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Mojebs Traum

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Ein Dorf in Ikarilla, am 18. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

An diesem Tag erwachte Mojeb gleich zweimal. Beim ersten Mal schien es noch sehr früh zu sein, da das Licht, das zum Fenster hereinfiel, grau und kraftlos war. Im Halbschlaf tastete er den Teil des Bettes ab, der sich hinter seinem Rücken befand und den er wegen seiner seitlichen Lage nicht sehen konnte. Doch die Hand fühlte keinen anderen Körper. Das mochte bedeuten, daß seine Begleiterin schon aufgebrochen war oder daß er gestern vielleicht gar keine Begleiterin gehabt hatte. Mojeb konnte sich nicht daran erinnern, geschweige denn, daß er gewußt hätte, wo er sich befand. Eine dritte Möglichkeit fiel ihm ein: Vielleicht hatte sich die vermutete Gefährtin so weit zum anderen Bettrand zurückgezogen, daß sie sich außerhalb der Reichweite seiner Hand befand? Er hielt den Atem an und lauschte. Er hörte keine fremden Atemzüge, war sich aber nicht ganz sicher. Vorsichtshalber flüsterte er: »Hallo?«

Er kam sich dabei albern vor. Bei allen Freuden und Vertraulichkeiten, die er mit der Frau vermutlich geteilt hatte, erschien ihm das Wort zu unpersönlich. Er wiederholte seinen Versuch. Lauter und drängender sagte er: »Du?«

Doch noch immer kam keine Antwort. Mojeb wollte Gewißheit. Er hob den Kopf und wandte ihn ... So jedenfalls lautete der Plan. Die Wirklichkeit sah anders aus. Kaum spannten sich Mojebs Nackenmuskeln, als sich sein Kopf jede Störung, insbesondere jede Bewegung, strengstens verbat. Diese Grundhaltung machte er durch einen scharfen Schmerz deutlich. Mojeb wurde sofort davon abgebracht, die Beantwortung seiner Frage auf diese Weise weiter zu verfolgen. Im Grunde, überlegte er sich, war die Antwort nicht so dringlich. Früher oder später erführe er die Wahrheit sowieso.

Etwas schob sich in sein Blickfeld: ein kleiner, rotbrauner Käfer mit plattem, pfeilförmig zugespitztem Hinterteil. Kaum drei Zoll von Mojebs Augen entfernt verharrte er reglos auf dem Kissen.

Mojeb preßte die Lippen zusammen. Wichtiger als die Frage, mit wem man ins Bett stieg, war oft die, in welches Bett man stieg. Mojeb kannte diese Sorte von Käfern. Für einen Augenblick erwog er, trotz seiner Kopfschmerzen aufzustehen. Dann dachte er, daß er wohl kaum das Glück gehabt hatte, die Ankunft des ersten Vertreters dieser Käfersorte zu beobachten. Bestimmt hatten er und seine zahlreichen Verwandten schon die ganze Nacht lang ein üppiges Festmahl abgehalten, so daß keine Anstrengung das Ergebnis ihres Wirkens noch ändern konnte. Mojeb schloß die Augen und sog die Luft ein, die säuerlich nach Erbrochenem roch. Dieser Tag legte es hartnäckig darauf an, ungewürdigt zu vergehen, dachte er und versank in seinem Lieblingstraum ...

... Die Stadt ist in purpurnes Flackerlicht und graue Schatten getaucht. Der Wind drückt den Rauch in die Straßen. Mojeb ist verärgert. Ein verrückter Spießländer – wer auch sonst! – muß das Feuer gelegt haben. Verfluchter Spießländer, hätte er nicht warten können? Hätte er es nicht sein lassen können?

Mojeb rennt in eine Richtung, in die niemand will, aber aus der ihm jeder entgegenkommt. Er erkennt einen Kameraden, der Ketten aus Würsten um den Hals trägt und dessen Arme ein Bündel aus teuren Stoffen und edler Kleidung umschließen. Diesem folgt auf den Fersen ein Grüppchen, das schwer an gestohlenen Weinschläuchen, Schinkenkeulen und kopf- und armlosen Marmorstatuen zu tragen hat. Sie werden überholt von zwei weiteren Soldaten, die allen Ernstes einen Lehnstuhl aus der Stadt schleppen. Er ist mit Fischen beladen, die zappelnd ersticken. Einheimische versuchen aus ihren brennenden Häusern so viel wie möglich zu retten.

Ein Mann und eine Frau stürmen aus einem Haus. Sie sind derart mit Beuteln und Taschen beladen, daß sie es kaum bis zum Stadttor schaffen werden. Ein Beutel der Frau platzt auf. Sein Inhalt ergießt sich auf die Straße. Der Mann bleibt stehen und fordert seine Gefährtin auf, sich nicht um den Verlust zu scheren. Als sie ihm nicht folgen will, rennt er allein weiter. Die Frau bückt sich, um aufzusammeln, was auf die Straße gefallen ist. Einer der Plünderer gesellt sich zu ihr, um das gleiche zu tun. Als die Frau bemerkt, wie er sich die Taschen füllt, schlägt sie ihm auf den Kopf. Der Söldner lacht. Die Frau schlägt abermals auf ihn ein. Der Söldner lacht nicht mehr. Mojeb weiß, daß dieser Streit böse enden wird. Er will die beiden vor dem absehbaren und so unnötigen Ende warnen, doch der Mann und die Frau sind plötzlich weg. Statt dessen eilt Mojeb durch eine enge Gasse, die von winzigen, heruntergekommenen Häusern gesäumt wird. Ihre Wände wölben sich nach außen, ihre Türen sind geschlossen, die Fenster sind gähnende, schwarze Löcher. Mojeb rennt schleunigst weiter. Linker Hand öffnet sich eine weitere Gasse. Sie gleicht der ersten. Sie führt zu einer dritten, die sich in nichts von den ersten beiden unterscheidet. Mojeb spürt aufkeimende Verzweiflung. Er will weg! Er will nicht hier sein, wo die Habenichtse wohnen und es noch nie etwas zu holen gab. Er will dorthin, wo die prächtigen Prunkhäuser stehen. Aber er hat Angst, daß er zu spät kommen wird. Sie werden schon völlig ausgeplündert sein, wenn er ankommt, womöglich nur noch ausgebrannte, schwelende Ruinen.

Mojeb wird leer ausgehen.

Er fühlt sich von der Welt und dem Schicksal betrogen. Am Ende wird er für ein paar karge Münzen wochenlang Lehen und Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben!

Mojeb betritt eines der baufälligen Häuschen. Zu seiner Überraschung ist es innen geräumiger als erwartet und sieht keineswegs ärmlich aus. Obendrein ist es nicht verlassen. Er erblickt einen alten Mann. Sein Gesicht ist rot, winzige blaue Äderchen sind auf der Nase zu erkennen. Der Mann ist dürr. Seine Wangen sind Mulden zwischen den hervortretenden Wangenknochen. Unter einem Käppchen mit Quaste lugt eine weiße Strähne hervor, die eines der wäßrigen Augen des Alten verbirgt.

An die Wände des Zimmers sind große, geschnitzte Bilderrahmen gelehnt, die mit Blattgold beklebt sind. Mojeb ist erleichtert. Er hebt einen der Bilderrahmen an. Als er feststellt, wie schwer er ist, denkt er sich, daß ihm der andere Mann beim Tragen wird helfen müssen. Doch der Alte bekommt den kostbaren Rahmen kaum vom Boden hoch. So wird es nicht gehen.

Plötzlich zieht der Greis aus einer Tasche seines erdfarbenen, sackartigen Gewandes ein silbernes Medaillon mit einem kurzen Kettenrest, der nur noch aus wenigen Gliedern besteht.

»Rette mich!« sagt er und reicht Mojeb das Medaillon. Der nimmt es und öffnet in Vorfreude den Verschluß. Er erblickt das kleine Gemälde. Der Eindruck ist zu flüchtig, als daß er sich das Bild einprägen könnte. Außerdem hat ihm sein Gegenüber die Silberkapsel schon wieder abgenommen.

»Rette mich!« wiederholt der Alte.

»Wer ist das?« fragt Mojeb aufgeregt. Kurzentschlossen nimmt er den Greis auf den Rücken. Vor den geborstenen Mauern erhält er seinen Lohn. Sein Begleiter gibt ihm das Schmuckstück zurück und nennt den Namen der Frau, deren Bildnis es enthält. Die eroberte Stadt ist in goldenes Licht und saftiggrüne Schatten getaucht ...

Mojeb erwachte beschwingt. Sein Frohsinn verflog jedoch rasch, als er den Namen, den der Alte genannt hatte, wiederholen wollte. Er fiel ihm nicht ein. Dennoch war er nicht sofort bereit, sich einzugestehen, daß er nur geträumt hatte. Der Traum war so wirklich gewesen, daß er noch jetzt den Qualm der brennenden Häuser zu riechen glaubte.

Mojeb stutzte: Während des Traumes hatte er überhaupt nichts gerochen. Erst jetzt tat er es!

Gleichzeitig mit dieser Entdeckung machte er eine weitere. Er hörte Geräusche. Sie kamen nicht von der ihm abgewandten Betthälfte, sondern stammten von einem Menschen, der in dem Zimmer irgendeiner Tätigkeit nachging. Mojeb dachte an seine spärlichen Besitztümer und vermeinte auf einmal ganz genau zu wissen, was die unbekannte Person im Schilde führte. Er öffnete die Augen, erspähte einen Mann, den er nicht kannte, und schloß sie wieder. Ein Fremder, nicht die mutmaßliche Begleiterin!

Mojeb wagte nicht, den Eindringling anzusprechen, solange ihm noch der Schlaf in den Gliedern steckte. Er wollte wach sein und sich auf seinen Körper verlassen können!

Weiterhin den Schlummernden mimend, spannte und entspannte er heimlich die Muskeln. Er ballte die Hände zu Fäusten und verkrampfte die Zehen. Vorsichtig öffnete er erneut die Augen und sah, daß ihn der uneingeladene Besucher teilnahmslos beobachtete. Nun kam er wortlos und mit raschen Schritten auf das Bett zu.

Mojeb wartete nicht, bis der Fremde bei ihm war, sondern rollte sich flink zur entfernteren Seite seines Lagers. Die Bestätigung, daß er allein darin gelegen hatte, erlangte er, als er über die Kante fiel. Da das Bett nicht an einer Wand, sondern frei stand, rollte er vorsichtshalber noch einen Schritt weiter, bevor er sich erhob. Eine kluge Entscheidung, denn der Fremde hatte mit einem langen Messer genau dorthin gehackt, wo Mojeb eben noch gelegen hatte. Nun bemühte er sich, die Klinge, die sich in den Bettrahmen versenkt hatte, wieder freizubekommen. Mojeb sah sich blitzschnell um. Er befand sich in einem schlichten, aber recht großen Raum. Die Wände waren aus Lehm und Holz, der Boden aus gestampfter Erde. Eine Tür, die mit einem durchscheinenden Stoffvorhang verhängt war, führte in ein Nachbarzimmer. Licht spendeten winzige Fensteröffnungen.

Mojeb machte einen Teil seiner Besitztümer aus. Besonders die Kleidung war so großzügig über den Raum verstreut, daß er den Fremden wohl nicht allein für die Unordnung verantwortlich machen konnte. Vielleicht war ein Teil davon schon am gestrigen Abend verursacht worden – oder wann immer er sich zur Ruhe gelegt haben mochte. Der einzige Gegenstand, der entfernt als Waffe in Frage kam, war eine geflochtene Schale mit zwei angefaulten Mazeias, die auf einem kleinen Tisch stand. Mojeb griff mit der Linken danach. Die Schale war aus so weichem Rohr, daß das Gewicht der Früchte ausreichte, um sie zu verbiegen. Wenigstens bestand der Rand der Schale aus etwas festerem Material.

Der Eindringling hatte inzwischen seine Klinge befreit und ging nun uni das Bett herum. Mojeb suchte eine friedliche Lösung, um den Streit zu beenden.

»Ich bin nur zufällig hier und werde auch gleich wieder gehen«, versprach er.

Ein Blick in die Augen des Fremden sagte ihm, daß jener sich nicht von Worten überzeugen ließe. Daher bewarf er ihn mit den Mazeias. Sein Gegenüber wehrte die Früchte ungeschickt mit der Waffe ab. Schlecht gezielt, wie sie waren, hätte er sie überhaupt nicht beachten müssen.

Mit einemmal wußte Mojeb, was er zu tun hatte. Er verzerrte das Gesicht und sprang wie ein Besessener brüllend auf seinen Gegner zu. Dabei schwang er die Obstschale wie zum vernichtenden Schlag. Sein überraschter Widersacher handelte wie erhofft: Anstatt einen Abwehrschlag zu führen oder selbst anzugreifen, streckte er schützend die Klinge vor. Sie durchbohrte das dünne Geflecht der Schale. Mit einem Ruck sorgte Mojeb dafür, daß der durchstochene Korb nicht an der Spitze der Klinge hängen blieb, sondern am Stahl entlang glitt bis zum Griff. Unversehens verdrehte er die Schale, zog kräftig an ihr und riß das Haumesser aus der Hand seines Gegners. Gleichzeitig rammte er ihm den Schädel gegen die Stirn.

Der Schmerz trieb Mojeb die Tränen in die Augen. Winselnd taumelte er rückwärts und verfluchte seine Dummheit. Es verschaffte ihm keine Befriedigung, daß sich auch sein Gegner den Kopf hielt.

Messer und Obstschale lagen nun zwischen beiden Männern.

Der Fremde bückte sich zuerst. Mojeb trat ihn kräftig gegen den Schädel, so daß er hintenüber fiel. Als er lag, verpaßte er ihm noch einen Tritt in den Leib. Dann wich er rasch zurück, wobei er den Korb im Vorbeigehen außer Reichweite seines Gegners stieß. Erst in sicherer Entfernung hob er das Messer auf.

Der Fremde kam wieder auf die Beine. Obgleich er keine Waffe mehr besaß, schien er nicht gewillt, freiwillig das Feld zu räumen. Mojeb wußte nicht, was er von ihm halten sollte. Sein Gegenüber war ein etwa fünfzigjähriger Mann, dem man ansah, daß er schwere Arbeit gewohnt war. Der schlichten Kleidung nach, die aus einem wadenlangen Leinenrock und einer vielfach geflickten Wickelbluse bestand, mochte er ein Tagelöhner, Kleinbauer oder erfolgloser Handwerker sein. Annahmen, die völlig falsch sein konnten, wie sich Mojeb eingestand. Er hielt sich viel zu kurze Zeit in diesem Land auf uni sich ein sicheres Urteil erlauben zu können.

»Jetzt geh«, befahl Mojeb.

Nichts geschah.

»Verschwinde!« wiederholte er – mit demselben Ergebnis. Er kam sich vor, als redete er gegen eine Wand, und fragte sich, ob man ihm so deutlich ansah, daß er sich heute morgen nicht in der besten Verfassung befand, und ob sein Auftreten womöglich zu der Annahme verführte, er könne jeden Augenblicken entkräftet zu Boden sinken. Er war ratlos. Worauf wartete der Bursche? Darauf, daß er den Worten Taten folgen ließe? Mojeb verabscheute Tage, an denen noch vor dem Frühstück jemand umgebracht wurde. Ein Grund, weswegen er sich diese Unsitte nie zu eigen gemacht hatte.

Schlagartig nahm das Pochen in seinem Kopf überhand. Er kämpfte gegen das heftige Verlangen an, sein Leiden in Laute zu kleiden, da er keine Schwäche zeigen wollte. Es gelang ihm nicht. Immerhin vermochte er die Stimme zu senken, während der Schmerzlaut über seine Lippen kam, so daß statt einem weinerlichen »Au!« ein bedrohliches Grunzen erklang. Das Geräusch hatte eine unerwartete Wirkung. Der Fremde wirkte plötzlich ganz verstört.

Mojeb mußte unwillkürlich grinsen. Er grunzte abermals, darauf bauend, daß ihn sein Lächeln nicht dämlich aussehen ließ, sondern bösartig und gemein. Wie sich zeigte, fiel ihm das an diesem Tag leicht.

Er beschloß, die unerfreuliche Begegnung nun möglichst schnell zu einem Ende zu bringen, da ihn der stärker gewordene Brandgeruch beunruhigte. Düster murmelte er: »Dann eben nicht« und führte mit dem Haumesser drei peitschende Schläge ins Leere. Dabei ging er entschlossen auf seinen Besucher zu, worauf dieser sich endlich in den anderen Raum zurückzog. Mojeb folgte ihm. Wie er schon geahnt hatte, betrat er damit das einzige andere Zimmer des Hauses, wo sich Koch- und Feuerstätte befanden und die weniger verderblichen Vorräte aufbewahrt wurden. Die offenen Körbe und leergeräumten Schränke deuteten an, daß die letzten Bewohner ihr Heim in Eile verlassen hatten. Vielleicht nicht fluchtartig, aber sicher, ohne lange zu zögern. Irgend jemand war nach ihnen hier gewesen und hatte das Verbliebene durchsucht, offenbar darauf bedacht, keinen unnötigen Schaden anzurichten. Ein wenig zerbrochenes Tongeschirr und nicht ganz sorgsam in die Schränke zurückgeschobene Schubladen legten die Vermutung nahe. Danach – und noch gar nicht so lange her – hatte ein weiterer Besucher in das Haus gefunden. Der schien sich darauf beschränkt zu haben, über alles zu stolpern, das ihm im Weg stand, was zweifellos auf Ungeschicklichkeit wegen Volltrunkenheit zurückzuführen war. Mojeb schloß das aus einem umgestürzten Ölkrug, dessen Inhalt im Boden versickert war, und einem Schwert, das aus dem Krug ragte und das er als sein eigenes erkannte.

Mit einer sachten Bewegung des Haumessers forderte Mojeb den Fremden zum Weitergehen auf und folgte ihm ins Freie. Das Haus gehörte zu einem Dorf, das aus vier Gehöften bestand. Eine Scheune brannte. Wenn niemand das Feuer löschte, würde es in absehbarer Zeit auf das nächste Gebäude übergreifen. Doch wer sollte das tun? Keine Menschenseele war zu sehen.

Auf dem unbebauten Platz zwischen den Gehöften entdeckte Mojeb eine wahllose Ansammlung von Dingen, die jemand eilig aus den Häusern geschafft hatte, ohne sich darum zu kümmern, ob etwas dabei beschädigt wurde oder nicht. Er sah aufgerissene Säcke, aus denen Bohnen quollen und sich mit Mehl, Schmalz und eingelegten Früchten aus zerbrochenen Töpfen vermischten, Krüge mit Öl und Schnaps, deren Inhalt unter ihnen liegende Stoffe tränkte, dazwischen ein paar Hühner, denen jemand die Köpfe abgehackt hatte und deren Blut sich mit den anderen Flüssigkeiten vermischte. Schon jetzt war die Hälfte all dessen, was dort lag, verdorben. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, so bestünde noch immer die Frage, wie die Beute weggebracht werden sollte. Auf den einachsigen Wagen, den Mojeb beim ersten Gehöft stehen sah, paßte sie jedenfalls nicht.

Plötzlich rannte sein Begleiter weg. Einen Augenblick später verstand Mojeb endlich, warum der Mann diese erwünschte Handlung bisher vermieden hatte. Er war nicht allein! Auf seine Rufe kamen drei weitere Männer aus den Häusern gestürmt. Auch sie trugen Haumesser. Mojeb ärgerte sich. So abwegig war die Vorstellung schließlich nicht, daß ungebetene Besucher mitunter zu mehreren kamen.

»Von mir aus könnt ihr stehlen, was ihr wollt«, sprach er sie an. »Es kümmert mich nicht. Ich will keinen Anteil, und da ich euch nicht kenne, kann ich euch auch nicht verraten. Wir haben keinen Streit. Hört ihr? Wir haben keinen Streit!«

Die Erklärung schien die drei nicht sonderlich zu kümmern. Mojeb seufzte. »Ich sage es noch einmal: Ich will nichts von euch, aber ich besitze auch nichts. Es lohnt sich nicht, mit mir Streit anzufangen. Allerdings hin ich ein Jarmate. Wir sind ein arg unleidiger und nachtragender Menschenschlag. Hört ihr?«

Sie hörten nicht, blieben nicht stehen, kamen immer noch drohend näher. Mojeb überlegte, ob die Wirkungslosigkeit seiner Worte darauf zurückzuführen sei, daß jeder der drei einen halben bis ganzen Kopf größer war als er – wie anscheinend jeder erwachsene Mann in diesem Land –, oder darauf, daß sie einen nackten Menschen mit Buschmesser nicht als Gefahr betrachteten. Er sah von einem zum anderen. In den Augen der Herankommenden las er dasselbe wie zuvor hei ihrem Gefährten.

Mojeb kannte diesen Blick. Er spiegelte eine Gier wieder, die alles Sein und jedes Streben zu einzelnen Wörtern verdichtete. Wörter wie »wollen«, »nehmen« oder »töten«. Wörter, gegen die niemand anreden konnte.

»Na gut«, brummte er entschlossen. Langsam und selbstsicher, als hätte er nichts zu befürchten, ging er ins Haus zurück. Drinnen sprang er geschwind zu seinem Schwert, packte es und trat dann ebenso bedächtig und gleichgültig wie zuvor wieder vor die Tür. Dort zog er angewidert die Klinge aus der öltriefenden Scheide und rammte sie vor sich in den Boden. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und sprach: »Wie ich schon sagte, bin ich ein Jarmate!«

Die drei zögerten. Mojeb ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Zwischen ihnen und ihm gab es jetzt einen wesentlichen Unterschied. Ihre Haumesser waren dazu da, Zweige und Rohr abzuhacken oder Kokosnüsse zu spalten. Man konnte sich mit ihnen einen Weg bahnen, Felder abernten und Vieh schlachten. Man konnte auch einen Menschen damit töten, aber mit der Betonung auf auch. Bei einem Schwert war das anders bestellt. Es hatte genau einen Verwendungszweck. Nach Mojebs Erfahrung neigten viele Menschen zu der Annahme, daß jeder Träger eines Schwertes genau diesen einen Zweck die Hälfte seiner Zeit im Sinn haben müsse.

Die drei gehörten leider nicht dazu – oder sie scherten sich nicht darum.

Mojeb sah die Zweifel aus ihren Augen verfliegen und den Wahn zurückkehren. Er riß das Schwert aus dem Boden. Sein Arm flog vor. Zwei raumgreifende Schritte brachten ihn zum entferntesten seiner Gegner. Der sah die Klinge am ausgestreckten Arm auf sich zu rasen und verstand nicht, wie die sichere Entfernung von sieben Schritt, in der sich eben noch gewähnt hatte, so rasch zu einem Nichts zusammenschrumpfen konnte. Er schrie auf, riß die Arme hoch, stolperte, fiel und blieb liegen. Die Arme hielt er jetzt vor dem Gesicht. Die Schwertspitze senkte sich.

»Weg mit den Armen!« zischte Mojeb.

Der Gestürzte gehorchte nicht. Mojeb musterte die Kumpane seines Opfers. Die Entdeckung, daß ein geübter Fechter mehr war als nur ein starker Arm mit einem Schwert und es ihnen jederzeit genauso ergehen konnte wie ihrem Gefährten, hatte ihnen das Blut aus dem Gesicht getrieben.

Mit einemmal verfiel Mojeb in einen hämischen Singsang: »Weg mit dem Kopf! Weg mit dem Kopf! Weg mit dem Kopf!«

Er brach ab und starrte die anderen Männer an.

»Ja oder nein?« fragte er ruhig und hob das Schwert zum Schlag.

Sie antworteten nicht, sondern ließen ihren winselnden Gefährten im Stich. Eilig flüchteten sie.

Mojeb trat einen Schritt zur Seite. »Geh jetzt!« befahl er dem verbliebenen Plünderer. Der Mann erhob sich, tat einige Schritte, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und hastete seinen Spießgesellen hinterher. Mojeb kehrte zum Haus zurück und setzte sich schweratmend neben der Tür auf den Boden. Einen länger währenden Kampf hätte er heute nicht durchstehen wollen. Sein Kopf brachte ihn noch um!

Nach einer kurzen Verschnaufpause raffle er sich auf, ging ins Haus, kleidete sich an und packte seine Habseligkeiten zusammen. Soweit er es beurteilen konnte, schien alles noch da zu sein, außer seinem Federmantel, den er nirgends erblicken konnte. Der aus Tausenden von bunten Vogelfedern hergestellte Umhang war ein Schmuckstück gewesen! Es war ein sinnliches Vergnügen gewesen, mit der Hand über ihn zu streichen. Doch vor allem hatte er während der letzten Regenzeit hervorragende Dienste geleistet. Mojeb wußte nicht, ob es in ganz Ikarilla auch nur einen Menschen gab, der einen solchen Mantel anfertigen konnte. Zudem war er nicht billig gewesen.

Der letzte Gedanke bewog ihn nachzusehen, wie viele Münzen ihm noch verblieben waren. Er fand nur eine einzige aus Kupfer, von der er nicht sagen konnte, woher sie stammte. Er erinnerte sich nicht einmal, sie je zuvor gesehen zu haben. Mojeb schnippte die Münze weg. Wenn er schon nicht sagen konnte, woher das Geldstück stammte, wie sollte er dann jemanden davon überzeugen, ihm etwas dafür zu geben? Allerdings besaß er nun überhaupt kein Geld mehr.

Reumütig ließ Mojeb sich auf alle viere nieder. Nach einiger Zeit erfolglosen Suchens erhob er sich wieder. Manche Entscheidungen im Leben waren eben unwiderruflich, tröstete er sich.

Damit war über das weitere Vorgehen entschieden. Mojeb konnte zwar nicht abschätzen, ob die vereinbarte Zeit, nach der er seinen Dienst in der kleinen Festung hatte antreten wollen, schon verstrichen war, doch ohne Geld ließ sich schlecht feiern. Warum also eine Pflicht hinausschieben, die wenigstens geregelte Mahlzeiten versprach?

Vor dem Haus entfernte er von einem Besen, den er schon vorher dort hatte stehen sehen, das Reisig. An den Stiel band er einen Teil der Vorräte, welche die Plünderer zurückgelassen hatten: geschlachtete Hühner, einen Topf mit Mehl, einen mit Mus, einen Krug mit Öl, einen Beutel mit Bohnen. Er beeilte sich, da der Funkenflug von der Scheune inzwischen das Dach eines weiteren Hauses in Brand gesteckt hatte. Nicht mehr lange, und dieses Stückchen Welt, das von seinen Bewohnern aufgegeben worden war, wäre verschwunden.

Mojeb hatte keine Vorstellung, in welche Richtung er gehen mußte. Um unnötigen Ärger zu vermeiden, verließ er das Dorf in der entgegengesetzten Richtung zu der, die die Plünderer gewählt hatten. Irgendwo an der Küste stand die Feste. Weit konnte es nicht bis dorthin sein, allenfalls ein paar Stunden zu Fuß.

Im Gehen sah er nachdenklich zum Himmel. Der war heute hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Doch selbst wenn er frei gewesen wäre, so hätte man den Unheilsstern nicht sehen können – nicht tagsüber. Mojeb fragte sich, ob es tatsächlich erst Morgen sei oder ob der Tag viel weiter fortgeschritten sei, als er bisher angenommen hatte. Die starke Bewölkung beeinträchtigte sein Zeitgefühl. Sie war ungewöhnlich für diese Jahreszeit und paßte viel besser zur Regenzeit. Sein Mantel fiel ihm wieder ein. Was hatte er mit ihm angestellt? Er hatte das ganze Haus vergeblich nach ihm abgesucht. Aber vielleicht war das Haus, in dem er geschlafen hatte, nicht das erste gewesen, das er betreten hatte? Vielleicht lag der Umhang unversehrt in einem der Gebäude, die noch kein Feuer gefangen hatten, es aber bald täten? Vielleicht lag er auch am Eingang des Dorfes, achtlos über ein Gebüsch geworfen, oder hing längst über den Schultern eines flüchtigen Saufkumpans oder einer vergessenen Schönen? Der Mantel konnte tatsächlich überall sein. Alles war möglich, doch er wollte nicht weiter Hirngespinsten nachhängen.

Mojebs Weg führte durch die paar Äcker, die zum Dorf gehörten: vorbei an einem Getreidefeld, wo an kurzen Halmen beinahe reife Ähren wuchsen, und an einem Hain mit abgeernteten Mazeiabäumen. Zwischen langen Reihen niedriger Erdnußsträucher entdeckte er unversehens seinen Mantel. Er verließ den Weg, ging über das Feld, ohne darauf zu achten, wie viele der verblühten Pflanzen er zertrat. Ein Schwarm von Gewitterfliegen umtanzte ihn.

Der Umhang diente einer Frau als Unterlage. Die Fingerspitzen ihrer linken Hand hatte sie zwischen den Federn versteckt. Mojeb ging vorsichtig neben ihr in die Hocke und strich ihr die langen Haare aus dem Gesicht. Mit Anfang Zwanzig war sie einige Jahre jünger als er und schön wie alle Menschen Ikarillas: großgewachsen mit schlanken, ebenmäßigen Gliedern, hellbrauner Haut, schwarzbraunen, glänzenden Haaren und vollen Lippen. Mojeb hätte beschwören können, sie nie zuvor gesehen zu haben, doch er wußte es besser. Er war sich sicher, daß er einen Teil der Nacht mit ihr verbracht hatte. Vorsichtig erhob er sich wieder und zog sanft den Mantel unter ihren Beinen weg. Er hielt ihn vor sich, betrachtete ihn genauestens und stellte überrascht fest, daß er keinen Schaden davongetragen hatte. Ein kleines Wunder! Einer plötzlichen Eingebung folgend, bückte er sich und berührte sanft die Wange der jungen Frau. Sie war noch warm. Ihn traf keine Schuld. Mojeb war nicht erleichtert. Er hatte im Grunde nichts anderes erwartet.

Als er sich erhob, verlor er das Gleichgewicht, so daß er sich abstützen mußte. Die Erde neben der Frau war feucht und klebrig von denn Blut, das ihr aus einer tiefen Schnittwunde am Hals geflossen war.

»Bist du nun zufrieden?« fragte Mojeb die Tote barsch, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »War es das wert? Ein Mantel für ein Leben?«

Gleich darauf bedauerte er die Frage. Der Mörder hatte nichts an sich genommen. Sicherlich hätte er die junge Frau auch getötet, wenn er sie ohne den gestohlenen Umhang angetroffen hätte. Andererseits spielte die Zeit dennoch eine Rolle. Ohne den Mantel hätte die Frau keinen Grund gehabt, sich heimlich davonzuschleichen, und wäre in jenem verhängnisvoll falschen Augenblick nicht hier gewesen.

Mojeb schaute grübelnd zum Dorf zurück, von dem schwarze Rauchwolken aufstiegen. Er schüttelte den Kopf. Er wollte keine Anschuldigungen machen. Vielleicht waren die vier, mit denen er aneinandergeraten war, hierfür verantwortlich. Einen Hinweis darauf gab es nicht. Alles war möglich.

Schwermütig setzte er seinen Weg fort. Er konnte sich nicht darüber freuen, daß sein Umhang unbefleckt geblieben war, wiewohl er sich auch nicht das Gegenteil gewünscht hätte. Doch wer die Welt verließ, der sollte wenigstens Spuren hinterlassen.

Das Traumbeben

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