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Der Unheilige und die Unholde des Zauberwaldes

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Sadi, am 19. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

»Ich kann kein Heiliger sein«, flüsterte Seffenaiu tonlos. »Alle Heiligen sind tot. Ich bin es offensichtlich nicht. Ganz im Gegenteil bin ich stets abwesend, wenn der Tod mich sucht. Was mag er von mir denken? Er muß mich für einen äußerst unsteten Gesellen halten. Heute hier, morgen dort und niemals da, wo ich sein sollte. Dabei bin ich das gar nicht! Die Lösung ist einfach: Ich bin ein Unheiliger! Ich bin Seffenaiu, der unheilige Schutzpatron des übersehen en Gesindes!«

Der Ritter führte sein Roß am Zügel die Straße hinunter, in der die Herberge hätte stehen sollen, die er vor zwei Tagen verlassen hatte. Sie war nicht mehr da. Ebenso fehlten ihre Nachbarhauser zur Linken und Rechten sowie das zweifelhafte Eulykische Kontor. Die Grundstücke, auf denen diese Gebäude gestanden hatten, gehörten jetzt zu einem Trümmerfeld, das den Platz von zwei Häuserreihen einnahm, und zwar denjenigen, die dem Wasser am nächsten gestanden hatten. Auch die Häuser gleich dahinter waren nicht ganz ungeschoren davongekommen, da die Welle, die über den Hafen Sadis gefegt war, die mitgerissenen Trümmer gegen ihre Mauern geschleudert hatte, vor denen sie sich jetzt als Wälle auftürmten. Daß sich das Unglück so und nicht anders abgespielt hatte, lehrte ein Blick auf die Schiffe, die im Hafen geankert hatten. Sie lagen neuerdings an Land mit abgerissenen Masten und eingedrückten Rümpfen, auf der Seite oder kieloben, manche auch übereinander geschichtet.

In den Überresten von Häusern und Schiffen kletterten und krabbelten Menschen herum und sammelten ein, was noch zu gebrauchen war. Seffenaius ehemalige Herberge bildete keine Ausnahme. Auch in ihrer Ruine waren Anwohner mit Bergungsarbeiten zugange. Sie hielten ertappt blickend inne, als sie den Ritter bemerkten, und machten weiter, als er ihnen mit einer beschwichtigenden Handbewegung die Erlaubnis dazu erteilte.

Bei seiner ehemaligen Unterkunft gab es nichts zu sehen, was Seffenaiu nicht vorn Rand des Trümmerfelds aus hätte erkennen können. Noch einmal vergegenwärtigte er sich seinen letzten Aufenthalt. Wie er atemlos an den in den Himmel Gaffenden vorbeigerannt und ins Haus gestürmt war. Wie er seine Besitztümer zusammengerafft und das Pferd gesattelt hatte, um eiligst nach Pinapataui zu reiten.

Hatte er überhaupt die Zeche bezahlt? fragte er sich kurz. Er konnte sich nicht daran erinnern, vermutete aber, daß er es unterlassen hatte. Daran war jetzt nichts mehr zu ändern.

Seffenaiu ließ seine Gedanken noch ein wenig weiter zurückschweifen zu den Augenblicken, als er – gerade den Schrecken des Marktes entkommen – durch die Straßen gehastet war. Er hatte darauf geachtet, nicht abermals in ein Gedränge zu geraten, doch für die Verletzten und mit dem Leben Davongekommenen, die vor Trauer Weinenden und vor Schmerz Sprachlosen keinen Blick übrig gehabt. Es sei denn, sie hätten ihm im Weg gestanden.

Kühl führte er sich vor Augen: Hätte er nach der Flucht vom Markt gezögert, etwa einen Verwundeten gestützt, ein Kind getröstet, erleichtert eine Weinschale geleert oder auch seine Zeche beglichen, so wäre er hier gewesen, als das Meer über das Land geschwappt war, also jetzt höchstwahrscheinlich tot. Aber das war er nicht! Er hatte es überstanden, als auf dem Markt zum Zertrampeln, im Hafen zum Ertrinken und auf der Königsburg zum Zermalmen, Verbrennen und Zerstäuben geladen worden war. Er hatte nicht einfach nur überlebt, sondern dieses Kunststück gleich dreimal an einem einzigen Tag vollbracht! Was sagte das über ihn aus? Daß er jemand war, dem das Glück treu blieb, oder jemand, der vermutlich alles verbraucht hatte, was ihm in diesem Leben zustand?

Eine Frage für Philosophen, dachte Seffenaiu. Eines scheint aber festzustehen: Wir Unheiligen sind ein mitleidloser Haufen. Wir hasten an jenen vorbei, die längs unseres Weges jammern und klagen – und tun verdammt gut daran!

Auf einem der dick mit Seepocken bewachsenen Schiffsrümpfe stand ein Mädchen, das mit gerecktem Hals Ausschau hielt. Plötzlich steckte es zwei Finger zwischen die Lippen und pfiff scharf. Geschwind kletterte es ungeachtet des scharfkantigen Bewuchses der Planken und seiner bloßen Beine vom Schiffsbauch herunter. Die Erwachsenen und Halbwüchsigen, die die eingestürzten Häuser durchsucht hatten, ergriffen, was sie gefunden hatten, und rannten fort. Als Ursache dieses plötzlichen Gewimmels machte der Ritter eine Gruppe Gardisten aus, die auf jeden einknüppelten, der ihnen nicht rechtzeitig entkam. Zwar schlugen sie bevorzugt auf diejenigen ein, die aus den Ruinen sprangen, doch wenn ihre mit scharfkantigen Schnitzereien versehenen Stöcke jemand anderen trafen, so schien es sie auch nicht zu stören. Selbst Seffenaiu näherte sich einer!

Um es gar nicht erst zu Mißverständnissen kommen zu lassen, trat der Ritter hinter dem Pferd vor, damit der Ordnungshüter seine Beinkleider sehen konnte.

Der Mann blieb stehen, verbeugte sich und sprach: »Braucht Ihr Hilfe, Ajam? Mit Verlaub, diese Gegend ist kein guter Aufenthaltsort für Euch!«

»Ganz Ikarilla ist mein Aufenthaltsort«, erwiderte Seffenaiu hochnäsig. »Nein, ich brauche deine Hilfe nicht. Warum vertreibt ihr diese Leute?«

»Vögtlicher Befehl, Ajam«, erklärte der Gardist. »Das sind nicht ihre Häuser. Sie stehlen und plündern.«

»Aber was! Sie durchwühlen den Schutt! Wem schaden sie, wenn sie einen zerborstenen Balken, eine zersplitterte Tür oder meinethalben auch einen Sack Reis davontragen, der ohnehin in ein paar Tagen verdorben sein wird? Womöglich ist der bisherige Besitzer sogar tot.«

»Vögtlicher Befehl«, wiederholte der Gardist steif. »Wenn Ihr mich nicht mehr benötigt ...«

Seffenaiu entließ ihn und versuchte sich den Vogt von Sadi vor Augen zu rufen. Er hatte ihn auf Pinapataui gesehen: Schon älter, weißhaarig ... nein, das stimmte nicht ... mittleren Alters, kräftig, tonnenförmig ... nein, das war ebenfalls jemand anders gewesen!

An die Frau des Vogtes erinnerte er sich schon eher: mittelgroß, von knabenhafter Figur. Sie betrachtete das Leben durch den Vorhang ihrer Haare, die ihr ständig ins Gesicht hingen und mit deren Spitzen ihre Finger immerfort spielten. Sie wirkte sehr jung, sogar mädchenhaft, und verkündete aller Welt mit ihrem Kichern und jeder Bewegung ihres schlanken Körpers: Ich bin klein, hilflos und schützenswert! Seffenaiu machte ihr daraus keinen Vorwurf. Ein Korallenfischchen, das mit den Haien schwimmen wollte, hatte eben nicht allzu viele Möglichkeiten, seinen Wunsch zu verwirklichen.

Er wartete, bis die Gardisten verschwunden waren, und schlenderte dann zu dem Schiff, in dessen Wrack er das Mädchen hatte hineinkrabbeln sehen, das die anderen vor den Ordnungshütern gewarnt hatte. Er klopfte mit der Faust gegen die Bordwand und sagte laut: »Du kannst wieder herauskommen. Sie sind weg!«

Doch die Kleine blieb in ihrem Versteck. Seffenaiu nahm an, daß der gleiche Grund dafür verantwortlich war, der den Gardisten bewogen hatte, untertänig zu werden. Bestimmt beobachtete sie ihn. Vielleicht war sie sogar nicht viel weiter als eine Armeslänge entfernt.

Nochmals klopfte er: »Ich weiß, das du da drin bist. Ich tu dir nichts!«

Zögernd kroch das Kind auf allen vieren aus dem Schiffsrumpf und blickte ängstlich von Seffenaiu zu seinem Pferd.

»Na also, das ging doch«, sagte der Ritter.

Unversehens machte das Mädchen einen Knicks: »Makerita, zu Diensten!«

Seffenaiu lachte schallend. Wo mochte die Kleine das aufgeschnappt haben?

Er deutete ungefähr zu der Stelle, wo seine alte Herberge gestanden hatte, und erklärte: »Ich habe dort immer gewohnt, aber das Haus gibt es nicht mehr. Ich suche eine neue Herberge, doch ich kenne mich kaum in der Stadt aus. Kannst du mich zu einer führen? Möglichst zu einer, in der niemand gestorben ist?«

»Zu Diensten«, antwortete Makerita, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Seffenaiu wartete eine Zeitlang, dann flüsterte er verschwörerisch: »Mach schon, bevor der Ajam noch mehr von dir will.«

Das Mädchen gehorchte und ging zügig voran. Es drehte sich auf dem ganzen Weg nicht ein einziges Mal um, sprach kein Wort und bewegte sich so steif, als hätte es einen Stock verschluckt. Makerita führte Seffenaiu zu einem dreistöckigen Haus – der Herberge. Dort rannte sie urplötzlich weg, bevor der Ritter noch etwas sagen konnte. Er störte sich nicht sonderlich daran, da er nicht gewußt hätte, was er mit ihr hätte bereden sollen.

Das Gebäude, in dem sich die Herberge befand, hatte schon bessere Zeiten gesehen, war aber nicht heruntergekommen. Der Innenhof bestand größtenteils aus einem Garten. Zwei sich kreuzende Wege teilten ihn in Viertel. Früher, als das Haus noch nicht als Unterkunft für Durchreisende hatte herhalten müssen, hatten seine Bewohner den Garten zum Vergnügen und zur Muße aufgesucht. An diese Tage erinnerte eine Steinbank, die mit dunklem Belag und Vogelkot überzogen war. Sie stand auf dem letzten als Rasen belassenen Fleck des Gartens. Auf dem Rest bauten die Wirtsleute heutzutage Gemüse an.

Als die Herbergswirtin den Blick ihres Gastes bemerkte, beteuerte sie verlegen, daß sie die Bank noch heute mit Wasser und Seife bürsten wolle.

»Nicht nötig«, antwortete Seffenaiu. »Ich bin nicht bei euch abgestiegen, um auf eurer Bank zu sitzen.« Er deutete zur Straße, wo er sein Pferd angebunden hatte. »Aber gibt es in der Nähe Stallungen?«

»Mein Mann wird sich darum kümmern«, erklärte die Frau. Ihre Augen leuchteten plötzlich auf »Er ist ein Pferdebursche gewesen.«

Seffenaiu lachte freundlich. »Dann ist es gut aufgehoben. So etwas vergißt man nicht.«

Für gewöhnlich traute er den Gemeinen nicht, wenn es um Pferde ging. Seit dem Vorgänger König Ajam Sallimvallus III. war es ihnen zwar erlaubt, selbst welche zu halten, doch die Lockerung des alten Gesetzes hatte nicht viel verändert. Noch immer begnügte sich das einfache Volk mit Eseln oder Mauleseln, die einige Adlige züchteten. Sonderlich angesehen war diese Einkommensquelle bei den meisten ihrer Standesgenossen nicht. Der Ruch schnöder Geldgier haftete ihr an.

Nun kam der Mann der Wirtin angeeilt. Hätte er keine Glatze gehabt, so hätte er nach Seffenaius Erachten noch immer als Pferdejunge durchgehen können. Unverlangt begann er von seiner einstigen Tätigkeit zu erzählen. Seffenaiu ließ sich nicht darauf ein, sondern drückte der Wirtin mit der Bemerkung »Eine Woche« ein paar Münzen in die Hand und schritt zu dem Zimmer, das er ausgewählt hatte. Gerade hatte er sein Gepäck auf das Bett geworfen, als es an der Tür klopfte. Er öffnete. Draußen stand die Wirtin. In der offenen Hand hielt sie die Münzen, die er ihr gegeben hatte.

»Ist das nicht genug?« fragte er etwas zu streng.

Die Frau lief rot an: »Es ist viel zuviel, Ajam!«

Seffenaiu setzte ein gönnerhaftes Lächeln auf. »Behalte nur den Rest.«

Die Frau bedankte sich überschwenglich und wandte sich zum Gehen. Einer plötzlichen Neugier nachgebend, rief er ihr hinterher: »Wieviel wäre denn richtig gewesen?«

Die Wirtin wandte sich um und antwortete augenscheinlich höchst ungern: »Das reicht für sechs Wochen.«

Erneut setzte Seffenaiu die Gönnermiene auf. »Ich bleibe allenfalls eine. Behalte den Rest!«

Er schloß die Tür, warf sich aufs Bett und wunderte sich. In der alten Herberge hätten die Münzen nur für eine knappe Woche gereicht, vielleicht für fünf Tage. Die Unterkunft war allerdings um einiges besser gewesen. Dennoch: sechs Wochen! War ein solcher Unterschied gerechtfertigt?

Seffenaiu schüttelte den Kopf. Ohne die Flutwelle hätte er nie erfahren, wie billig das Leben des einfachen Volkes war!

Mit einemmal lag es ihm nicht mehr so schwer auf der Seele, daß er dem Stallburschen in Pinapataui seinen Lohn nicht mehr hatte geben können. Vermutlich hatte der Junge ein sehr viel besseres Einkommen gehabt, als ihm bisher bewußt gewesen war.

Seffenaiu machte sich frisch, legte neue Kleidung an und begab sich auf den Weg zum Vogtspalast. Die ganze Stadt trauerte unübersehbar und unüberhörbar. Der Klang dumpfer Trommeln und das Wehklagen von Kalebassenflöten, Kassupfeifen und Ukulas waren allgegenwärtig. Zahllose Einwohner trugen als Ausdruck ihres Kummers Ketten aus weißen Phyloxienblüten uni den Hals. Seffenaiu sah kaum ein Haus, über dessen Eingang nicht zum Zeichen, daß einer der Bewohner gestorben war, Gebinde aus künstlichen Blumen aufgehängt worden waren. Sie bestanden aus gefärbtem Stroh, Stoffetzen und Früchteschalen. Seffenaiu hatte erst spät gelernt, was der Brauch zu bedeuten hatte, auch wenn er nicht wußte, woher er stammte: Künstliche Blumen konnten nicht sterben. Das Leben ging trotz allen Schmerzes weiter.

Solche Gebinde fand er auch auf dem heute kaum genutzten Markt vor. Sie waren am Rand des Platzes auf den Boden gelegt oder gegen die Häuser gelehnt worden. Um sie herum standen und kauerten Angehörige der zu Tode Getrampelten, die sich laut kreischend und heulend ihrem Schmerz überließen, und zufällige Passanten, die sich schweigsam dazustellten, um Mitleid und Erschütterung zu bekunden.

An jeder der vier zum Marktplatz führenden Straßen bemerkte Seffenaiu Posten aus zwei oder drei Gardisten. Auch vor dem Palasttor standen welche. Er verstand den Grund dieses Aufgebots nicht. Derlei war nicht üblich in Sadi, und dem Schutz vor Plünderungen konnten die Bewaffneten kaum dienen. Keines der anrainenden Häuser schien verlassen zu sein. Ohne sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, ging Seffenaiu quer über den Platz zu dem hell- und dunkelgrau gemusterten Bau mit den sieben Schiffen.

»Ajam?« sprach ihn einer der Wächter an.

»Zum Vogt«, antwortete er ihm.

»Aus welchem Grund, Ajam?«

»Ich will ihm meine Hilfe anbieten in dieser schweren Zeit.«

»Ihr kommt zu spät! Unser Herr ist tot.«

Seffenaiu musterte die sechs Wachen. Sie waren nicht mit einfachen Schlagstöcken bewaffnet, sondern mit Waihakas, Holzkeulen, die vom Griff bis zur Spitze mit Schnitzereien versehen waren, die sie um eine Vielzahl von Rillen, scharfen Kanten und bedrohlichen Dornen bereicherten. Waihakas waren keine Kriegswaffen, doch sehr viel gefährlicher als die üblichen Knüppel.

»Wer herrscht jetzt in der Stadt?«

»Die Vögtin, Ajam.«

Seffenaiu sah den Gardisten so lange durchdringend an, bis ihm sichtlich unwohl wurde.

»Zu wem will ich?« beendete er sein schweigsames Starren.

»Zur Vögtin, Ajam?«

Endlich hatte er begriffen.

»Wer seid Ihr ... Wen soll ich melden, Herr?«

»Ritter Ajam Seffenaiu, Gefolgsmann der verstorbenen Gräfin Ajamei Fattulloanna, und ich werde dich selbstverständlich begleiten, statt wie ein almosenheischender Besenbinder vor dem Tor zu warten.«

Welch ein Theater, dachte Seffenaiu, als sich die Wache geschlagen gab und ihn durch das Tor ließ. Welche merkwürdigen Anweisungen hatten die Gardisten erhalten?

Der Vogtspalast war von einem Gartenstreifen umrahmt, in dem sich gelbblühende Mimosenbäumchen, rotwuchernde Hibiskussträucher und Oleander abwechselten. Wenige Schritte brachten Seffenaiu ins Innere des Palastes. Obwohl er wußte, was ihn erwartete, erlag er umgehend dem Zauber des Säulenwaldes, der gleich hinter der Vorhalle des Eingangsbereichs begann. Das blausilberne Licht in der Halle schien die unzähligen Säulen eher zu verhüllen, als zu beleuchten, und gaukelte dem Auge dessen, der sie durchquerte, vor, daß sich ständig alles verändere und die Verwandlung von engen Pfeilerspalieren zu lockeren Alleen, die in dunstiges Zwielicht führten, genau in diesem Augenblick wirklich geschehe und nicht nur eine Folge des wechselnden Blickwinkels sei. Die Wände der Halle versteckten sich hinter Schatten, aus denen gedämpft das Echo von Schritten durch die auffallend kühle Luft hallte. Seffenaiu blieb überrascht stehen, als ihm bewußt wurde, daß nicht alle Geräusche, die an sein Ohr drangen, von ihm und seinem Führer stammen konnten. Er lauschte und lächelte, als er zwei Mägde auf sich zukommen sah. Wie leicht war es zu vergessen, daß dieser verwunschene Wald trotz allem nur Teil einer Halle in einem großen Gebäude war.

Solche Schönheit hatte Pinapataui nicht aufzuweisen gehabt! Die Erbauer der Königsburg hatten andere Wege beschritten, um Besucher zu beeindrucken – und sie einzuschüchtern, ohne daß sie es merkten.

Gänzlich unbeeindruckt schien der Gardist zu sein, der Seffenaiu voranging. Er schlurfte nicht nur zum Erbarmen, sondern entließ auch kurz vor dem Ende der Halle einen Darmwind als Serie kleiner Explosionen. Der Zauber war ohnehin gebrochen, als die Wache die Tür zum Audienzsaal öffnete und Stimmengewirr herausquoll, für das es wegen der Türpolsterungen keine Vorwarnung gegeben hatte.

Seffenaiu überflog die Versammlung, ohne die Vögtin zu entdecken. Er fühlte sich alleingelassen, als er feststellte, daß sein Führer nach getaner Pflicht klammheimlich verschwunden war und auch niemand dafür vorgesehen zu sein schien, Neuankommende laut anzukündigen. Schicksalsergeben zuckte er die Achseln, schritt zwischen den Versammelten hindurch, lauschte ihren Gesprächen und machte sich mit dem einen oder anderen bekannt. Befriedigt stellte er fest, daß er hier trotz des abweisenden Empfangs richtig war. Die Vögtin hatte außer ihren Beratern wichtige Bürger der Stadt geladen. Überlebende von Pinapataui – wie er selbst – hatten sich dazugesellt sowie Abgesandte des Landadels der Umgebung. Sie alle wollten beratschlagen, wie die Ordnung in der Gegend wiederherzustellen sei. Offenbar hatte ihn das Schicksal genau zur richtigen Zeit hierhergeführt!

Drei kurze Trommelschläge sorgten für Ruhe und kündigten gleichzeitig die Vögtin an. Sie betrat den Audienzsaal durch eine andere Tür als Seffenaiu und wurde von zwei Leibwächtern, einer Handvoll Beratern und einem Priester begleitet, auf dessen Arm sie sich stützte. Wie für seinen Stand üblich, trug der Gottesmann eine schlichte weiße Soutane. Die Schreibtafel und der Griffel, die am Gürtel baumelten, verrieten seine Zugehörigkeit zum ordo curatoris dei, einem der weltlicheren Zweige der Kirche des Abwesenden Gottes, der sich vorwiegend mit Verwaltungsaufgaben beschäftigte. Die schulterlangen, stark gelockten Haare deuten darauf hin, daß der Pater kein Ikarillaner war. Er wirkte anziehend und abstoßend zugleich, was wohl darauf zurückzuführen war, daß der Teil seines Gesichtes, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, von einer großflächigen, verwucherten Narbe eingenommen wurde.

Der Kirchenmann geleitete die Vögtin zu einem bereitstehenden Sessel. Nachdem sie sich leise für die Hilfe bedankt hatte, trat er einen Schritt zurück und blieb schräg hinter ihr stehen. Seffenaiu runzelte die Stirn. Wie viele Adlige sah er alles, was mit der Kirche Aionars zu tun hatte, als harmlosen Zeitvertreib für das gemeine Volk, fir Todkranke, Bettlägerige und Schwermütige an. Daher störte es ihn ein wenig, daß der Pater zugegen war, wo über die Geschicke der Region entschieden werden sollte. Doch dann entschuldigte er das Hierbleiben des Geistlichen mit dem Befinden der Gastgeberin.

Auch wenn die Vögtin keinen Kranz aus Trauerblumen um den Hals getragen hätte, wäre offenkundig gewesen, daß sie jemanden verloren hatte. Zusammengekauert saß sie in dem Sessel und begrüßte ihre Besucher mit trauriger Stimme, während ihre Finger ganz von allein mit den weißen Blüten zu spielen schienen. Man merkte ihr an, daß sie sich trotz aller Seelenqual zusammenriß. Seffenaiu empfand Mitleid. Ein flüchtiger Blick nach beiden Seiten lehrte ihn, daß er damit nicht allein war. Vermutlich gab es keinen einzigen Mann im Audienzsaal, der nicht das Verlangen verspürte, die eigenen Sorgen beiseite zu wischen und der jungen Frau zu versprechen: »Alles wird gut!«

Als erste waren die Abgesandten des Landadels aus der Umgebung an der Reihe, die Grüße ihrer Herren zu überbringen. Als der erste gesprochen hatte, beugte sich der Pater zu der Vögtin und flüsterte ihr etwas zu, worauf sie den Gesandten unterbrach: »Verzeiht, doch der Name Eures Herrn ist mir nicht geläufig. Hieß er nicht ...«

Sie nannte einen Namen, den Seffenaiu nicht mitbekam, da er sich erneut über den Priester ärgerte.

»Ihr irrt nicht«, erklärte der Gesandte. »Mein Herr und meine Herrin weilten auf dem Königsschloß, wo sie ihr Schicksal ereilte. Ich spreche nun für beider unmündiger Sohn, doch das ändert nichts an meinen Worten.«

Was die nachfolgenden Gesandten zu sagen hatten, klang ähnlich. Seffenaiu wunderte sich, daß ihm das, was er gerade erfuhr, nicht schon beim Anblick der von Staubwolken verhangenen Trümmer der Königsburg deutlich geworden war. Damals hatte er gedacht, der Adel des Landes sei ausgelöscht worden. Doch das stimmte nicht. Die nächste Generation war nachgerückt. Ikarilla wurde nun mehrheitlich von Kindern beherrscht.

Er schaute zu den Gesandten: Wie lange würden sie wohl die treuen Diener ihrer Kinderherrscher bleiben?

Ein beunruhigender Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Nicht für jeden, der in der Burg des Königs gestorben war, würde sich so einfach ein Nachfolger finden lassen. Die nächsten Jahre versprachen spannend zu werden!

Seffenaiu folgte dem Beispiel anderer Überlebender des königlichen Festes und trat vor die Vögtin, um ihr seine Hilfe anzubieten. Wie seine Vorgänger fragte sie auch ihn, ob er ihr Gefolgsmann werden wolle.

Seffenaiu zögerte: »Da die Gräfin Fattulloanna auf Pinapataui weilte, besteht wenig Hoffnung, daß sie das Unglück überlebt hat. Erlaubt mir trotzdem, noch einige Tage zu warten, bis ich ihren Tod als erwiesen ansehen kann, Ajamei.«

»Zaudert nicht zu lange«, entgegnete die Vögtin leicht ungehalten. »Die Zukunft wird nicht auf Euch warten, Ajam.«

Seffenaiu verbeugte sich höflich und kehrte wieder in die Reihe der Gäste zurück, bemüht, sich seine Verstimmung über den Tadel nicht anmerken zu lassen. Im Grunde paßte ein solches Verhalten zu ihr, dachte er bei sich.

Schließlich ergriff die Vögtin wieder das Wort. Sie faßte die traurigen Ereignisse der vergangen Tage zusammen, sprach darüber, was sie als deren Ursache ansah und was nun zu unternehmen sei. Sie war keine begabte Rednerin, und Seffenaiu hörte ihr anfänglich nur mit halbem Ohr zu.

Unwillkürlich mußte er an Beatarisa denken, die ihn in den letzten Stunden von Pinapataui gebeten hatte, sie vor der unsäglichen Langeweile zu retten. Nun wünschte er sich, daß jemand das gleiche mit ihm täte.

Wie seltsam, dachte er. Er hatte nur ein paar zweideutige Sätze mit ihr gewechselt. Wäre die Königsburg nicht vernichtet worden, so hätte er vermutlich mehr als nur Worte mit ihr ausgetauscht, aber sie dafür inzwischen vielleicht schon fast wieder vergessen. Doch die schöne Unbekannte war tot. Weil sie gestorben war, lebte sie in ihm weiter.

Einen Augenblick vermeinte er, wieder ihren Duft zu riechen, als sie vor ihm gestanden, ihn mit grauen Augen angelächelt und ihrem unverhüllten Verlangen angesteckt hatte: »Ich hoffe, daß Ihr als wahrer Ritter mich erretten werdet!«

Sie war fast so groß wie er selbst gewesen, vielleicht einen halben Kopf kleiner ...

Seffenaiu verscheuchte den Tagtraum. Er war nie so dicht bei Beatarisa gestanden, daß er ihren Duft hätte einatmen können! Vielmehr begann er Eindrücke von ihr und anderen Frauen miteinander zu vermischen. Die Frau im weißen Sarong war eine Fremde geblieben, für die er erst ein leichtes Verlangen verspürt hatte, als sie fortgegangen war. Dennoch kam sie ihm immer wieder in den Sinn.

Die Vögtin hatte ihre Rede noch nicht beendet. Als Seffenaiu einige Worte aufschnappte, die nicht zu diesem Anlaß zu passen schienen, hörte er aufmerksamer zu. Plötzlich begriff er, wovon mittlerweile die Rede war. Er mochte es nicht glauben! Ohne sich etwas anmerken zu lassen, sah er sich mit halb gesenkten Lidern bei den Zuhörern um. Die meisten schenkten der Vögtin ihre volle Aufmerksamkeit. Aber unter den geladenen Bürgern der Stadt verbreitete sich eine gedrückte Stimmung. Etliche von ihnen schauten mit angespannten Mienen oder zusammengepreßten Lippen zu Boden. Doch sie hatten nichts zu sagen. Ihre Meinung war von Anfang an nicht gefragt gewesen.

Seffenaiu blickte zu dem Geistlichen und dachte: Wenn er schon hier sein mußte, warum erhob er dann nicht längst seine Stimme zu heftigem Widerspruch? Warum schwieg er zu dieser Ungeheuerlichkeit, die soeben in gewählten Worten vorgetragen wurde? Seffenaiu verstand: Er hatte schon vorher gewußt, was sie verkünden würde.

Der Ritter verspürte ein aufquellendes Lachen, das ihn nun seinerseits zwang, das Gesicht zu verbergen. Wie unglaublich, er war schon wieder entkommen! Und das nur, weil er einer Gräfin über den Tod hinaus Achtung erwiesen hatte. Treue hatte seine Ehre gerettet!

Er bekämpfte den Zwang, laut zu jubeln und aller Welt von seinem Glück zu berichten. Sacht grinsend blickte er von dem Priester zur Vögtin und wieder zurück. Wer von den beiden hatte sich diesen Wahnwitz einfallen lassen?

Das Traumbeben

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