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Der Weise und das Ende der Welt

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Ein Dorf in Ikarilla, in der Nacht zum 17. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Die Stirnen beider Männer trafen sich genau über der Tischmitte.

»Autsch!« sagte Mojeb und legte seine Hand in saufbrüderlicher Zutraulichkeit auf den Nacken des ihm gegenübersitzenden Mannes.

Der stierte ihn aus rotunterlaufenen Augen an und fragte: »Was?«

»Was was?« meinte Mojeb.

»Was sie gesagt hat«, lallte sein Gegenüber.

Mojeb sah den anderen Mann verständnislos an. »Ich weiß nicht. Hab ich gerade was erzählt?«

»Ja.«

»Was denn?«

Der Angesprochene lehnte sich zurück, soweit das eben ging, da Mojeb seinen Griff zwar lockerte, aber nicht daran dachte, die Hand von dem Nacken zu nehmen. Er hielt sich ein Tuch vor den Mund, rülpste und stellte fest: »Du bist nicht von hier.«

»Nein«, sagte Mojeb. »Ich bin Jarmate.«

»Du bist ganz bestimmt nicht von hier«, beharrte der andere.

»Da hast du recht«, bestätigte Mojeb. Doch auch diese Antwort war nicht ausreichend.

»Keinen Augenblick glaub ich, daß du von hier bist.«

»Es ist ziemlich weit weg«, erläuterte der Mann aus Jarmatien. »Da kannst du noch so oft behaupten, du bist von hier.«

»Tu ich doch nicht. Ich hin nicht von hier. Ich komme ja nicht mal von da. Jedenfalls nicht neuerdings, dings, dingsbums. War seit Jahren nicht daheim.«

»Glaubichnich.«

Mojeb erhob ungeduldig die Linke, um seinem Zuhörer mit den Fingerknöcheln auf den Schädel zu schlagen, auf daß er etwas mehr Entgegenkommen zeige. Doch in diesem Augenblick fiel der bedrohte Kopf des anderen Mannes zur Seite. Sein Mund öffnete sich und entließ einen herzhaften Schnarchlaut.

»Bist du noch wach?« erkundigte sich Mojeb und tätschelte fürsorglich den Nacken seines Saufkumpans, aus dessen Mundwinkel ein Speichelfaden rann. Die Antwort war ein neuerliches Schnarchen.

»Langweilig«, sagte Mojeb angewidert und zog kräftig an dem fremden Nacken, worauf sein Gegenüber nach vorn kippte. Sein Kopf knallte auf die Tischplatte und kam gleich neben einer Schale mit zweifelhafter Pampe zu liegen, die schon hier gestanden hatte, als Mojeb vor Stunden, vielleicht auch vor Tagen eingetroffen war.

Der Jarmate sah sich flüchtig nach neuer Gesellschaft um. Er erhob sich und kletterte auf den Tisch, wo er auf allen vieren verharrte und gründlich darüber nachdachte, wie er es anstellen sollte, zusammen mit seinem Trinkbecher aufzustehen, ohne den Inhalt zu verschütten oder dabei vom Tisch zu fallen. Nach reiflicher Überlegung ging er dieses Kunststück an und bewältigte es glanzvoll. Strahlend blickte er sich in dem Gasthaus um. Er sah Zecher wie sich selbst in unterschiedlichen Phasen der Trunkenheit, sah Pärchen, die sich zärtlich oder freizügig liebkosten oder die sich gar in irrtümlich für dunkel gehaltenen Winkeln ohne Hemmungen einander hingaben. Er entdeckte eine Runde, in der jemand das schmalzigste Lied der Welt angestimmt hatte und bei den Kehrreimen von völlig überforderten Sangesbrüdern und -schwestern begleitet wurde. Er sah Gäste, die reglos vor sich hin starrten, ohne je mit anderen zu reden, sei es, weil sie erschöpft waren, oder sei es, weil sie sich von Anfang an in dem Zwiespalt befunden hatten, zwar Gesellschaft zu suchen, aber niemandem Gesellschaft leisten zu wollen. Er sah keinen, der von Herzen unbeschwert gewesen wäre.

Mojeb hob seinen Becher und schrie: »Trinkt!«

Er sah sich erwartungsvoll um, doch niemand schenkte ihm Beachtung. Abermals rief er ausgelassen: »Trinkt!« Obgleich er seine Aufforderung mit kleinen Tanzschritten begleitete, blieb das Ergebnis dasselbe. Zu allem Überdruß merkte er, daß ihm der Wein aus dem Becher den Arm hinunterrann. Plötzlich erinnerte er sich, daß er ursprünglich etwas anderes von sich hatte geben wollen. Er brüllte: »Trinkt! Morgen ist alles vorbei!« und lachte.

Niemand sonst lachte. Ein paar Schluchzer waren zu hören und ein zorniges »Halt’s Maul!«

Diese Leute verstanden einfach keinen Spaß, dachte er enttäuscht. Sie merkten nicht, wenn sie aufgezogen wurden. Wie oft hatte er ihnen schon gesagt, daß die Welt nicht untergehen werde, doch sie hörten immer weg. Sie taten so, als wüßten sie es besser. Von wegen! Bezichtigte man sie dann ob ihrer Verstocktheit völlig zu Recht, nur Dung im Kopf zu haben, so wurden sie für gewöhnlich streitsüchtig.

»Und du glaubst also, dich auszukennen«, herrschte ihn ein Tavernenbesucher an, der an den Tisch getreten war und offensichtlich Streit suchte. Mojeb konnte sich nicht daran erinnern, ihn angesprochen zu haben. Vielleicht hatte er laut gedacht. Da er nicht auf Streit aus war, antwortete er bereitwillig von der Höhe des Tisches herab: »Ich glaub es nicht nur, ich weiß es!«

»Und woher?« höhnte der andere. Er wirkte fehl am Platz. Zu reich, zu schnöselig. Zu besseren Zeiten hätte er sich bestimmt nicht in diese Kaschemme verirrt. Doch wo man einkehrte und sich aufhielt, schien in diesem Land, das sich in Gänze im Totentanz wiegte, keine Bedeutung mehr zu haben.

»Weil es so ist! Weil hierfür die falsche Jahreszeit ist!« gab Mojeb die ausstehende Antwort. Sein Gegenüber zeigte darauf einen Gesichtsausdruck, den er bereits kannte. Nicht zum ersten Mal erlebte er, daß ihn jemand wegen seiner Behauptung für irre hielt. Aber dieses Mal spiegelte sich in dem anderen Gesicht mehr wider, nämlich daß sein Besitzer – irre hin oder her – sich nicht mit seiner Einschätzung zufrieden geben wollte. Zum Glück trat Tasila hinzu und zerrte den Schnösel weg, bevor er handgreiflich wurde.

»Hör nicht auf ihn! Der Arme weiß doch nicht, was er sagt«, sprach sie beruhigend auf ihn ein und warf Mojeb einen flehenden Blick zu. Der hob die Hand in einer verzeihenden Geste und stapfte zum Ende des langen Tisches und wieder zurück.

Alles war doch so einfach, murmelte er. Aber vielleicht war es schwer auszudrücken. Wie er in seiner Jugend gelernt hatte, bestimmten drei Kräfte die Welt: das Ja, das Nein und das Unbestimmte. So wie es kalte Winter und heiße Sommer gab und Zeiten, zu denen man nicht recht wußte, woran man war. Etwa, wenn der Winter ging, aber der Frühling noch nicht da war. Oder wenn ein Winter kam, in dem kein Schnee fiel, sondern das Wetter nur schlecht wurde und schlecht blieb, bis es irgendwann wieder besser wurde. Was war das? Etwas Unscharfes, Verschwommenes. Nicht Winter, aber auch nicht ›nichts‹. In den Bergen seiner Jugend, ganz tief im Süden, hatte das jeder verstanden. Doch hier, wo man im Grunde gar keine Jahreszeiten kannte, fiel es den Einheimischen schwerer. Dennoch: Warum konnten die Leute hier nicht begreifen, daß ein wahrhaft welterschütterndes Ereignis wie das Ende allen Seins ausschließlich im heißesten Sommer oder im kältesten Winter stattfände, nämlich bei ganz klaren Verhältnissen? Anderes war nicht zu erwarten: Die Welt mochte vielleicht mit einem Knall enden oder einem Flüstern, aber ganz gewiß nicht beiläufig und nebenbei! Das wäre doch zu läppisch!

»Komisch, daß du dann nicht gelassen zu Hause sitzt und das Maul hältst, sondern genau dasselbe treibst wie wir dummen anderen!« hörte Mojeb den Schnösel sagen. Tasila war mit ihrer Ablenkung anscheinend nicht allzu erfolgreich gewesen.

Mojeb klopfte sich entrüstet auf die Brust: »Habe ich denn behauptet, dieser verfluchte neue Stern sei ein Heilszeichen? Wie käme ich dazu? Seitdem ich bei euch bin, redet man mir unablässig ein, daß er großes Unheil verheiße. Ich bestreite nicht, daß es so sein kann. Doch zwischen einem Weltuntergang und einem beschaulichen und zufriedenstellenden Leben gibt es eine Fülle unerquicklicher Verhältnisse, die du bestimmt nicht erleben willst. Schlimmes mag geschehen, Grauenhaftes gar. Glaube mir, ich sage das nicht nur so. Ich habe einiges gesehen. Aber es wird nicht das Ende sein!«

Der Schnösel winkte ab. »Narrengeschwätz!«

Mojeb schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Ich bin der einzige Schlaue hier!« Er sprang vom Tisch, wobei er sich auf etwas stützte, das sich ihm hilfreich entgegenstreckte. Zu spät bemerkte er, daß es der Kopf seines vormaligen Trinkgefährten war, der sich gerade erhob. Dieses Mal drückte Mojeb ihn nicht neben die Schale mit dem zwielichtigen Inhalt, sondern mitten hinein. Der Kumpan störte sich nicht weiter daran und schlief wieder ein.

»Und worin sollte sich deine Schläue äußern?« fragte ihn der Möchtegernstreithahn überheblich.

Doch Mojeb beachtete ihn nicht weiter. In sich hinein lächelnd, stolperte er ins Freie, wo es zu seiner Überraschung Nacht war. Er gönnte den Myriaden leuchtender Sterne einen kurzen Blick, während er zur Maultiertränke wankte. Dort sammelte er sich, hielt die Luft an und tauchte dann rasch den Kopf ins Wasser. Es war nicht eisig kalt, wie er stillschweigend erwartet hatte, sondern eine lauwarme Brühe. Trotzdem wiederholte er sein Tun so lange, bis er sich wieder frischer fühlte. Eine Zechtour, die man verschlief, war zumindest Verschwendung, wenn nicht gar Sünde!

Er ließ sich an dem Trog nieder, um eine Weile die Nachtluft zu genießen. Plötzlich mußte er kichern. Selbstverständlich war er schlau!

Sein letzter Aufenthaltsort war ein Landstrich gewesen, den der Krieg so ausgezehrt hatte, daß niemand mehr wußte, warum er dort länger verweilen sollte. Ein triftiger Grund hatte ihn nach Ikarilla geführt, als der allgemeine Wahn sich schon breit gemacht hatte. Mojeb hatte in seinen fast dreißig Lebensjahren einiges an Leid und Not gesehen und eine wichtige Lehre daraus gezogen: Wenn es keine Hoffnung mehr gab, keine Aussicht auf Rettung, keinen Gedanken an ein Morgen, wenn alles Streben nur noch der Gegenwart galt, dann war die Zeit gekommen, wo der Kluge trank, sang und tanzte. Denn billiger würde das Leben nicht mehr werden. Nie bekam man so viel für sein Geld wie zu Zeiten des Weltuntergangs, wenn niemand mehr einen Sinn darin sah, zu sparen, zu raffen oder zu geizen. Das hatte er in den letzten Tagen ausreichend bestätigt gefunden.

Sicherlich, wenn der letzte Augenblick ausbliebe und statt seiner ein weiterer käme und dann noch einer, gar ein neuer Morgen, dann würden die Preise in schwindelerregende Höhen schnellen. Doch jetzt zu knausern konnte diese Entwicklung nicht verhindern, sondern würde allenfalls dazu führen, daß er für Monde, vielleicht Jahre der verpaßten Gelegenheit hinterhertrauerte.

Zu Beginn seines Aufenthalts in Ikarilla hatte der raschen Umsetzung dieser einfachen Philosophie allerdings im Wege gestanden, daß seine Barschaft von der weiten Reise arg zusammengeschrumpft war. Also hatte Mojeb kurzentschlossen in einer kleinen Gefängnisfeste seine Dienste angeboten. Dem etwas seltsamen Kommandanten der Burg hatte er vorgeschwärmt, daß er erfahren mit der Waffe sei, dazu treu und pflichtbewußt und zudem – was wohl alles sage – ein Jarmate! Dann war er zum Wermutströpfchen gekommen: Seinen Dienst könne er allerdings erst in ein paar Tagen antreten. Jedoch benötige er jetzt gleich einen Vorschuß auf den Sold, am besten für die nächsten beiden Monde.

Mojeb war noch immer unverständlich, warum der Kerkerkommandant so überraschend schnell eingewilligt hatte. Fast schien es, als wollte er seinen neuen Gehilfen schleunigst wieder loswerden. Doch seiner Erfahrung nach hatten es Kerkerkommandanten niemals eilig. Sie hatten stets alle Zeit der Welt. Es sei denn, sie waren nicht das, was sie zu sein vorgaben. Etwa Häftlinge, die sich als Kerkerkommandanten ausgaben. Oder sie waren selbst Halunken, die vielleicht planten, mit der Soldkasse ...

Mojeb schreckte auf, rieb sich Augen und wunderte sich. Er hatte sich doch nur kurz gegen den Trog lehnen wollen, um sich ein wenig auszuruhen! Anscheinend war er dabei eingenickt. Wieviel Zeit mochte wohl verstrichen sein?

Steif erhob er sich und kehrte in die Taverne zurück. Viel hatte sich dort zwischenzeitlich nicht verändert: Die Sangesrunde mißhandelte ein neues, noch süßlicheres Lied, und der Bursche, der Streit mit ihm gesucht hatte, kauerte in einer Ecke und heulte Rotz und Wasser.

Wie es längst üblich war, füllte Mojeb seinen Becher selbst. Als bald darauf Tasila bei ihm vorbeikam, schlang er den Arm um ihre Hüfte und zog sie auf seinen Schoß. Er küßte sie auf die Wange und flüsterte: »Danke für deine Hilfe, Tasila. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich heiße nicht Tasila, sondern Tulila«, antwortete sie.

Er lachte: »Du hast mir selbst gesagt, du hießest Tasila.«

»Wohl kaum«, beharrte sie. »Wir haben bisher nicht einmal miteinander geredet. Tasila steht dort drüben.«

Sie zeigte auf eine ihm wildfremde Frau.

»Die habe ich noch nie in meinem Leben gesehen!« beschwerte sich Mojeb.

»Nun, ich bin Tulila«, erklärte Tulila. »Das ist Tasila. Mit mir hast du dich nicht unterhalten. Und wenn es Tasila auch nicht war ...«

»Dann gibt es noch eine weitere«, folgerte Mojeb scharfsinnig.

»Vikaheilauloali?« schlug Tulila vor. »Aber die habe ich seit drei Wochen nicht mehr gesehen.«

»Nein, die bestimmt nicht. Bis eben wußte ich nicht einmal, daß man so gottlos heißen kann!«

Er stand so schnell auf, daß Tulila beinahe von seinem Schoß gerutscht wäre. Entschlossen schlüpfte er in seinen Mantel, nahm sein Schwert und was ihm sonst noch gehörte und wankte aus der Taverne. Es war an der Zeit, dieses Haus der Wirrungen zu verlassen und einen Ort zu finden, wo die Schankmaiden nicht ständig die Namen wechselten.

Als sich Mojeb viel, viel später in einem fremden Bett wiederfand, gestand er sich ein, daß seine Bemühungen, in der Zukunft nichts zu bedauern zu haben, zu manchen Zeiten Einsprengsel von Reue aufwiesen. Seine Schlafstatt schien sich wie ein Floß auf hoher See zu bewegen. Er fürchtete sich davor, sich übergeben zu müssen und anschließend am Erbrochenen zu ersticken. Doch gleichzeitig fühlte er sich nicht in der Lage, irgend etwas gegen das drohende Verhängnis zu unternehmen.

Das Traumbeben

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