wuchs langsam und gleichmäßig. Beinahe würdevoll wurde sie über das Firmament gezogen. Sie hatte noch längst nicht den Horizont erreicht, als eine dritte und vierte Spur entdeckt wurden. Auch dabei sollte es nicht bleiben. Rasch hatte die Zahl der unterschiedlich langen Striche das erste Dutzend überschritten. Dann trat ein neues, wundersames Ereignis ein: Eine der Linien teilte sich.

Auch Seffenaiu empfand den Anblick der ständig mehr werdenden, parallelen und sich schneidenden hellen Linien auf dem blauen Grund beeindruckend schön. Kein Wunder, daß niemand sich sorgte, sich fürchtete oder gar Verdacht schöpfte. Wer hätte auch ahnen können, daß der Weltuntergang als Erlebnis für Schöngeister begönne?

Seffenaiu überlief es heiß, als ihm einfiel, daß er noch seinen Trinkspruch an das Ende der Welt hatte ausbringen wollen. Ein Becher! Er brauchte umgehend ein Trinkgefäß! Am besten eins, das mit Wein gefüllt war. Doch etwas anderes täte es auch ... Ein Becher, die ganze Welt für einen Becher!

Er sah sich um, ohne etwas Brauchbares zu entdecken.

»Laßt mich vorbei«, fuhr er seinen Nachbarn an. Der nahm ihn jedoch erst nach mehreren Aufforderungen zur Kenntnis und war obendrein nicht allzu gewillt, dem Begehren nachzukommen. Als er es dann doch zu tun gedachte, mußte er feststellen, daß alle um ihn herum viel zu dicht standen und er niemanden vorbeilassen konnte. Achselzuckend blickte er wieder zum Himmel hinauf.

Seffenaiu wurde bewußt, wie eingekeilt er war. Anscheinend war er dazu verdammt, an diesem Fleckchen stehenzubleiben. Nicht einmal in seinem letzten Atemzug fände er Gelegenheit dazu, das zu tun, was er gestern auf einen vermeintlich geeignetere Zeit verschoben hatte. Die Sätze, die er für den Trinkspruch ersonnen hatte, schossen ihm durch den Kopf »Lebe wohl, Welt, die du lange vor uns da warst, für uns da warst, aber schon bald nicht mehr da sein wirst! Lebe wohl, Welt, mit deinen Bergen und Tälern, deinen Wäldern, Steppen und Mooren! Lebe wohl, mit deinen Flüssen und Seen, Meeren und Inseln. Lebe wohl, mit deinen Zillionen von Tieren und Pflanzen und auch uns, die wir dir hirnterherfolgen werden. Lebe wohl, Welt! Ich leere diesen Becher für dich. Und nun geh hin!«

»Schneller!« befahl eine Stimme. Sie gehörte dem Buchhändler, Buchbinder, Kopisten oder als was immer sich der Mann selber bezeichnen mochte. Er trieb seine Lehrlinge zur Eile an. Seffenaiu stellte sich auf die Zehenspitzen und verrenkte den Hals, um besser sehen zu können. Ihr Herr und Meister ließ die Jungen und das Mädchen den Himmel mit seinen zahllosen Linien abzeichnen! Wie ein Besessener stach der Mann mit dem Finger auf die Pergamente seiner Schüler ein und rief: »Keine Schnörkel! Da kreuzen sie sich. Da fehlt eine. Da! Da! Da!« Bald entriß er den Halbwüchsigen ihre Zeichnungen und schob ihnen leere Blätter hin.

Konnte es eine sinnlosere Tätigkeit geben? fragte sich Seffenaiu. Das Muster am Himmel änderte sich doch laufend! Wo sah der Verrückte den Nutzen? Plante er vielleicht, die Zeichnungen zum Gedenken an diesen Tag zu verkaufen?

Doch an welchem anderen Tag?

Mit einemmal rollte ein ohrenbetäubender Donner über die Stadt. In der Ferne, landeinwärts, wuchs eine düstergraue Staubwolke ungestüm zum Himmel. Tausende von Schreckensschreien erklangen gleichzeitig, und all die Menschen auf dem Platz setzten sich in Bewegung: Greise und Kinder, Flinke und Lahme, Kräftige und Schwache, Rücksichtslose und Zurückhaltende. Sie schoben und drängelten in jede Himmelsrichtung. Niemand hatte die Wahl stehenzubleiben. Bewegung war alles.

Seffenaiu sah einen Flüchtigen über die Körbe der Fischhändlerin stolpern und stürzen. Er stand nicht wieder auf. Im Gegenteil, ein zweiter erlitt das gleiche Schicksal, danach ein dritter. Das Sonnendach vom Stand des Buchhändlers schwankte und brach über ihm, den drei Lehrlingen und den noch feuchten Abbildern des Himmels zusammen. Dieses Schicksal erlitten binnen kurzem alle anderen Marktstände. Sie verschwanden wie die Büsche auf Flußinseln zur Regenzeit.

Im reißendsten Fluß zu schwimmen konnte kaum schwerer sein. Wenn Seffenaiu zu stürzen drohte, krallte er sich am Nächstbesten fest oder stützte sich auf ihn. Dafür wurde er geschlagen. Also handelte er im umgekehrten Fall ebenso.

Nur wenige Schritte entfernt entdeckte er das Schneidermädchen. Wie eine Ertrinkende streckte sie den Arm um Hilfe flehend aus der Menschenflut. Er hielt ihr seinen entgegen, reckte ihn, zähnefletschend, bis seine und ihre Finger sich endlich, endlich ineinander verhakten.

Für einen kurzen Augenblick nur.

Dann wurden er und das Mädchen wieder auseinandergerissen. Die Strömungen des menschlichen Mahlstroms sorgten dafür, daß er sie nicht wiederfand. Zum Zurückblicken blieb keine Zeit. Die Flüchtenden vor Thin, eine ganze Reihe, verschwanden urplötzlich aus seinem Blickfeld. Sie waren gestürzt und hatten andere mit sich gerissen.

Seffenaiu wußte, daß der Druck der Menschenmasse ihm nicht erlaubte, stehenzubleiben oder gar einem der Gestrauchelten auf die Füße zu helfen. Genauso wußte er, daß ihm keinerlei Zeit blieb, um sie herumzugehen. Also entschied er innerhalb eines Lidschlags über ihr Schicksal. Er trampelte über sie hinweg, wie Hunderte andere, die ihm auf den Fersen folgten.

Was für eine Art zu sterben!

Seffenaiu spürte noch oft den Widerstand harter und nachgiebiger Hindernisse unter seinen Füßen, den Boden, der sich unter seinen Tritten bewegte, der sich hob und senkte. Als versuchten die Gestrauchelten verzweifelt, sich wieder aufzurichten, oder als trachteten ihre rächenden Geister, jenen das Gleichgewicht zu rauben, denen sie ihr Los verdankten, damit auch sie hinabgezwungen würden in unwürdige Pein. Doch wer stürzte, der war binnen kurzem tot, und seine vermeintlichen Hilfeschreie verwandelten sich in Einbildung. Hunderte, die vor Seffenaiu über die zerquetschten Körper gerannt waren, hatten dafür gesorgt.

Endlich gelang es ihm, den Platz hinter sich zu lassen. In der schulterbreiten Gasse zwischen zwei Mietshäusern gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause.

Dutzende, vielleicht Hunderte waren auf dem Platz zu Tode gekommen. Ähnliche Tragödien hatten sich womöglich überall in der Stadt zugetragen. Sadi war kein Ort, an dem er sich länger aufhalten wollte!

Er eilte zu seiner Herberge am Hafen. Allerorten standen Menschen auf der Straße. Ihnen war nichts Schlimmes widerfahren, doch die Nachricht von dem Unglück, das sich auf dem Platz zugetragen hatte, war längst zu ihnen vorgedrungen. Neugier und Schrecken paarten sich, und sie waren begierig darauf, mehr zu erfahren. Doch auch sie sahen zum Himmel hinauf. Ein rascher Blick lehrte Seffenaiu, daß weitere Striche den Himmel vollschrieben. Die Schrecken waren längst noch nicht ausgestanden, und daher hatte er es um so eiliger, sein Pferd zu satteln. Das Tier war es gewohnt, seinen Herrn in Kampfgetümmel zu tragen, und so blieb es ruhig. Daß gerade die Welt unterging, schien es nicht zu ahnen.

Seffenaiu ritt zum nächsten Tor, wobei er in scharfem Ton jeden zur Seite trieb, der ihm im Weg stand. Er machte einen Bogen um Sadi herum, um auf die Straße zu gelangen, die ins Landesinnere führte. Nach einigen Meilen erspähte er einen älteren Mann, der auf dem Boden kniete. Beim Näherkommen erkannte Seffenaiu, daß dieser mit einem Stein Striche in die trockene Erde kratzte. Die Absicht hinter diesem sinnlos anmutenden Tun enthüllte sich ihm, als der Mann kurz zum Himmel aufsah und dann eine weitere Linie in die Erde ritzte. Er tat das gleiche, was der Buchhändler seine Lehrlinge hatte tun lassen!

Seffenaiu zügelte das Pferd und sprach den Mann an. Dieser sah erschrocken zu dem Reiter auf und antwortete mit belegter Stimme: »Ich schreibe sie ab.«

»Wen – ›sie‹?«

»Die Botschaft, Herr. Erkennt Ihr es nicht? Es ist eine Botschaft für uns, die an den Himmel geschrieben wurde.«

»Seltsam, ich kann sie nicht lesen«, verspottete ihn Seffenaiu.

»Mit Verlaub, Herr, es ist keine Schrift, wie wir sie kennen. Doch ich sorge dafür, daß sie später ein anderer wird lesen können, der schlauer ist als ich, was beileibe nicht schwer sein wird.«

»Eine Botschaft? Von wem sollte sie stammen?«

Der Alte blickte zu Boden, als er antwortete: »Sagt Ihr mir, wer den Himmel zu seiner Schreibtafel machen kann. Ich bin nur ein einfacher Mann. Beantwortet Eure Frage selbst.«

Grußlos ritt Seffenaiu weiter. Das beklemmende Gefühl, daß die Schrecken von Sadi noch nicht alles waren, was der Tag an Üblem bereithielt, wurde schier übermächtig.

Als Seffenaiu Stunden später die Straße verließ und den Weg zur Königsburg Pinapataui einschlug, konnte er sich nicht länger der Erkenntnis verschließen, daß er geradewegs auf das Herz der dunklen Wolke zuhielt. Unheilvoll hing sie über dem Weg. Sie wirkte nun nicht mehr ganz so dicht wie zu Anfang und dehnte sich weiter und weiter aus. Ein leichter Wind trieb sie gen Westen, zum Meer hin nach Sadi.

Seffenaiu ritt an entwurzelten Tulpenbäumen vorbei, die beidseitig der Straße zum Liegen gekommen waren. Die Urgewalt, die sie aus dem Erdreich gerissen hatte, hatte den Boden zu Schwellen aufgeworfen, die Pferd und Reiter einen Weg voller Windungen aufzwangen. Die Baumkronen zeigten allesamt in dieselbe Richtung, nämlich die, aus welcher der Ritter kam. Die Wurzeln wiesen zur Burg. Doch ihr vertrauter Umriß am Ende des Weges fehlte.

Als das Pferd wegen der staubgesättigten Luft unruhig wurde, ließ Seffenaiu es zurück, um den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Ein Tuch, das er sich um das Gesicht gewickelt hatte, ermöglichte ihm das Atmen. Je weiter er in die Wolke vorstieß, desto grauer wurde der Tag, so als wären schwere Gewitterwolken aufgezogen, welche die Sonne verhüllten, und als stünde ein Sturm bevor.

Dann schälten sich gezackte Mauerreste aus dem Grau.

Pinapataui, die Unbezwingbare, war so gründlich zerstört worden, daß an Überlebende nicht zu denken war. Teile der Burg waren in sich zusammengefallen, andere schienen von innen heraus zerborsten zu sein.

In einem Zustand dumpfer Betäubung schritt Seffenaiu am Rand des Trümmerfeldes entlang. Er wußte nicht, was er suchte, erkannte es aber, als er es sah: eine trichterförmige Vertiefung, rund hundert Schritt von der zerstörten Burg entfernt. Sie ähnelte den Kratern, welche die Geschosse mächtiger Katapulte hinterließen, war aber so groß, daß ein mehrstöckiges Haus hineingepaßt hätte. Gut dreißig Schritt war der Trichter weit bei einer Tiefe von zehn. Sein dunkelrot glühender Boden strahlte Hitze ab.

Eine Zeitlang starrte Seffenaiu wie durch die Augen eines Fremden in den Krater hinab. Er dachte nicht, empfand nicht, fühlte sich gänzlich unbeteiligt. Nach und nach verstand er, was er sah. Der Krater war nicht rund; seine Form gab Aufschluß über den Verlauf des Unglücks. Seffenaiu blickte zu der von Staubschleiern verhüllten Ruine. Das Geschoß mußte von Nordosten gekommen sein und hatte die Burg mit ihren mächtigen Mauern noch nicht einmal getroffen, sondern nur gestreift. Pinapataui mit seinen Hunderten von Leben war ihm lediglich im Weg gewesen.

In der Gewissheit, daß alle, die sich in der Burg aufgehalten hatten, zerrissen und in Staub verwandelt worden waren, lief Seffenaiu zu seinem Pferd zurück. Nun würde er das Geheimnis des Falkners nie erfahren. Dafür mußte er sich auch keine Gedanken mehr über das Entgelt von Stallburschen machen oder sich den Kopf über Frauen in weißen Sarongs oder über Gräfinnen zerbrechen.

»Ich bin kein Heiliger« murmelte Seffenaiu. »Aber vielleicht bin ich jetzt der einzige Adlige weit und breit?«

Später fiel ihm auf, daß am Himmel keine neuen Linien mehr geboren wurden. Die alten hatten sich verbreitert, krümmten sich und wurden Wolkenschleiern immer ähnlicher. Alles war vorbei.

Der Ritter lachte und hüpfte. Die Welt war geteilt worden. Adel und Gemeine hatten sich gleichermaßen auf der anderen Seite der Trennlinie wiedergefunden. Warum ihm die seine zugewiesen worden war, verstand er nicht. Es kümmerte ihn auch nicht. Er war mit dem Ergebnis äußerst zufrieden.

Das Traumbeben

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