Читать книгу Das Traumbeben - Karl-Heinz Witzko - Страница 13

Ein Kerkerwächter tritt seinen Dienst an

Оглавление

In der Umgehung der Gefängnisfestung Ivaova, am 18. und 19. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Schneller als erwartet dunkelte es. Mojeb sah seinen Verdacht bestätigt, daß es hei seinem Erwachen mindestens Mittag gewesen war und nicht Morgen, wie ihm das ungewöhnlich gedämpfte Licht vorgegaukelt hatte. Daher gelangte er an diesem Tag nicht mehr an sein Ziel.

Der hereinbrechende Abend beschenkte ihn mit einem Sonnenuntergang, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Ein Feuer hatte den Himmel entzündet. Er schwelte in unzähligen Schattierungen von Rot und Orange und glomm unter der grauen Asche von Wolkenschleiern. Das Licht des scheidenden Tages enthüllte ein himmlisches Gebirge, das von gewundenen Schluchten und tiefen Abgründen durchzogen wurde. Es verwandelte Wolkenbänke in gewaltige, glühende Bergketten. Doch je länger Mojeb die brennende Pracht betrachtete, desto unheimlicher wurde sie ihm. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft. Ihm war plötzlich, als diente die berauschende Schönheit nur dem Zweck, von etwas abgrundtief Bösem oder ungemein Gefährlichem abzulenken. Wie die zartgefärbte Blüte einer fleischfressenden Pflanze, die alles tat, um darüber hinwegzutäuschen, daß sie eine todbringende klebrige Falle verbarg.

Die Nacht, der sich der verendende Tag schließlich ergab, war dunkel wie lange nicht mehr. Unwillkürlich suchte Mojeb den Himmel ab. Er erblickte weder den unheilbringenden Stern noch irgendeinen anderen. Allein der Mond leuchtete. Doch er fand kaum Platz in der winzigen Lücke, die ihm die Wolken gelassen hatten. Immerhin war sie groß genug, daß sein gelbes Licht verraten konnte, in was sich das beeindruckende Himmelsgebirge mittlerweile verwandelte hatte: in grobe Stricke und Ketten, die sich blauschwarz gegen den noch dunkleren Hintergrund abhoben. Wie um den verräterischen Mond daran zu hindern, mehr auszuplaudern, schloß sich langsam das Fenster, das ihm gelassen worden war. Als sich eine schmale, spitze Wolke in die Lücke schob, fröstelte es Mojeb, denn der Mond erinnerte ihn nun an ein Auge, das voller Bosheit und Haß auf die Welt hinabsah.

Am nächsten Tag war Mojeb bereits vor Sonnenaufgang wieder auf den Beinen. Schuld daran war ein heftiges Unwetter, das ihn veranlaßte, schleunigst unter einer Palme Unterstand zu suchen. Diesen vermeintlich schützenden Ort gab er auf, als sich knapp neben ihm mit dumpfem Platschen die Frucht des Baumes – eine grünhäutige Kokosnuß – ins Erdreich bohrte. Um dem Schicksal keinen zweiten, besser gezielten Anschlag auf sein Leben zu erlauben, zog sich Mojeb den Federmantel über den Kopf und flüchtete zu einem mannshohen, nadelbewachsenen Gestrüpp.

Als das Gewitter abzog, war bereits Tag. Der Himmel war immer noch nicht klar, er sah sogar so aus, als könnte es jederzeit aufs neue zu regnen beginnen. Wie immer hatte der Federmantel gute Dienste geleistet – jedenfalls an den Stellen, wo er seinen Träger bedeckte, was nicht überall war. Unausgeschlafen, halb durchnäßt, die Hose unangenehm feucht an den Beinen klebend, fragte sich Mojeb, was aus den Morgen geworden war, als seine Tage noch zuversichtlich und heiter begonnen hatten.

Einer plötzlichen Neugier nachgebend, schritt er steifbeinig über abgerissene Wedel und Dutzende winziger Bäche zu der Panne, unter der er zuerst Schutz gesucht hatte. Dort steckte nicht nur eine schwere Nuß im Morast. Über zwanzig waren es inzwischen. Der Ort war eine Todesfalle gewesen!

Mit zusammengekniffenen Augen blickte Mojeb hoch zur gefiederten Krone. Als er dort keine weitere Nuß ausmachen konnte, öffnete er die Hose und pinkelte genüßlich gegen den Stamm der Palme. Auch wenn er nicht glaubte, sie könne von einem mißgünstigen Wesen bewohnt sein, so bereitete ihm die Tat eine kleine Befriedigung.

Nach diesem unbedeutenden Akt der Rache wandte er sich der Stelle zu, wo er ursprünglich genächtigt hatte und wo seine Habe nun gut durchweicht in einer Pfütze lag. Er hatte sich noch nicht weit von der Palme entfernt, als er hinter sich etwas aufklatschen hörte. Das Geräusch schien von einer weiteren Kokosnuß zu stammen, die ihm verborgen geblieben sein mußte. Mojeb drehte sich halb um und ließ den Blick von der Wurzel der Palme bis zu ihrer Krone wandern.

»Nun«, brummte er nachdenklich. »Nun.«

Mojeb erreichte die Küste nach gut vier Stunden Marsch. Er war einem Pfad gefolgt, von dem er sich eingeredet hatte, er müsse stracks zu der kleinen Festung führen. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Dabei war er sich die ganze Zeit über sicher gewesen, auf dem richtigen Weg zu sein!

Er spähte die Küste entlang, ohne die Burg oder sonst ein von Menschenhand errichtetes Bauwerk zu erblicken. Mojeb war ratlos, wohin er seine Schritte lenken solle. Angenommen, er ginge nach links und fände nach sechs Meilen heraus, daß die Feste noch immer nicht zu sehen war? Sechs Meilen hin, sechs Meilen wieder zurück – das ergab zwölf unnötig zurückgelegte Meilen. Vorausgesetzt, er beschlösse nach den ersten sechs Meilen nicht noch weitere sechs Meilen zu wandern, bis er sich ganz davon überzeugt hätte, daß die Küste womöglich auf beliebiger Länge völlig gleichartig aussah und keinerlei auffällige Landschaftsmerkmale aufwies.

Das galt natürlich auch für die andere Richtung: zwölf Meilen, so oder so. Mojeb überlegte, daß es hilfreich wäre, jemanden zu fragen. Wie er sich entsann, war er unterwegs an einem Gehöft vorbeigekommen. In der Annahme, auf dem richtigen Weg zu sein, hatte er es nicht für nötig befunden, sich Gewißheit zu verschaffen. Ein Gang zu dem Gehöft war bestimmt ein guter Gedanke. Er konnte nachholen, was er versäumt hatte, und Auskunft erlangen!

Immer vorausgesetzt, daß der Bauernhof nicht verlassen war. Dann wäre der Marsch vergebens.

Während er unschlüssig in die Richtung schaute, aus der er gekommen war, verhakte er unbewußt einen Daumen im Gürtel und begann mit der Ausbuchtung zu spielen, die er dort fühlte. Als er bemerkte, was er tat, öffnete er die versteckte Tasche auf der Innenseite seines Gürtels und entnahm ihr ein silbernes Medaillon. Ein kleiner Delphin war in den Deckel eingraviert. Vorsichtig öffnete Mojeb mit dem Daumen den Verschluß und strich noch vorsichtiger mit dem Zeigefinger der anderen Hand sanft über die etwas unebene Oberfläche des kleinen Gemäldes, das sich in dem Medaillon befand. Er dachte daran, wie er dazu gekommen war. Der Traum der vorletzten Nacht fiel ihm wieder ein. Träume, Schäume! Die Wirklichkeit hatte ganz anders ausgesehen. Der alte Mann hatte ihm nämlich gar nichts mehr erzählen können! Er war noch in der brennenden Stadt durch die Hand eines Spießländers umgekommen, der geglaubt hatte, der Alte solle Mojeb zu einem versteckten Schatz führen. Der Kerl hatte es als lustigen Streich angesehen, den vermeintlichen Führer mit einem raschen Schwerthieb ins Jenseits zu befördern. Schadenfroh lachend war er davongerannt, schlau genug, nicht darauf zu warten, daß ihm sein Ulk mit einem ähnlichen vergolten werde.

Mojeb klappte den Deckel zu und steckte das Medaillon wieder in die Gürteltasche.

Links, rechts oder wieder zurück? fragte er sich. Welchen Weg sollte er wählen?

Plötzlich stutzte er: Warum war er hier? Genauer gesagt, wieso hatte ihn der Weg hergeführt, wenn es hier gar nichts gab?

Wie Mojeb von seinem letzten Besuch der Gefängnisfeste noch wußte, fiel in der ganzen Gegend die Küste sehr steil zum Meer ab. Zwischen fünf und fünfzig Schritt ging es abwärts, oft lotrecht, manchmal hingen die Felsen sogar leicht über. An einigen Stellen der Küste war am Fuß der Steilwand ein schmaler Uferstreifen aus Geröll und Kies auszumachen gewesen. Eine Festung, die am Rand dieses langen Kliffs errichtet wurde, hatte von der Seeseite nichts zu befürchten. Wenn die Strömung nicht zu stark war, konnten sogar an dem Geröllstreifen Boote anlegen und unbehindert von etwaigen Belagerern Nachrichten hereinoder hinausgebracht werden.

Mojeb war von der schwer einnehmbaren Lage beeindruckt gewesen. Er erinnerte sich jedoch genau, daß die Frage, die ihn während seines kurzen Aufenthaltes am meisten beschäftigt hatte, nicht die gewesen war, wie man die Gefangenen am sichersten verwahrt hielte, sondern die, wie man sie trotz widriger Umstände am leichtesten befreien könnte. Obwohl er sich gescholten hatte, daß Überlegungen dieser Art nicht angemessen für einen künftigen Kerkerwächter seien, waren seine Gedanken immer wieder in diese Richtung abgedriftet.

Nun fragte er sich, warum der Weg bis zum Rand des Kliffs führte und genau dort endete. Dahinter gab es doch nichts. Oder etwa doch?

Behutsam folgte Mojeb dem Weg bis zu seinem jähen Ende.

Als er über die Bruchkante zum Wasser hinabblickte, verschlug es ihm die Sprache. Auf einer Strecke von fast einer halben Meile und einer Breite von mindestens fünfzig Schritt waren die anscheinend stark unterspülten Uferfelsen abgesackt und ins Meer gestürzt! Das Unglück konnte allenfalls .ein paar Tage her sein, denn unten, umspült von Wellen, entdeckte er die Trümmer der vermißten Burg. Das Gebäude hatte den Felssturz erstaunlich gut überstanden. Nur ein geringer Teil der Mauern hatte sich in einzelne Quader aufgelöst. Der überwiegende Teil wirkte wie zerbrochenes Spielzeug. Besonders hatte es Mojeb der kleine Turm angetan. Er war in ein Dutzend Segmente zerborsten, die fein säuberlich nebeneinander lagen, als warteten sie darauf, daß jemand Stück um Stück wieder aufeinandersetzte.

Mojeb ging die Bruchkante des Felsrutsches entlang, sehr genau darauf achtend, wohin er den Fuß setzte, da er nicht wußte, wie sicher der Untergrund war, und nicht vorhatte, durch einen unachtsamen Tritt eine weitere Rutschung auszulösen und sich dabei die Knochen zu brechen.

Immer wieder schüttelte er den Kopf über das, was er sah: Felsbrocken in jeder Form, einige größer als Häuser, andere so klein wie Schädel. Manche wiesen noch Reste von Bewuchs auf, doch nicht an der Oberseite, wie es sein sollte. Ihre neue Lage vermittelte den Eindruck, als wüchsen Büsche, Sträucher und Gras waagrecht ins Leere oder gar in den Untergrund hinein. Zwischen dem Geröll entdeckte Mojeb allenthalben Tang, Quallen, tote Fische und Vögel, die sich an ihnen labten. Die Kadaver lagen viel höher, als der Wasserspiegel hei Flut reichen konnte. Die Welle, die ihre lebende Fracht hier abgeladen hatte, war keine alltägliche gewesen.

Ein Sturm, dachte Mojeb. Ein gewaltiger Sturm. Eine wahre Sturmflut!

Er erforschte sein Gedächtnis. Außer dem Unwetter der letzten Nacht fiel ihm kein anderes in den vergangenen Tagen ein. Nicht, daß das etwas zu sagen gehabt hätte. Seine Erinnerungen waren lückenhaft, wie er feststellte. Doch selbst der Gewittersturm war nicht übermäßig schwer gewesen.

Dieses Rätsel würde er heute nicht mehr lösen, dachte er achselzuckend.

Auf dem Rückweg bemerkte er plötzlich, daß zu beiden Seiten des Wegs tote Fische lagen. Er war schon die ganze Zeit zwischen ihnen einhergegangen, ohne daß es ihm aufgefallen war. Verlegen kratzte er sich am Kopf. Solche Unachtsamkeit war sonst nicht seine Art.

Wieder bei seinem Ausgangsort angelangt, blickte er ratlos auf die Trümmer der Burg hinab. Ein befremdliches Gefühl bemächtigte sich seiner. Er kam sich sonderbar überflüssig vor. So etwas hatte er noch nicht erlebt: Er war bezahlt worden, hatte seinen Lohn bereits verpraßt, und jetzt, da er etwas dafür tun sollte und auch wollte, gab es nichts mehr zu tun. Gegen diesen Zustand hätte Mojeb nichts einzuwenden gehabt, sofern ihn jemand mit den Worten erwartet hätte: Geh, ich brauche dich nicht mehr! Alles ist beglichen.

Doch so verhielt es sich nicht. Niemand wartete hier. Nicht einmal den Ort gab es mehr, an dem er seiner Pflicht hätte nachkommen können. Was war ein Kerkerwächter ohne Kerker? Schlimmer noch: Was war ein Wächter, der überhaupt nichts zu bewachen hatte? Ein Nichts!

Irgend etwas stimmte mit der Welt nicht mehr. Sie war unverrichtet, dachte Mojeb und schaute zum Himmel auf. Irgendwo hinter der dicken Wolkendecke verbarg sich der neue Stern.

Eine Möwe kam angeflogen und setzte weit unten am Ufer, aber noch nicht an der Wasserlinie, zum Landen an. Dort tummelten sich schon andere Vögel, die über die Ankunft des Artgenossen nicht begeistert waren. Durch Hacken und Flügelschlagen wurden umgehend die Machtverhältnisse geklärt. Zwei grauweiße Vögel flatterten auf, ließen sich nach gerade drei Schritt wieder auf den Steinen nieder und watschelten zielstrebig zu dem Ort zurück, von dem sie soeben vertrieben worden waren.

»Dummes Gefieder«, brummte Mojeb. Das ganze Ufer lag voller toter Fische und hatte sich sozusagen in ein Vogelparadies verwandelt. Dennoch hatten diese Gierhälse nichts Besseres zu tun, als um ihr Futter zu zanken. Was gab es gerade dort, was sie woanders nicht gefunden hätten?

Mit einemmal fiel Mojeb eine Antwort ein. Wer immer zum Zeitpunkt des Unglücks in der Feste gewesen war, der war nun tot. Das beantwortete die Frage.

Er reckte den Hals, doch da er die Stelle, von der noch immer einzelne Vögel kurzfristig verscheucht wurden, nicht einsehen konnte, trat er einige Schritt zur Seite, bis der Blickwinkel günstiger wurde. Zweifellos, das Interesse der geflügelten Räuber galt einem länglichen Körper, der aber kein menschlicher zu sein schien.

Mojeb bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn zwischen die Vögel. Äußerst widerstrebend ließen sie von ihrer Beute ab. Sie flatterten unter Protestschreien auf, doch die ersten kehrten bereits wieder zu dem Körper zurück, während die letzten noch heuchelten, vertrieben worden zu sein. Der Körper war ein kleiner Wal. Ein Kalb vielleicht oder ein Delphin.

Mojeb stutzte, bückte sich rasch und warf einen zweiten Stein. Zwar galt er dieses Mal nicht den Vögeln, doch das konnten die kleinen Räuber nicht wissen. Nach ihrem Verständnis mußte etwas in die Welt eingedrungen sein, das ihnen mittels vom Himmel fallender Steine das Essen verleiden wollte!

Mojeb stieß überrascht die Luft aus. Erstaunlich, der Wal lebte noch! Schnelles Handeln war geboten!

Mit kundigem Auge suchte er nach einem Weg, uni zu dem Tier zu gelangen. Der Abstieg zwischen den Felstrümmern war zwar nicht leicht zu bewältigen, aber für einen einigermaßen gewandten Menschen auch nicht zu schwierig. Schnell legte Mojeb alles ab, was ihn behindern konnte. Einzig das Haumesser, das er den Plünderern abgenommen hatte, nahm er mit. Wußte ich doch, daß es noch nützlich sein würde, dachte er.

Während er freudig erregt hinabkletterte, schweiften seine Gedanken in die Zeit, als er für einige Monde zum Gefolge eines südländischen Prassers gehört hatte. Der Mann war ein Genießer ersten Ranges gewesen und hatte nichts dagegen gehabt, wenn sich seine Gefolgsleute von den »Brosamen« seines Tisches bedient hatten. Mojeb schnalzte bei der Erinnerung genüßlich mit der Zunge. Gut ein halbes Jahr lang hatte er sich fast ausschließlich von Schildkrötensuppe, Froschschenkeln, gestopfter Gänseleber, gefüllten Singvögeln und eben auch Walfleisch ernährt. Selbst die Hunde in diesem Haushalt hatten es gut gehabt. Sie waren täglich mit Thunfischschwänzen gefüttert worden.

Diese wunderbare Zeit hatte geendet, als ein Händler mit zwei Äffchen vorgesprochen hatte, die angeblich die letzten ihrer Art gewesen seien. Der hohe Herr hatte sie sogleich zum Dünsten gegeben. Leider war er während des folgenden Abendessens verschieden. Danach hatte es viel böses Blut gegeben. Denn jeder, der bei dem Mahl zugegen gewesen war, hatte bezeugen können, daß der gnädige Herr nicht mehr dazu gekommen war, die Äffchen zu verzehren. Dennoch waren sie hernach spurlos verschwunden gewesen. Mojeb hatte lange bedauert, nicht die Dreistigkeit dessen besessen zu haben, der die Äffchen entwendet hatte. Später war er einsichtig geworden. Was, wenn die weich gesottenen Bürschchen wirklich ein solcher Gaumenschmaus gewesen waren, wie es der Herr erhofft hatte? Wenn sie mühelos jede Lieblingsspeise in den Schatten gestellt hätten? Was dann? Bekanntlich waren sie die letzten beiden Exemplare ihrer Art gewesen.

An seinem Ziel angekommen, vertrieb Mojeb die Vögel mit raschen Bewegungen. Ihre gut drei Schritt lange Beute lag in einem flachen Becken, das von Felstrümmern gebildet worden war. Es war nicht tief genug, daß der kleine Wal darin hätte ertrinken können. Vermutlich hatte der Regen wesentlich dazu beigetragen, ihn am Leben zu halten. Unübersehbar war das nicht gerade das beste, was dem Tier hatte zustoßen können. Es starb langsam und unter Qualen. Seine graue Haut wies Dutzende von Wunden auf, die ihm Vogelschnäbel zugefügt hatten.

»Es ist bald vorbei«, sagte Mojeb beruhigend. Er zögerte jedoch, das Versprechen einzulösen. Bisher hatte er sich keine Gedanken gemacht, wie er das Tier töten solle. Doch jetzt, da er eine Entscheidung zu treffen hatte, zogen vor seinem inneren Auge Bilder vorbei, die zu einem schrecklichen Gemetzel aufforderten. Einem Wal konnte man schließlich nicht den Kopf abhacken wie einem Huhn.

Urplötzlich erinnerte er sich eines ehemaligen Kampfgefährten, an den er seit Jahren aus gutem Grund nicht mehr gedacht hatte. Der Mann hatte einige sonderbare Angewohnheiten gehabt. Eine war gewesen, völlig unerwartet von Dingen zu erzählen, die er irgendwo aufgeschnappt hatte und die nicht im entferntesten etwas mit dem laufenden Gespräch oder dem gegebenen Anlaß zu tun hatten.

Genauso hatte er es damals vor den Mauern von Drusasz gehalten. »Wie tötet man einen Wal?« hatte er aus heiterem Himmel gefragt.

»Flossen abhacken«, hatte jemand vorgeschlagen.

»Warum?«

»Weiß nicht.«

»Nein, nein«, war der Antwortende belehrt worden. »Einen Wal tötet man, indem man ihm seitlich hinter dem Blasloch in den Rücken sticht. Dort laufen nämlich mehrere große Adern zusammen. Wenn man gut trifft, so ist die Wunde tödlich. Verfehlt man sein Ziel, dann glaubt der Wal, man wolle mit ihm spielen. Also Blasloch! Immer hinter dem Blasbloch. Leicht zu verfehlen, deshalb ist das Meer mit zahllosen Walen bevölkert, denen die Lanzenreste aus den Rücken ragen wie Igeln ihre Stacheln.«

»Gilt das bei allen Walen, großen wie kleinen?« hatte Mojeb damals wissen wollen. Die Antwort hatte er nicht mehr erhalten, da seine Frage von einem Hornsignal übertönt worden war. Es hatte ihn und etwa viertausend andere Belagerer der Stadt veranlaßt, mit Sturmleitern gegen Mauern anzurennen, von denen sie mit Steinen und Unrat beworfen und mit kochenden Flüssigkeiten überschüttet worden waren. An diesem anstrengenden Tag hatte er eine weitere Eigenart seines Mitstreiters kennengelernt, nämlich eine beunruhigende Begeisterung für abgeschnittene Hände.

Das hätte ihm früher einfallen sollen, dachte Mojeb und blickte auf das mangels Spitze ungeeignete Haumesser. Er legte es auf den Boden. Später würde es noch nützlich sein, aber nicht jetzt. Behend kletterte er den geborstenen Fels hinauf, um das Schwert zu holen. Beim erneuten Abstieg sprangen Steine polternd vor ihm her. Mojeb mahnte sich zur Vorsicht. Welch ein Spott des Schicksals, wenn er sich die Knochen bräche und seine letzten Stunden neben dem sterbenden Wal verbringen müßte!

Er verharrte mitten in der Bewegung. Ihm war, als hätte er ein Geräusch vernommen, das nicht zu den üblichen gehörte. Doch so sehr er lauschte, so wenig konnte er etwas Fremdes ausmachen. Es mußte Einbildung gewesen sein! Mit Bedacht setzte er den Abstieg fort.

Die Vögel hatten sich wieder bei dem Wal eingefunden. Mojeb vertrieb sie wie zuvor. Er griff sein Schwert mit beiden Händen, zielte – und senkte die Waffe. Die Stelle, in die er den Stahl treiben wollte, sollte angeblich gut durchblutet sein. Wo viel floß, da spritzte allerdings auch viel! Wenn er nicht aufpaßte, so würde er von oben bis unten besudelt werden und für den Rest des Tages der Liebling jeder Schmeißfliege weit und breit sein!

Er prüfte die umliegenden Steine darauf, wie fest sie miteinander verkeilt waren und ob er auf ihnen schnell genug entkäme. Dann biß er die Zähne zusammen und trieb das Schwert mit aller Kraft in den Leib seines Opfers. Zwei schnelle Schritte brachten ihn außer Reichweite der Blutfontäne, die umgehend aus dem Blasloch des Tieres schoß.

Der Wal war nicht gleich tot. Im Gegenteil! Obwohl er die ganze Zeit über matt und hilflos erschienen war, klammerte er sich in seinen letzten Augenblicken mit aller Gewalt an das Leben. Er peitschte mit der Schwanzflosse und stieß Laute aus, die sich auf unheimliche Weise menschlich anhörten. Augenblick um Augenblick ging vorüber, ohne daß die Schreie ein Ende nehmen wollten. Schließlich verließ Mojeb seinen geschützten Platz. Er riß das Schwert aus Tier und stieß es ihm wieder und wieder in den Leib, bis es verstummte.

Völlig außer Atem geraten, blickte Mojeb auf seine blutverschmierten Hände und Unterarme und seine befleckte Kleidung. Düster fragte er sich, wozu er irgend etwas geplant hatte, wenn dann alles so verlief, als entstammte es einer Geschichte, die schon einmal erzählt worden war.

Er kletterte das letzte Stück bis zum Wasser hinab, hockte sich auf ein Mauerstück, das zur Burg gehört hatte, und säuberte sich und seine Kleider. Während er den Stoff scheuerte, überlegte er, ob er nicht lieber unbekleidet bleiben solle. Der Wal wollte schließlich noch zerlegt werden, und hei dem Glück, das er heute hatte, war es ihm zweifellos vorbestimmt, diesen Ort noch einmal aufsuchen zu müssen!

Also klemmte er sein Gewand unter den Arm und kletterte wieder zu seiner Beute hinauf. Seine Befürchtung bestätigte sich umgehend. Er glitt aus und schlitterte wieder zum Wasser hinab. Sein aufgeschrammtes Schienbein schmerzte, als er sich erhob und wütend brüllte: »Furzig!«

Geraume Zeit kamen nur noch Schimpfwörter und Flüche aus seinem Mund, die unheiligsten, die diese Küste seit Menschengedenken gehört hatte! Als die Felsbrocken es gründlich leid waren, beleidigt zu werden, antworteten sie.

»Hilfe!«

Mojeb verstummte und lauschte. Hatte er etwa gerade eine Stimme gehört? Wachsam sah er sich um. Außer Felsen, zersplitterten Baumstämmen, entwurzelten Büschen und Mauerresten entdeckte er nichts.

Schon erklang der Ruf erneut, dieses Mal sogar mehrstimmig: »Hilfe! Hilfe!«

Wachsam um sich blickend, schlüpfte Mojeb in seine tropfnasse Kleidung. Ihn trieb weniger Schamgefühl als der Gedanke, daß nicht jeder, der um Hilfe rief, auch welche benötigte. Ganz bestimmt wollte er keine Gewohnheit daraus machen, den Strolchen Ikarillas nackt gegenüberzutreten.

Während er sich anzog, hallten die Hilferufe unablässig drängend weiter.

»Ist ja schon gut«, brüllte Mojeb ungeduldig. »Ich komme doch gleich!«

Für einen kurzen Augenblick herrschte Ruhe, dann wurde das Geschrei wieder aufgenommen.

»Wo seid ihr denn?« rief er, als er bereit war. Die immergleichen Hilferufe waren die einzige Antwort, die er erhielt. Mojeb verdrehte die Augen. Was fair Narren! Sie schrien so laut, daß sie ihn nicht hören konnten.

Er formte die Hände vor dem Mund zum Trichter und brüllte: »Ruhe, ihr Toren! Wo seid ihr?«

Wegen des unverständlichen Stimmengewirrs, das ihm antwortete, fügte er kurz darauf hinzu: »Nur einer! Nicht alle auf einmal! Nur einer von euch!«

»Wir sind hier!« meldete sich nun eine einzelne, wohlklingende Männerstimme.

»Wo hier?« erwiderte Mojeb.

»Ziemlich dicht beim Wasser. Aber wir können nicht genau sehen, wo wir sind. Durch den Lichtschlitz erblickt man nur den Himmel, nichts anderes ... Ich vergaß zu erwähnen, daß wir verschüttet sind.«

»Woher wißt ihr dann, daß ihr beim Wasser seid?« gab Mojeb spitzfindig zurück.

Die Antwort klang wie eine Folge von Fragen: »Es kommt rein ... Vor allein bei Flut ... Wenn du dich sputen könntest?«

»Ich komme«, versprach Mojeb. »Ich werde mich nach deiner Stimme orientieren.«

»Wir können auch alle zusammen rufen«, wurde ihm vorgeschlagen.

»Nein, nur du allein!«

»Warum? Du hörst uns doch besser, wenn wir alle ...«

»Weil ich es so will!« sagte Mojeb entschieden.

Eine Zeitlang ließ er sich von einförmigen Hilferufen leiten. Plötzlich kam ihm etwas in den Sinn, das ihn verharren ließ.

»Du!« rief er.

»Ja?«

»Ihr wart doch in der Burg, als das Unglück geschah?«

»Ja!«

»Weswegen?«

Die Antwort kam nicht gleich. Sie ließ so ungewöhnlich lange auf sich warten, daß Mojeb keine Zweifel hatte, was bei den Verschütteten vor sich ging: Sie berieten sich. Schließlich antwortete eine Frauenstimme: »Wir sind Gesinde.«

»Gesinde«, murmelte Mojeb halblaut beim Klettern. »Gesindel-Gesinde wohl eher. Oder noch besser Gimpel-Gesindel. Wofür halten die mich?«

Weitere Hilferufe führten ihn zu einem in sich verdrehten Bereich der Burgruine. Die Stimmen kamen aus einem Gebäudeteil, dessen Außenwand nach dem Felsrutsch zur Decke geworden war. Mojeb entdeckte eine Tür. Schutt lag darauf, der es denen, die sich auf ihrer anderen Seite befanden, selbst dann noch unmöglich gemacht hätte herauszukommen, wenn sie nicht verriegelt gewesen wäre. Aber das war sie zweifellos, auch wenn das Schloß nicht zu sehen war. Die schmale Lichtöffnung, die zusätzlich durch eine eingemauerte Eisenstange unterteilt wurde, damit sich auch ganz bestimmt niemand hindurchzwängen konnte, sagte alles.

»Bist du hier?« tönte es aus dem Fensterschlitz.

»Ja«, bestätigte Mojeb.

Sofort meldeten sich sämtliche Zelleninsassen zu Wort: Laß uns raus! Gib uns zu essen! Hast du Wasser? Mach schnell!

Eine Stimme hob sich von den anderen ab. Sie war nicht nur außergewöhnlich tief, sondern unterschied sich auch dadurch, daß sie gänzlich unbeeindruckt vom übrigen aufgeregten Geschrei langsam und sorgfältig betonend die Wünsche ihres Besitzers vortrug: »Siehst du die Tür? Sie ist vermutlich verschüttet. Du kannst sie nicht öffnen. Du mußt erst den Schutt wegräumen.« Allzu viel Zutrauen in die Geistesgaben des mutmaßlichen Retters schien der Sprecher nicht zu haben.

Mojeb wartete, bis das Geschrei abebbte. Dann rief er seinerseits laut: »Ihr seid überhaupt kein Gesinde. Ihr seid nämlich Häftlinge!«

Umgehend schwoll der Lärm wieder an. Mojeb wartete vergeblich darauf, daß jemand auf seinen Vorwurf einging. Statt dessen erklangen die bekannten Forderungen: Hol uns raus! Gib uns zu trinken und zu essen, flink, flink!

Dazwischen brummelte jemand: »Tritt nicht auf die Tür, wenn du die Steine wegräumst. Vielleicht ist sie beschädigt und gibt nach. Dann fällst du zu uns herunter.«

In dem Glauben, nicht gehört worden zu sein, wiederholte Mojeb seine Anklage. Als sich immer noch niemand geneigt zeigte, etwas dazu zu sagen, setzte er sich auf einen Mauerrest und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz des bewölkten Himmels hatte er den Eindruck, als wäre es im Vergleich zu den Vortagen wärmer geworden. Halblaut und eher zu sich selbst sprach er: »Ich kann euch nicht herauslassen. Ich bin schließlich Kerkerwächter.«

Wie durch ein Wunder wurde es urplötzlich still.

»Du lügst!« behauptete die Frauenstimme.

»Ich lüge nicht«, versicherte Mojeb verwundert. »Wieso sollte ich auch?«

»Wir kennen deine Stimme nicht. Also lügst du.«

»Daß sie euch unbekannt ist, ist nicht erstaunlich, da ich heute zum ersten Mal in dieser ...« Er blickte über das Trümmerfeld und räusperte sich: »Ich wurde erst vor ein paar Tagen angeworben.«

»Du lügst schon wieder. Hier gibt es seit Tagen niemanden mehr außer uns.«

Mojebs Verwunderung nahm zu: »Niemanden? Keine Wachen? Auch nicht den Burgherrn Kainanu?«

»Niemanden«, bekräftigte die Frau. »Keine Wachen, kein Burgherr. Abgesehen davon, daß wir gar keine Wachen benötigen. Wir sind nur Gesinde. »

»Wie lange soll das angeblich schon so sein?« fragte Mojeb unbeeindruckt. »Wie viele Tage?«

Die Frau überlegte kurz. »Sechs Tage.«

Nun kam er ins Grübeln. Wenn er mit den Tagen nicht völlig durcheinander gekommen war– was nicht auszuschließen war–, so war die Burg am selben Tag, als er hier vorgesprochen hatte, verlassen worden. Zu merkwürdig!

»Wer gab euch solange zu trinken und zu essen?« fragte er argwöhnisch.

»Niemand. Hast du etwas zu essen für uns?«

»Und etwas zu trinken?« verlangte eine andere Stimme. Mojeb ließ sich nicht ablenken. »Ihr wollt mir weismachen, seit einer Woche nichts mehr getrunken zu haben?«

»Unfug«, widersprach die Frau. »Darm wären wir verdurstet. In der Wand ist eine kleine Öffnung, zu der das Regenwasser hereinkommt. Es fließt durch eine Rinne in ein Becken.«

»Das Becken ist älter als die Burg«, behauptete der Baß. »Es ist noch nie geputzt worden. Du darfst nicht im Wasser rühren. Sonst kannst du stundenlang nicht trinken. Aber jetzt geht das sowieso nicht mehr.«

»Wieso?« gab Mojeb geistesabwesend zurück. Ein leichter Schauder hatte ihn bei der Vorstellung ergriffen, aus einem seit Jahrhunderten mit zweifelhaften Ablagerungen gefüllten Wasserbecken trinken zu sollen.

Der Baß schien offenbar gewillt, jede erdenkliche Frage gewissenhaft zu beantworten. »Das Gebäude liegt jetzt auf der Seite. Das Becken liegt auch auf der Seite. Der Regen kommt noch immer durch das Fenster. Aber jetzt von oben. Deshalb mußt du aufpassen, wenn du den Schutt vor der Tür wegräumst. Er fällt jetzt nach unten.«

»Meine Aufgabe ist es nicht, euch zu befreien«, erklärte Mojeb betont langsam. »Meine Aufgabe ist es, euch daran zu hindern, den Kerker zu verlassen. Ich bin Kerkerwächter. Ich bewache den Kerker. Daher die Bezeichnung. Ich lasse folglich niemanden heraus.«

»Schön und gut«, ertönte nun die wohlklingende Stimme, die Mojeb den Weg gewiesen hatte. »Aber da draußen liegt doch sicher alles in Trümmern, oder? Du bist allein. Wer soll dich bezahlen?«

Mojeb klatschte lachend in die Hände und verkündete triumphierend: »Ich wurde bereits bezahlt!« Er verstummte und schüttelte den Kopf. Hatte er sich denn ganz den Verstand weggesoffen? Die Begeisterung darüber, schon alles bekommen und nun nichts mehr zu erwarten zu haben, war völlig unangebracht.

»Für wie lange?« fragte die Männerstimme weiter.

»Wie lange was?«

»Für wie lange wurdest du bezahlt, um uns zu bewachen?«

»Zwei Monde«, gab Mojeb zurück. »Nicht daß dich das etwas anginge.«

»Zwei Monde? Kommt denn jemand, um dir beizustehen?«

»Wieso?«

»Weil du uns Essen und Wasser bringen mußt. Jeden Tag. Zwei Monde lang.«

»Du gehst am besten fischen«, mischte sich der Baß ein. »Dazu brauchst du eine Angel. Weißt du, woher du eine Angel bekommst? Du mußt eine anfertigen. Dazu suchst du ...«

»Sei still«, schnitt ihm Mojeb barsch das Wort ab. »Ich muß nachdenken:«

»Und in zwei Monden wirst du uns dann doch freilassen«, sprach der erste Mann ungestört weiter.

»Wieso?« gab Mojeb ungehalten zurück. »Bis dahin wird jemand vorbeigekommen sein. Oder ich gehe einfach fort.«

»Du wirst uns doch nicht verhungern lassen wollen?« fragte die Frauenstimme empört.

»Besser, als euch freizulassen. Wer weiß, was ihr verbrochen habt. Vielleicht seid ihr allesamt Mordgesindel. Wenn ich euch befreie, dann bringt ihr womöglich zuerst mich uni und anschließend jeden, der euch über den Weg läuft.«

»Das ist unvernünftig. Wenn das stimmte, dann wären wir längst hingerichtet worden«, widersprach der Mann. »Und das wurden wir nicht, eben weil wir nichts Schlimmes taten.«

»Für nichts Schlimmes wird man nicht in ein Verlies gesperrt. Für nichts Schlimmes bekommt man den Stock zu spüren oder zahlt eine Strafe. Vielleicht arbeitet man sie auch ab. Aber man wird nicht eingesperrt«, höhnte Mojeb.

»Wir sollten auch nicht lange eingesperrt werden« erklärte die Frauenstimme. »Nur so lange, daß es uns und anderen eine Lehre sei. Wir sollten längst wieder frei sein.«

»Vermutlich seit einer Woche«, brummte ihr Bewacher gallig. »Sag, Frau, höre ich mich für dich wie ein leichtgläubiger Einfaltspinsel an?«

»Nein, nur so, als wärst du nicht von hier. Woher kommst du?«

Mojeb überging die Frage. »Also gut, ich habe es mir überlegt. Wenn ihr mich von eurer angeblichen Harmlosigkeit überzeugen könnt, werde ich euch rausholen. Wohlgemerkt, ich werde euch nicht freilassen, sondern euch statt dessen irgendwohin bringen, wo man sich um euch kümmern wird. Sag also die Wahrheit, Frau: Weswegen wurdest du in den Kerker geworfen?«

Er mußte lange warten, bis ihm die auffällig leise gewordene Stimme antwortete: »Hmpf-Pmpf.«

»Was sagst du?« rief Mojeb, der nicht glaubte, daß das, was er aus dem Nuscheln herausgehört hatte, der Wahrheit entspräche. »Wieso plötzlich so leise? Die ganze Zeit über konnte es nicht laut genug sein, und jetzt, da es gilt, sich zu bekennen, wird geflüstert!«

»Hochverrat«, wiederholte die Frau zaghaft.

Mojeb wußte, was man unter dem Wort verstand, nämlich wenn sich Adlige zusammenschlossen, um ihren Herrscher zu stürzen, aber keinen Erfolg bei ihrer Unternehmung hatten. Waren sie hingegen erfolgreich, so sprach man nicht von Hochverrat, sondern von längst überfälligem Vorgehen und gelegentlich vorn Beginn einer neuen Dynastie. Er hatte mit beiden Bekanntschaft gemacht, mit Hochverrätern und mit neuen Herrschern.

Nun beugte er sich weit vor, um einen Blick durch die vergittere Lichtöffnung werfen zu können. In der Zelle war es jedoch zu dunkel, als daß er jemanden hätte erkennen können.

»Und ihr anderen?«

»Wir alle.«

»Dann habe ich es wohl mit lauter hohen Herrschaften zu tun«, spöttelte er. »Du mit der tiefen Stimme, wovon lebst du, wenn du nicht gerade stiehlst?«

»Ich stehle nicht«, antwortete der Baß gekränkt. »Ich bin ein ehrlicher Tagelöhner. Ich kenne mich aus. Wenn du eine Anstellung suchst, dann halte dich einfach an mich. Wir könnten ...«

»Kein Bedarf derzeit«, sagte Mojeb rasch. »Also Hochverräter seid ihr. Wie sagtest du noch mal? Ihr solltet gerade solange eingesperrt werden, daß es euch und anderen eine Lehre sei, keinen Hochverrat mehr zu begehen? Vernünftig, sehr vernünftig. Nicht auszudenken, wenn das um sich griffe und alle anderen Habenichtse und Tagelöhner Ikarillas beschlössen, Hochverräter zu werden! Am Ende würden sie noch an den Feind weitergeben, wie man dicke Kürbisse pflückt ... Ihr erinnert euch noch an unsere Abmachung? An den Teil, der mit die Wahrheit sagen zu tun hatte?«

»Du hast gefragt, und ich habe ehrlich geantwortet«, verteidigte sich die Frau. »Aber weil dir die Antwort nicht paßt, behauptest du, daß ich lüge. Woher willst du das wissen?«

»Ich kann es nicht wissen«, seufzte Mojeb..»Trotzdem glaube ich es nicht. Wenigstens seid ihr einfallsreich beim Lügen. Ich werde euch rausholen. Versprochen! Wie viele seid ihr?«

»Fünf! Sechs!« war gleichzeitig zu hören.

»Wie viele jetzt: fünf oder sechs?«

»Wir waren sechs«, erklärte die Frau. »Doch nun sind wir nur noch fünf. Einer ist vor zwei Tagen gestorben.«

Mojeb runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Satt dessen warf er einen genaueren Blick auf die Tür. Sie würde ihm noch einiges an Kopfzerbrechen bereiten. Nicht wegen des Schutts, der auf ihr lag, sondern wegen des größeren Mauerrestes, unter dem ein Teil der Türöffnung begraben war und der sich durch Muskelkraft allein nicht wegbewegen ließe. Zumindest ein Seilzug wäre hierfür nötig, wenn möglich noch einige Helfer. Zum Glück ging die Tür nach innen auf. Mojeb hoffte, daß die Steine nicht so ungünstig verkeilt waren, daß er nicht an das Schloß herankäme. In dem Fall wäre eine Axt nötig, uni die Tür einzuschlagen. Doch woher sollte er die nehmen?

Er räumte die Steine weg. »Wie konnte das überhaupt geschehen?« fragte er nach einer Weile.

Die Männerstimme erklärte es ihm. »Viel wissen wir nicht dazu zu sagen. Es krachte plötzlich furchtbar, und alles setzte sich in Bewegung. Das war’s schon.«

»Nachts? Tags?«

»Vormittags, vorgestern Vormittag.«

»Da war doch sicher gerade ein Unwetter im Gange? Ein schwerer Sturm. Saht ihr besonders große Wellen?«

»Nein, du täuscht dich. Eben war noch blauer Himmel, dann brach es über uns herein mit Wumm und Hallo! Ohrenbetäubend, wortwörtlich! Doch halt, ich habe gar nicht erwähnt, daß urplötzlich eine ganze Menge Wasser in unsere Zelle schwappte. Sie war halbvoll. Wir hätten ertrinken können! Aber kein Sturm, keine Wellen. Dafür Lärm! Das meiste Wasser lief zum Glück rasch wieder ab. Ich weiß jedoch nicht, wann es hereinkam, ob bevor oder nachdem alles ins Rutschen geriet. Das ging so schnell, fast gleichzeitig ... Davor meinst du? Ich glaube eher, es war danach.« Offenbar unterhielt er sich mit einem der anderen Häftlinge.

»Wart ihr die einzigen Gefangenen?« brachte sich Mojeb wieder in Erinnerung

»Wissen wir nicht«, wurde ihm geantwortet. »Wir haben gerufen, als niemand mehr zu uns kam Einmal glaubten wir, eine Antwort zu hören. Doch dann war da nichts mehr. Mag sein, daß alle anderen weggebracht wurden, während man uns vergaß. Oder sie konnten sich vielleicht befreien. Die Mauern sind sehr dick. Du hast uns auch nicht gleich gehört. Warum fragst du?«

Mojeb gab dem Mann keine Antwort. Daß die Häftlinge überlebt hatten, war Wunder genug. Wenn es anfänglich noch andere Gefangene gegeben haben sollte, so war es nicht erstaunlich, wenn sie seither keine Rufe mehr beantwortet hatten.

Mittlerweile hatte er seine Arbeit beendet. Zwei Drittel der Tür lagen frei, während das letzte Drittel von der Mauer blockiert wurde. Das Geröll, das zwischen ihr und dem Türblatt lag, ließ sich nicht entfernen. Allerdings war es nicht so fest eingeklemmt, daß es sich nicht hätte bewegen lassen. Das war beruhigend, da es darauf hoffen ließ, daß die Mauer ihre Lage nicht verändern würde, wenn das Geröll oder die Türe nicht mehr vorhanden wären. Mojeb suchte sich unter den soeben weggeräumten Steinen einen aus, der gut sechzig Pfund wiegen mochte. Er nahm ihn mit beiden Händen auf und kletterte auf das Mauerstück.

»Steht gerade jemand unter der Tür?« fragte er.

»Wieso?« schallte es aus dem Lichtschlitz.

Statt einer Antwort warf Mojeb mit boshaftem Grinsen den Stein auf das Türschloß. Wie erwartet gab es nicht beim ersten Mal nach. Doch aus der Zelle drang umgehend angstvolles Kreischen. »Beim heiligen Tomu, was treibst du?«

Mojeb sprang von der Mauer und hob den Steinbrocken auf. Erst als er wieder oben mit ihm auf der Mauer stand, beantwortete er die Frage: »Was werde ich wohl tun? Ich öffne eine Tür, zu der ich keinen Schlüssel habe.« Beim letzten Wort warf er den Stein abermals.

Erneut waren Schreckensrufe zu hören. »Du wirst uns noch alle umbringen.«

»Nur wenn sich einer gegen meinen ausdrücklichen Rat unter der Tür aufhält. Leider ist sie sehr stabil. Es wird etwas dauern, sie aufzubekommen.«

Mit dieser Einschätzung hatte er recht. Geraume Zeit verstrich, bis die Zellentür nachgab und sich ein Regen aus Erde und Schutt nach unten ergoß.

Nachdem die Eingeschlossenen lange genug das Dröhnen des aufprallenden Steins ertragen hatten, hatten sie es eilig, ins Freie zu gelangen. Mojeb erlaubte es ihnen nicht sofort, sondern bestand darauf, daß zuerst der Leichnam herausgeschafft werde.

»Der hat’s gewiß am wenigsten eilig«, beschwerte sich die Frau.

»Entweder so oder gar nicht«, beharrte Mojeb ernst.

Unter Schimpfen wurde der Tote aus der Türöffnung geschoben. Mojeb griff den Leichnam unter die Arme und zog ihn heraus. Der Verstorbene war ein Greis. Die Totenstarre hatte bereits begonnen sich zu lösen, so daß Kopf- und Schulterregion wieder beweglich waren. Bevor Mojeb zuließ, daß dem Toten ein Lebender folgte, untersuchte er den Körper. Vorsicht war besser als spätere Reue, und bislang hatte er nur das Wort einiger Häftlinge, daß ihr Mitgefangener eines natürlichen Todes gestorben sei.

Mojeb begnügte sich mit einer oberflächlichen Suche nach Stichwunden, ohne welche zu entdecken. Damit hatte er auch nicht ernsthaft gerechnet. In Kerkern starb man anders. Man wurde erdrosselt oder erschlagen. Doch der kräftige Hals des Alten wies keine verräterischen Verfärbungen auf, und auch der Schädel offenbarte den tastenden Fingern keine nachgiebigen Stellen. Zumindest sprach nichts offensichtlich gegen die Behauptung der Gefangenen. Zwar konnte sich Mojeb nicht sicher sein, daß er nicht höchst gefährliche Häftlinge befreite, doch wann hatte man je völlige Gewißheit, daß etwas genau so war, wie es zu sein schien?

Vorsichtshalber kletterte er den Hang ein Stück hinauf, bis er zwei Mannlängen über der aufgebrochenen Zellentür stand. Dann erst forderte er die Gefangenen auf, ins Freie zu klettern: »Heraus, wer ein Hochverräter und Tagelöhner ist!«

Der erste Gefangene, der sich aus der Öffnung stemmte, war etwa in Mojebs Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Durch wenige Worte gab er sich als Besitzer der wohltönenden Stimme zu erkennen. Mojeb war äußerst überrascht. Auch wenn er keine feste Vorstellung von dem Mann gehabt hatte, dessen Stimme er zu der Kerkerzelle gefolgt war, so hatte er eine eher stattliche Erscheinung erwartet – jemanden, der von jedem Theatro mit Kußhand genommen worden wäre, aber keineswegs einen Hänfling, der nicht mal anderthalb Schritt groß war. Deshalb rief er, ohne nachzudenken, fröhlich aus: »Du bist wohl eher ein Halbtagslöhner!«

Der kleine Mann konnte Mojebs Erheiterung wenig abgewinnen und bedachte ihn mit finsteren Blicken, die nach einiger Zeit auch dem Verursacher seiner Verärgerung auffielen. Mojeb hörte zu lachen auf und erklärte: »Das war nicht böse gemeint, Bürschchen. Ich freue mich nur darüber, endlich jemanden getroffen zu haben, der nicht größer ist als ich. Auf die Dauer kommt man sich ja wie ein Wichtel vor.«

Die Worte versöhnten den Gefangenen keineswegs. Er schien weder die Erklärung zu schätzen noch, daß er als Bürschchen und Wichtel bezeichnet wurde. Da Mojeb selbst erkannte, daß seine Wortwahl unglücklich gewesen war, setzte er zu einer Entschuldigung an: »Ich habe schon kleinere als dich gesehen. Menschen sind schließlich sehr verschieden: Es gibt stattliche und winz ... nicht ganz so stattliche, beleibte und kurze, hübsche und gänzlich unscheinbare ...«

Mojeb kam sich vor, als handelte er unter dem Einfluß eines bösen Fluchs. Kurzerhand brach er seine Rede ab und verkündete barsch: »Ich hin Kerkerwächter, und du bist ein Gefangener. Ihr anderen kommt endlich aus eurem Loch gekrochen! Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Nacheinander kletterten die restlichen Häftlinge aus ihrem Gewahrsam. Die Frau, die als nächstes erschien, war die einzige, welcher der kleine Mann hilfreich die Hand entgegenstreckte. Die anderen mußten ohne Unterstützung auskommen. Schließlich standen wie angekündigt fünf Gefangene im Freien. Die Männer sahen seltsam gleich aus: Jeder war mit ärmelloser Jacke und Rock bekleidet. Die Frau hatte ihren Sarong so gewickelt, daß er wie die Röcke der Männer nur bis zu den Knien reichte. Der Grund war leicht ersichtlich: Zu Füßen der Gefangenen bildeten sich Pfützen. In der Zelle hatte wohl das Wasser gestanden. Das erklärte, warum die fünf so zerschlagen und übernächtigt aussahen. In einer tiefen Pfütze zu schlafen war kein Spaß. Sie waren ein erbärmlich anzusehender, vor Dreck starrender Haufen. Nicht einmal mehr die Farbe ihrer Kleidung war leicht zu bestimmen. Blinzelnd wegen der nicht mehr gewohnten Helligkeit, betrachteten sie die Verwüstung um sich herum. Bestürzung legte sich auf ihre Gesichter.

Mojeb konnte sich gut vorstellen, was in ihnen vorging. Die fünf hatten gewußt, daß ihr Gefängnis eingestürzt war. Sie hatten die Angst kennengelernt, nicht mehr lebend davonzukommen. Doch das ganze Ausmaß der Zerstörung hatten sie sich nicht vorzustellen vermocht. Es war ihnen verborgen geblieben, daß zusammen mit ihnen ein beträchtliches Stück der Küste ins Meer gerutscht war. Erst der Anblick der mehrere hundert Schritt langen Trümmerhalde machte ihnen bewußt, welch verheerendes Unglück sie überlebt hatten!

Als ihre Entgeisterung dabei war, von aufkeimendem Entsetzen verdrängt zu werden, bewahrte der Gefangene mit der tiefen Stimme seine Schicksalsgefährten vor dem Sturz in seelenlose Verzweiflung. »Das muß ordentlich geplatscht haben!«

Die schlichte Feststellung löste hysterisches Gelächter aus.

Gleichzeitig brachte sie Mojeb auf etwas, woran er noch gar nicht gedacht hatte. Wenn ihm auch vieles von dem, was sich hier zugetragen hatte, ein Rätsel war, so war dies das erste, das einen Sinn ergab: Ja, es mußte ordentlich geplatscht haben, als das viele Gestein ins Meer gerutscht war. Eine mächtige Welle mußte dabei entstanden sein. Vermutlich hatte sie woanders entsetzliche Rache für die Zerstörung dieser Küste genommen.

Einer der Gefangenen hatte sich gebückt, um aus einer Pfütze zu trinken. Er spuckte das Wasser aber umgehend wieder aus: »Brackig!«

Die anderen sahen abwartend herüber. Mojeb deutete mit dem Daumen nach oben und schickte sich an, allen voran die Halde hochzuklettern.

»Was ist mit ...«, fragte die Frau und deutete auf den Toten.

»Laß ihn liegen oder wirf ihn wieder zurück«, erwiderte Mojeb.

Er erntete verständnislose Blicke. Die fünf schienen angenommen zu haben, daß er aus schierer Ehrfurcht vor den Toten den Leichnam ihres Mithäftlings zuerst aus der Zelle hatte haben wollen. Sie würden gleich noch verblüffter dreinschauen.

»Aber zieht ihm zuvor die Jacke aus«, befahl Mojeb. »Die brauchen wir noch.« Er kletterte weiter, während einer der Gefangenen die Anweisung ausführte. Erst als auch der letzte oben stand und die Frau abermals nach Eßbarem fragte, erinnerte sich Mojeb des kleine Wals. Er schlug sich verärgert gegen die Stirn: »Als ihr mich gerufen habt, da habt ihr mich heim Schlachten gestört. Unten beim Wasser liegt ein Wal zusammen mit dem Haumesser. Jemand sollte hinabsteigen und einige schöne Filets aus ihm herausschneiden. Ein Freiwilliger!«

Die Frau erklärte sich bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Als der kleine Mann sie begleiten wollte, verbot es ihm Mojeb: »Einer, immer nur einer von euch. Mehrere von euch zusammen würden mich unruhig machen. Wir wollen nicht, daß ich unruhig werde! Wir wissen genau, was geschieht, wenn ich unruhig werde ... Unfug! Wir wissen es natürlich nicht. Wir wollen es auch nicht wissen. Doch wir merken uns: Sollte einer von euch davonlaufen, so werden die anderen einen triftigen Grund haben, unruhig zu werden. Und nicht einmal ich will wissen, was dann geschieht!«

Trotz dieser einschüchternden Worte schickte Mojeb kurz darauf einen der Gefangenen los, um Brennholz zu besorgen. Der Mann war angewiesen worden, sich nicht außer Blickweite zu entfernen. Erst als er zurückkehrte, durfte der nächste gehen. Er sollte Kokosnüsse und Obst besorgen. Unterdessen mußte ein dritter Gefangener aus Mehl und Wasser Brotteig kneten, während der vierte die Jacke des Toten in Streifen reißen sollte, um anschließend Schnüre aus ihnen zu Hechten, die als Fesseln dienen konnten. Zwischendurch kehrte die Frau mit dem Fleisch zurück. Das Haumesser warf sie Mojeb aus einiger Entfernung vor die Füße. Augenscheinlich fürchtete sie sich davor, ihm mit etwas, das als Waffe taugte, allzu nahe zu treten. Mojeb sah, daß seine Gefangene die Gelegenheit wahrgenommen hatte, sich zu waschen. Er fragte sich flüchtig, ob aus Reinlichkeit oder weil das Zerlegen des Wals eine so blutige Angelegenheit geworden war, wie er befürchtet hatte. Er war froh, daß er diese Tätigkeit an jemanden hatte abtreten können. An einem Tag wie heute hätte er sich zweifellos von oben bis unten besudelt.

Das Mahl begann als wortloses Schmatzen und Schlingen. Mojeb ließ fallen, daß er nicht beabsichtige, jemandem das Essen streitig zu machen und daß jederzeit noch mehr Fleisch geholt werden könne. Sie dürften sich alle Zeit der Welt lassen. Doch seine Worte blieben unbeachtet. Deswegen sprach er mahnend, daß er zwar selbst nie habe hungern müssen, doch sich habe sagen lassen, daß eine solch rasante Völlerei unbekömmlich sei. Diese Worte zeigten immer noch nicht bei allen Wirkung, wurden aber als Freundlichkeit vermerkt. Sie bewogen die Frau, mit vollem Mund eine Unterhaltung zu beginnen, bei der sie sich und ihre Gefährten vorstellte.

Ihr Name war Keloe. Mojeb schätzte sie auf etwa zehn Jahre älter als sich selbst, also auf knapp vierzig. Rein dem Aussehen nach hätte sie gut die ältere Schwester der Frau sein können, mit der er mutmaßlich die vorletzte Nacht verbracht hatte und die jetzt tot auf einem Erdnußfeld lag. Sie war in etwa genauso groß gewachsen, wenn auch eine Spur üppiger in Hüfte und Brust. Ihr schmales Gesicht, in das seit dem Waschen keine verfilzten Zotteln mehr hingen, wurde wie bei der anderen Frau von langen, dunklen Haaren umrahmt. Sie hatte die gleiche sanftbraune Haut, die gleichen vollen Lippen, doch alles an ihr war reifer, klarer gezeichnet und entschiedener. Sie wäre nicht nur die ältere Schwester gewesen, sondern auch die hübschere, räumte Mojeb bewundernd ein. Dann aber dachte er, daß er der jüngeren Frau womöglich unrecht tat. Vielleicht hatte sie ebenso fröhliche, leuchtende Augen gehabt wie Keloe, doch das einzige, woran er sich erinnerte, war der starre Blick des Todes. Unter solchen Umständen war es nicht schwer, schlechter abzuschneiden.

Der Name des kleinen Mannes klang wie das Gurren eines Vogels: Tiugugu. Mojeb wußte nicht zu sagen, ob er und Keloe etwas miteinander hatten. Wenn nicht, so lag es bestimmt nicht an ihm. Er schien ein etwas schwieriger Bursche zu sein. Jemand, dem schnell der Kamm schwoll. Ein kleines Hähnchen, allzeit bereit, zornig sein Revier zu verteidigen: Tiugugu, Tiugugu!

Keloe gegenüber verhielt er sich anders als gegenüber dem Rest. Er war zuvorkommend, stets hilfsbereit und konnte die Augen nicht von ihr lassen. Ein ungewöhnlicher Blickfang waren seine Hände. Die Finger sahen zu lang und zu dünn aus und so zerbrechlich wie Spinnenbeine.

Wie er Omaru einschätzen sollte, wußte Mojeb beim besten Willen nicht zu sagen. Der Mann mit der tiefen Stimme war entweder ein völliger Idiot oder ein abgeklärter Weiser, für den alles Weltliche längst nur noch unbedeutendes Beiwerk war. Die gewaltige Zerstörung hatte ihm lediglich ein schlichtes »Es muß ordentlich geplatscht haben« abgerungen. Womöglich konnten tatsächlich alle Berge der Welt gleichzeitig über ihm zusammenstürzen, ohne mehr zu bewirken, als daß er sich gelassen aus den Trümmern erhöbe und feststellte: »Hier staubt es ordentlich«, um sich sodann den wirklich wichtigen Dingen des Seins zuzuwenden.

Doch wenn Omaru ein Weiser war, dann gewiß ein solcher, der von allen anderen in der Welt am bereitwilligsten seine Erkenntnisse teilte. Nicht nur, daß er alles beantwortete, was nach einer Frage klang. Selbst als Mojeb ihn angewiesen hatte, die Jacke des Toten zu zerreißen, uni Fesseln aus den Stoffstreifen herzustellen, hatte ihm Omaru noch erklärt, wie es am besten zu machen sei. Als ahnte er nicht, daß eine der Fesseln für ihn selbst bestimmt war!

Obwohl Omaru wahrscheinlich erst fünfzig Jahre alt war, schienen die Gezeiten seit Jahrhunderten sein überaus breites Gesicht bearbeitet zu haben. Ebbe und Flut, Flut und Ebbe hatten tiefe Furchen in das ansonsten völlig glatte Gesicht gegraben.

Mataiu und Natanui waren die Namen der letzten beiden. Sie hatten sich von Anfang an stärker zurückgehalten als die anderen drei. Sie gehorchten zwar aufs Wort, bemühten sich aber, möglichst nicht aufzufallen.

Mojeb nahm die Namen seiner Gefangenen zur Kenntnis und erklärte dann kurz: »Schön und gut. Aber ich werde euch meistens nur Duda! nennen. Ihr seid Gefangene, ich bin euer Wächter. Mehr Herzlichkeit scheint mir übertrieben.«

Von dieser Unfreundlichkeit ließ sich Keloe nicht abschrecken. »Du bist nicht von hier«, sagte sie.

»Er ist von woanders«, bestätigte Omaru.

Mojeb lächelte schwach. Man mußte wahrhaftig nicht allzu genau hinsehen, um ihn als Fremden zu erkennen. Selbst wenn man außer Acht ließ, daß seine Haut trotz Sonnenbräune heller als die der Einheimischen war, gab es immer noch hinreichend Unterschiede.

Ikarillaner waren groß und schlank. Er war eher gedrungen.

Sie hatten lange, schmale Nasen, seine war breit und flach.

Sie hatten gewelltes Haar und nicht wie er eine Krause.

Alles an ihnen wirkte zarter. Selbst ihre Augenbrauen waren schmale Linien. Seine dagegen waren so buschig, daß man sie für Augenwülste halten konnte.

Ikarillaner waren durchweg schöne Menschen, während er so rauh und ruppig aussah wie die heimatlichen Berge, die einstmals das Jarmatenvolk erdacht hatten. Bestimmt hatten die steinernen Riesen seinerzeit klug entschieden, und wenn nicht, so war es auch gut. Wer wollte sich schon mit tausend Bergen streiten? Plötzlich kam es Mojeb in den Sinn, sich einen struppigen Vollbart wachsen zu lassen.

»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht von hier. Ich bin Jarmate.«

Herausfordernd sah er sich um, doch keiner in der Runde schien etwas mit dem Wort anfangen zu können. Er zuckte mit den Schultern. »Meine Heimat liegt weit entfernt ... Sie ist sogar ein anderes Land.«

»Aber du sprichst unsere Sprache gut«, lobte ihn Keloe. »Sprachen fliegen mir zu, und außerdem ...«

Mojeb kam nicht mehr dazu zu erklären, was außerdem sei, denn urplötzlich griff sich Keloe an den Hals, sprang erschrocken auf und entfernte sich schnellen Schritts von der Kochstelle.

»Wohin?« fragte Mojeb streng.

Die Frau sah ihn flehend an: »Meine Kette! Ich muß sie liegen gelassen haben, als ich mich wusch.«

Ihr Bewacher erinnerte sich zwar nicht an eine Kette, doch da keiner der Gefangenen mehr besaß als seine Kleidung, eine Eßschale und einen Löffel, gab er ihr mit einem knappen Nicken die Erlaubnis, nach dem Schmuck zu suchen. Umgehend kletterte Keloe die Felsen hinab. Wie immer sah ihr der kleine Mann hinterher.

»Es ist eine wertlose hölzerne Kette, doch sie bedeutet ihr viel«, erklärte er Mojeb und blickte ihn dabei ernster an, als es zu der schlichten Feststellung paßte.

»Wie müssen noch etwas von dem Walfleisch mitnehmen«, brummte Omaru einige Augenblicke später, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu Boden.

Mojeb warf Mataiu und Natanui einen kurzen Blick zu. »Und? Habt ihr auch noch einen Satz?« Beide sahen ihn erschrocken an, als hätte er sie bei etwas Verbotenem ertappt.

Mit einemmal schallten vom Wasser her markerschütternde Schreie. Sie stammten von Keloe, die in Todesnot schrie. Im Nu war Mojeb auf den Beinen. Die Schwertscheide fest umschlossen, sprang er die Geröllhalde hinab. Auf halber Höhe wurde ihm bewußt, daß er die anderem Gefangenen allein gelassen hatte und zudem im Besitz des Haumessers.

»Furzig!« brummte er, ohne langsamer zu werden. Mit etwas Glück war das Gesindel ebenso überrascht worden wie er und wartete brav auf seine Rückkehr.

Keloe stand mit den Füßen im Wasser. Mojeb riß das Schwert aus der Scheide und sah sich wachsam um. Doch er entdeckte nirgendwo eine Bedrohung, weder durch ein Tier noch durch einen Menschen.

»Was ist?« schnauzte er die Frau erzürnt an. Sie war bleich vor Angst und trieb bestimmt keine Scherze mit ihm. Aufgeregt zeigte sie auf etwas, das das Meer angespült hatte. Unverständliche Laute untermalten ihre Gesten.

Endlich entdeckte Mojeb, was sie erschreckt hatte: ein Arm!

Ein menschlicher Unterarm samt Hand, der sich im Takt der Wellen leicht bewegte. Abgesehen davon, daß er ein abgetrenntes Körperteil war, war er gut erhalten. Weder die ausgefransten Spuren eines Haibisses waren an ihm zu entdecken noch die glatteren vom Hieb einer scharfen Waffe. Er schien auch nicht mit Gewalt abgerissen worden zu sein, denn unversehrt und weißgrau ragten Elle und Speiche aus einem Ende. Das tote Fleisch sah seltsam aus, aber irgend etwas daran kam Mojeb vertraut vor. Er hielt sich die Nase zu und ging in die Hocke, um den Arm genauer in Augenschein zu nehmen. Er entdeckte eine Tätowierung in Form eines Wales und verstand plötzlich, warum der Arm so seltsam vertraut aussah. Rasch erhob er sich.

Er blickte zum bedeckten Himmel, der nach Regen aussah und den Unheilsstern verbarg, und über das graue Meer, das den Arm angespült hatte. Wieviel Eigenartiges war noch geschehen, während er geschlafen hatte? fragte er sich. Tierisches Fleisch hatte er oft in einem solchem Zustand gesehen, menschliches noch nie.

Der Arm war gar gekocht worden!

Das Traumbeben

Подняться наверх