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Der Vertreter der Himmlischen Mächte und das Meer

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Golf von Ikarillia, 600 Schritt über dem Wasser, am 17. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij lauschte den vielen gleichzeitig gesungenen Liedern des Windes. Mühelos hörte er die beiden für ihn wichtigsten heraus: das schrill zirpende Rauschen und das dumpfe, verzögerte Kollern. Mit dem Rauschen lockten die warmen Strömungen, die ihn weiter nach oben tragen würden, mit dem Kollern hingegen die kühleren, die ihn wieder tiefer brächten.

Er flog über das Meer. Das tat er nicht oft. Meist flog er über das Land. Doch heute flog er über das Meer. Die anderen Geier flogen nie über das Meer. Auf dem Meer gab es nichts zu entdecken. Auf dem Land dagegen immer. Doch Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij wußte um seinen Ruf. Wenn es etwas zu entdecken gab, so würde er es entdecken. Die anderen Geier glaubten fest daran, daß er alles entdeckte. Auf dem Land. Sogar im Wasser! Jedenfalls tags. Nachts nie. Deshalb folgten ihm immer noch welche, obwohl ihre Schreie verkündeten, daß es ihnen unangenehm war.

Heute fielen viele Steine vom Himmel.

Auf dem Meer schwamm ein großes Holz. Es war ein besonderes Holz. Eines von der Sorte, auf dem kahle Bäume wuchsen und Menschen gern in der Sonne standen oder umherliefen. Üblicherweise gab es auf solchen Hölzern nichts zu entdecken. Dennoch war Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij einmal auf einem solchen Holz fündig geworden. Er hatte sich von einem scharrenden Wind hintragen lassen und war gelandet. Zielstrebig hatte er sich der Entdeckung genähert, doch sie war noch nicht soweit gewesen. Weil ihn die vermeintliche Entdeckung mit Gegenständen beworfen hatte, hatte er sein Verlangen für sich behalten müssen. Dennoch änderte das nichts daran, daß er einmal auf einem Holz im Wasser fündig geworden war.

Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij sah aus einem Loch des Holzes ein Menschenweibchen herauskommen. Es hatte schwarz-weißes Haar und ein rotes Gesicht. Damit ähnelte es dem Weibchen, auf das er sich bei nächster Gelegenheit setzen wollte. Das war ein anziehendes Geierweibchen! Kein anderer Geier würde sie ihm streitig machen. Denn er war ein Geier, mit dem andere Geier flogen. Er war ein Geier, der jede Entdeckung erspähte. Und außerdem war er ein flinker Hacker.

Plötzlich sah Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij, daß auf dem Unterarm des Menschenweibchens ein winziger Wal lag. Allerdings bewegte er sich so wenig, daß er durchaus eine Entdeckung sein konnte! Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij folgte einem Brummwind tiefer hinab. Nun erkannte er, daß der winzige blaugrüne Wal auf dem Arm des Menschenweibchens nur ein Schatten war, der wie ein Wal aussah. Er würde nie der Entdeckung harren, es sei denn, zusammen mit dem Arm.

Wieder fiel ein Stein von Himmel. Er verschwand im Wasser, nur einen kurzen Schlenkerflug von dem Holz entfernt. Dort, wo er lautlos eingetaucht war, spritzte das Wasser. Es spritzte nicht, wie Wasser spritzte, wenn Wassertropfen darauf fielen. Es spritzte nicht wie Wasser, wenn Wale riefen. Es spritzte ganz ungeahnt. In einer Säule stieg es höher auf als ein Hügel, höher auf als ein Berg, so hoch, daß das Holz ganz in seinem Schatten verschwand!

Mit einemmal wurden alle Geier ganz aufgeregt, denn die Wassersäule kreischte. Sie brüllte schriller als der Wind über nacktem Fels in der Wüste Ziij!

Und wie Nebel, aber dichter als eine Wolke vor dem Abregnen, dehnte sie sich rasch aus. Sie war heißer als die Sonne!

Das Gefolge flog schnell davon. Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij flog schnell davon. Niemand zögerte. Niemand wurde von der kreischend heißen Luft umschlossen! Niemand wollte das.

Doch das Holz verschwand in der Wolke. Ebenso die Menschenfrau. Und auch der winzige Wal. Alle verschluckte die dicke Nebelwolke, die heißer als die Sonne auf seinem Gefieder war.

Wie das Wasser hochgespritzt war, so fiel es wieder hinab. Doch die Wolke blieb. Sie schwebte über dem Wasser und blieb. Sie eilte nicht dorthin, wohin Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij und das kleine Gefolge flogen. Denn alle Geier kehrten um. Sie hatten genug Meer gesehen.

Dennoch folgte ihnen etwas, nämlich eine Welle. Sie war entstanden, als der Stein vom Himmel ins Wasser gefallen war. Nun eilte sie in alle Richtungen, wie das immer war. Sie kehrte nicht um. Geier kehrten um. Die Welle versuchte die Geier einzuholen. Sie eilte auch dahin, wo die Weidegründe der Menschen lagen. Sie wohnten unter Dächern. Oft unter Dächern, nicht immer, doch meist. Heute waren sie erregt. Sie liefen umher, schüttelten die Arme, spreizten sie leicht und schrieen. Für gewöhnlich war das ein gutes Zeichen. Fast immer ging es einer Fülle von Entdeckungen voraus. Niemand mußte hungern.

Vor dem Land mit den Weidegründen war Wasser. Auf dem Wasser schwammen große Hölzer. Auch auf ihnen gingen Menschen umher oder standen in der Sonne.

Die Welle kam. Sie schlug aufs Land. Sie schob Dächer weg, hob alle schwimmenden Hölzer an und warf sie dorthin, wo vorher die Dächer gewesen waren. Jetzt waren sie nicht mehr da. Sie waren weg. Das Meer kehrte um, auch wenn es kein Geier war.

Ein Tag verging, und die Nacht kam.

Ein Tag verging nochmals, und die Nacht kam.

Ein Tag kam. Alle Geier kehrten zurück zu dem Hügel, wo immer sie auch in den Tagen gewesen waren. Sie waren überall gewesen. Sie kamen aus allen Richtungen des Himmels. Sie waren vollgefressen, aufgebläht und träge. Sie waren alle satt. Keiner hungerte.

Sie waren nicht zufrieden.

Sie hüpften, schüttelten das Gefieder, zischten, hackten einander, als wollten sie ihn, Fiiij-den-Flinken-Hacker-fiiij, wissen lassen: »Überall gibt es Entdeckungen in Fülle. Nicht nur hier wird geschlemmt! Viele Tage entfernt wird geschlemmt. Wohl auch da, woher wir kamen. Überall sind die Bäuche voll. Dennoch flogen wir viele Tage lang und kehrten nicht um. Aber nachts nicht.«

Fiiij-der-Flinke-Hacker-fiiij tat so, als ginge es ihn nichts an. Er säuberte mit dem Schnabel sehr gründlich sein Gefieder. Auf diese Weise ließ er das Gefolge unmißverständlich wissen: Ich habe euch ins gelobte Land geführt. Ihr seid mir gern gefolgt. Doch ich habe nie behauptet, daß an unserer alten Heimat etwas auszusetzen gewesen sei.

Das Traumbeben

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