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Das Geheimnis der Gefangenen

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In der Umgebung der Gefängnisfestung Ivaova, einige Stunden später

Für den Marsch hatte Mojeb den Gefangenen mit den behelfsmäßigen Stricken, die Omaru aus der Jacke des Toten gefertigt hatte, die Hände auf den Rücken gebunden. Allein Mataiu durfte ungefesselt gehen. Ihn hatte Mojeb dazu ausersehen, sein Gepäck, die Überreste des Essens und einige zusätzliche, für künftigen Verzehr schon vorgebratene Streifen des Walfleisches zu tragen. Seine Beförderung zum Lastenträger verdankte der schweigsame Mann nicht dem Umstand, daß er stärker gewesen wäre als die anderen Gefangenen, sondern weil ihn Mojeb für den Langsamsten in der Gruppe hielt. Sollte er zu fliehen versuchen, so wäre es bei ihm am einfachsten, ihn wieder einzufangen.

Mojebs Ziel war der Bauernhof, an dem er vorbeigekommen war. Dort wollte er sich kundig machen, wo der Herr und Besitzer dieser Gegend seinen Wohnsitz hatte oder ob es vielleicht eine nahe gelegene Burg gab, wo er die Gefangenen abliefern konnte. Er hatte ihnen selbst schon diese Frage gestellt, jedoch keine brauchbare Antwort erhalten.

Sie wüßten das nicht, hatten sie geantwortet. Sie seien Wanderarbeiter. Die Gegend sei ihnen nicht sonderlich vertraut, und wer irgendwo herrsche, habe sie noch nie gekümmert. Sie seien einfache Leute.

»Und verurteilte Hochverräter«, hatte Mojeb ergänzt. Die Erklärung der Gefangenen war zwar glaubhaft, doch wenn sie darauf bauten, daß er sie gehen ließe, wenn er nicht mehr weiter wüßte, so hätten sie ihm genau dieselbe Antwort gegeben.

Wie sich schnell herausstellte, benötigte Natanui aus unerfindlichen Gründen die Hände zum Gehen. Innerhalb kürzester Zeit war er zweimal gestolpert und der Länge nach hingefallen.»Ich mache das nicht mit Absicht«, beteuerte er mit Tränen in den Augen. »Ich kann nichts dafür. Bitte, ich brauche meine Hände.«

Mojeb schüttelte den Kopf über so viel Ungeschicklichkeit.

»Lern gehen«, empfahl er ihm. »Alt genug bist du doch.«

Doch kurz darauf drohte sein Gefangener abermals zu stürzen. Mojeb fing ihn rechtzeitig auf und führte ihn von nun an am Arm. Er war überrascht, wie dünn dieser war. Eine Woche hungern konnte niemanden so abmagern lassen. Der Mann hatte schon vorher nicht genug zu essen gehabt. Erstaunlich, in diesem fruchtbaren Land!

»Einfacher wäre es, ihm die Fesseln abzunehmen«, schlug Keloe vor.

»Noch einfacher wäre es, euch laufen zu lassen, nicht wahr?« gab Mojeb schnippisch zurück.

Darauf antwortete sie nichts. Schweigsam ging es weiter. Der Weg war wirklich nicht der beste. Die Erde war noch nicht wieder ganz getrocknet. In Mulden und alten Spuren von Karrenrädern stand das Wasser. Ein kurzer, aber uni so heftigerer Regenguß sorgte dafür, daß die ockergelbe Erde auch weiterhin feucht und glitschig blieb.

Mojeb sah ein, daß der dahinstolpernde Natanui nicht sein einziges Sorgenkind war. Alle Gefangenen waren erschöpft und brauchten etwas Ruhe.

»Ich werde euch bis zu einem Gehöft bringen«, erklärte er. »Da bleiben wir bis morgen. Sicher wird man mir dort auch sagen, wohin ich euch bringen kann.« Er stieß einen kurzen Lacher aus: »Mit etwas Glück sitzt ihr dann bald wieder im Trockenen.«

Als er merkte, daß niemand in sein Lachen einstimmte, gab er ein unwilliges Brummen von sich. Diese Leute verstanden einfach keinen Spaß. Nie merkten sie, wenn er sie aufzog.

Bald darauf war das Gehöft, wie angekündigt, zu sehen. Es war als geschlossenes Rechteck angelegt. Wohnbereich und Scheune oder vielleicht auch Stallungen nahmen je eine Seite ein. Die anderen beiden Seiten schienen – soweit das bereits zu erkennen war – nur aus einer Außenwand und Stützbalken zu bestehen, die ein Dach aus Palmblättern trugen. Unter ihm konnte man – geschützt vor zu viel Sonne und Regen – im Freien arbeiten, aber sich auch sonst aufhalten.

»Hier wirst du nichts erfahren«, erklärte Oman plötzlich laut. »Das Haus ist unbewohnt. Deshalb solltest du gar nicht erst jemanden zu fragen versuchen.«

Da Mojeb noch nie versucht gewesen war, abwesende Menschen zu befragen, gab er zunächst nichts auf den im gewohnten Brummton erteilten Ratschlag. Näher beim Gehöft erkannte er aber, worauf ihn Omaru hatte hinweisen wollen, nämlich den Kadaver eines der grauen, überaus langhornigen Rinder, die man in dieser Gegend hielt.

Das tote Tier hatte Geier unterschiedlicher Arten angelockt, die es entsprechend ihren Freßgewohnheiten verzehrten. Die größeren Vögel rissen mit scharfen Schnäbeln die zähe Haut des Rindes auf, während sich die kleineren einstweilen den Augen und Körperöffnungen zuwandten. Als sie die Menschen bemerkten, wurden ihre Bewegungen verhaltener. Sie trauten den Neuankömmlingen nicht und waren auf der Hut. Sie fraßen und schauten, hackten flink und hatten sogleich wieder den Blick auf die Menschen gerichtet. Ein Vogel hatte sogar ganz mit dem Fressen aufgehört und schaute mit leicht schräggelegtem Kopf herüber. Sein gelbes Gesicht, die Stirn und auch die Vorderseite des Halses waren unbefiedert, wodurch er aussah, als trüge er eine Kapuze. An seinem Hinterhaupt bildete ein Kranz abstehender Federn ein Krönchen, was dem Tier einen abenteuerlustigen Ausdruck verlieh. Ein bißchen erinnerte der Vogel Mojeb an die Schmutzgeier der Jarmatischen Berge. Allerdings war dieser Aasvertilger größer, und sein Schnabel war kräftiger. Hinzu kam das Gefieder: nicht schwarz-weiß, sondern durchgehend aschgrau. Nur am Kopf war es etwas heller.

Mojeb mußte schmunzeln. Wie leicht es die Körperhaltung des Geiers doch machte, sich einzureden, daß er die Zweibeiner aus seinen tiefschwarzen Augen voller Neugier beobachte!

Als hätte das Tier den Menschen verstanden, hob es urplötzlich den rechten Fuß und streckte ihm diesen mit gespreizten Zehen entgegen.

»Er winkt mir«, rief Mojeb begeistert aus und stellte sich und seine Gefangenen dem Geier vor. »Ich heiße Mojeb. Die da gehören mir. Die kannst du noch nicht haben. Vielleicht später.«

Dieses Mal erwartete er gar nicht, daß jemand außer ihm lachte. Langsam gewöhnte er sich daran, der einzige Mensch weit und breit zu sein, der einen Scherz zu würdigen wußte.

Geschmeidig verbeugte er sich wie vor einer hohen Persönlichkeit und sprach: »Nun, Kleiner, was hat dich hierhergeführt?«

Er war ganz überrascht, als das Tier wie in Nachahmung einer Antwort laut mit dem Schnabel klapperte, worauf umgehend unter den anderen Vögeln ein beachtlicher Lärm ausbrach.

Mojeb richtete sich wieder auf und sprach mit erhobener Stimme: »Der Kleine gefällt mir. Wenn seine Art nur nicht so widerlich wäre! Sie fressen alles, wirklich alles.«

Mit einer Kopfbewegung forderte er die Gefangenen zum Weitergehen auf und führte sie durch einen Torbogen in den Innenhof des Gehöfts. Auch hier hatten die Geier schon gewirkt. Obwohl sie sorgfältig vermieden hatten, irgend etwas Freßbares übrigzulassen, konnte sich Mojeb schnell zusammenreimen, welches Trauerspiel hier stattgefunden hatte: Ein Marder oder ein Frettchen war in das Hühnerhaus eingedrungen und hatte das Geflügel umgebracht. Schiere Mordlust hatte den kleinen Räuber getrieben, nicht Hunger. Blutflecken, Federn und zersplitterte Knochen kundeten davon.

Der Hof war verlassen. Keiner seiner Bewohner hatte den Geiern das Aufräumen streitig gemacht.

»Der Hof ist verlassen«, brummte Omaru.

»Ich weiß«, entgegnete Mojeb. »Ich weiß. Wir werden bis morgen bleiben, doch zuerst ... Du da, deine Hände.«

Mataiu streckte ihm zuerst die eine Hand entgegen, dann die andere. Dann begriff er, was Mojeb von ihm wollte. Er setzte das Gepäck ab und ließ sich fesseln wie die anderen Gefangenen.

»Ich binde euch später los«, versprach Mojeb. »Doch zuerst will ich mich umsehen. Ihr rührt euch solange nicht von der Stelle!«

»Der Hof ist verlassen«, wiederholte Omaru.

»Ich weiß«, bestätigte Mojeb und zog sein Schwert. »Aber manchmal weiß man es eben doch nicht.«

Entschlossen ging er zur Scheune, trat die Tür auf und schlüpfte in das Zwielicht, das ihn dahinter erwartete. Während er zügig, aber aufmerksam diesen Flügel des Bauernhofs durchschritt, nahm er wohlwollend zur Kenntnis, daß er nicht nur als Scheune diente, sondern auch als Vorratsraum. Als solcher war er üppig ausgestattet. Hier ließ es sich eine Zeitlang gut leben! Vorausgesetzt, man hatte keine Verbrecher dabei, denen ihr Kerker abhanden gekommen war.

Da keine Tür in den Wohnflügel führte, trat Mojeb wieder ins Freie. Alle Gefangenen waren noch da, und niemand war hinzugekommen. Vor allem niemand, der ihm mit einem Haumesser den Unterschlupf und die Vorräte streitig machen wollte. Wie beruhigend. So sollte es auch bleiben!

Bevor er sich weiter umsah, durchquerte Mojeb rasch den Hof, zog das Tor zu, verschloß es mit einem Balken, rüttelte daran und spuckte unwillig aus. Den Marder würde es vielleicht aufhalten, einen halbwegs kräftigen Menschen jedoch nie und nimmer. Mit etwas Glück würde ein mit Gewalt Eindringender wenigstens Lärm verursachen.

»Was will man von einem anständigen Tor auch mehr erwarten«, sprach Mojeb unzufrieden zu sich selbst und lief erneut über den Hof zum Wohngebäude. Drinnen sah es so ordentlich aus, als wären die rechtmäßigen Besitzer nie fortgegangen.

Wie er beim Betreten der Schlafkammer feststellte, waren sie das auch nicht. Der Mann und seine Frau, beide in den Siebzigern, hatten sich vor höchstens vier Tagen in ihrer besten Kleidung ins Bett gelegt, um nicht mehr aufzustehen. Friedlich lagen sie nebeneinander, ihre Hand in der seinen. Hatte die Furcht vor der Ungewißheit die beiden getötet, oder hatten sie absichtlich diesen Weg gewählt, um der Angst vor dem Ende der Welt zu entkommen? Mojeb wußte es nicht zu sagen. Er verließ die Alten, schob eine Truhe vor ihre Kammer und ging wieder nach draußen.

»Niemand da«, verkündete er den Gefangenen.

»Der Hof ist verlassen«, bestätigte Omaru.

»Ich weiß«, stimmte Mojeb geduldig zu.

»Du wirst niemanden fragen können«, fuhr der Ältere fort.

Mojeb legte den Finger vor die Lippen und machte: »Pst!«

Dann nahm er seinen Schützlingen die Fesseln ab und entfernte das Seil, das ihre Hälse miteinander verband. Ohne auf eine ausdrückliche Erlaubnis zu warten, begaben sich die Gefangenen unter das Dach des Laubengangs und streckten sich auf der blanken Erde aus, um zu dösen oder einzuschlafen. Mojeb setzte sich in den anderen Gang mit dem Rücken zur Wand, wobei er das Schwert zwischen den angewinkelten Beinen hielt. Als ihm langweilig wurde, ging er in die Scheune, wo er an einem zugedeckten Bottich vorbeigekommen war, aus dem es nach Bier roch. Er füllte seine Trinkschale, setzte sich zu den schlafenden Gefangenen, räkelte sich, trank und verzog das Gesicht. Das Bier schmeckte, als wäre es aus Rüben gebraut worden! Gewohnt, nichts verkommen zu lassen, leerte Mojeb die Schale trotzdem.

Da ihm immer noch langweilig war, fischte er das Medaillon aus seinem Gürtel. Wie schon so oft sog er den Anblick des Frauenbildnisses in sich auf: das schöne Antlitz, das ihn stets neu verzauberte, die ungemein fein gemalten Haare, die zierliche rechte Hand mit den leicht gekrümmten Fingern, die über der linken Brust ruhte.

Ein eisiger Schrecken durchfuhr Mojeb! Er sprang auf, rannte zur Mitte des Hofes und betrachtete die Miniatur im helleren Licht eingehend von oben und von der Seite. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Kein Zweifel: Auf dem Stück Unterarm, das der Bildausschnitt des Halbporträts zeigte, war ein winziger Fleck. Vielleicht nur Schmutz, doch vielleicht war auch Farbe abgeblättert! Mojeb traute sich nicht, an dem Fleck zu reihen. Womöglich blätterte dadurch noch mehr Farbe ab. Und mehr und mehr!

Er war todunglücklich. Sein größter Schatz! Er hatte ihn schlecht behandelt. Vielleicht war er in den vergangenen Tagen volltrunken darübergefallen oder daraufgetreten. Doch halt, das konnte nicht sein! Das Gehäuse wäre dann verbeult gewesen. Also blieb nur eines: Die Gürteltasche war kein sicherer Aufbewahrungsort. Das mußte er ändern! Künftig würde er das Medaillon, eingeschlagen in weiche Tücher, in einem Kästchen aufbewahren! Einem stabilen, mit Eisenbändern drum herum. Da wäre es sicher aufgehoben!

Allerdings wäre es damit das erste, was ihm ein Dieb abnähme. Wertvolle Dinge bewahrte man stets in Kästchen auf. Dem Dieb wäre das Gemälde vermutlich gleichgültig. Er würde es achtlos aus dem Medaillon herauszupfen, es wegwerfen, vielleicht zerfetzen, um nur das Silber zu behalten.

Kein guter Einfall.

Da wäre es schon besser, sich ein größeres Medaillon zu beschaffen, in dem er das kleinere aufbewahren konnte. Das wollte er dann immerfort um den Hals tragen. Und wenn dann einer käme, um ihn am Kragen zu packen oder zu würgen und dabei die Kette abrisse ...

Kein guter Einfall.

Da wäre es schon besser, etwas zu besorgen, das Platz für ein Geheinfach böte. Etwas, das man dauernd mit sich führen könnte, ohne daß sich irgend jemand etwas dabei dächte. Etwa ein Musikinstrument. Eine kleine Trommel oder ein dickbauchiges Saiteninstrument. Doch, nein, stabiler mußte es schon sein. Denn falls sich jemand versehendlich darauf setzte, sollte das Geheimnis nicht gleich verraten werden! Ein Schild vielleicht. Ein Schild, wie ihn diese Irren bei Gullar benutzt hatten: zwei Schritt hoch und vier Zoll dick. Nach der Schlacht hatten die unhandlichen Dinger überall herumgelegen, da ihre Besitzer sie während der Flucht weggeworfen hatten. Sowieso das beste, was sie hatten tun können. Doch jetzt käme ein solcher Schild gelegen. Mühelos fände sich darin Platz für ein Geheimfach samt Medaillon. Und ein Mann des Schwertes, der mit einem Schild herumliefe ...

Ein sehr guter Einfall!

Jedenfalls, wenn man davon absah, daß er sich damit völlig zum Narren machen würde.

Da wäre es schon besser ...

»Fehlt dir etwas?« erklang Tiugugus gefällige Stimme.

Geschwind steckte Mojeb das Medaillon weg, bevor er sich zu dem kleinen Mann umdrehte und schroff »Nein!« antwortete.

Sein letzter Gedanke, der fraglos beste von allen, war ihm wegen der Störung entflohen!

»Ich frage mich, wie du es fürderhin halten willst«, sprach Tiugugu grinsend weiter. »Du kannst nicht ständig wach bleiben.«

»Ich weiß«, stimmte Mojeb zu. »Du wirst mich deshalb vertreten müssen. Ich mache dich zu meinem Zweiten.«

Um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Das war ein Scherz. Ganz gewiß werde ich dich genauso fesseln wie deine Kumpane. Ich habe sogar richtige Stricke für euch gefunden. Schön, nicht? Und über Nacht werdet ihr im Wohnhaus eingesperrt. Dort gibt es genügend Kammern. Uns reichen zwei: eine für euch, eine für mich.«

Er schlenderte zu den noch Schlafenden, um sie zu wecken. Der Tag ging zu Ende. Es war an der Zeit, sich um das Abendessen zu kümmern.

Als alle Gefangenen damit beschäftigt waren, Gemüse zu putzen und in Scheiben oder Würfel zu schneiden, um es in einen Topf zu werfen, der aus dem Haus ins Freie geschafft worden war, fragte Mojeb Keloe: »Nun heraus mit der Sprache. Was habt ihr wirklich verbrochen?«

»Das hat sie dir doch schon verraten«, antwortete Tiugugu statt ihrer.

»Aber ich höre es so gern«, gab Mojeb zurück. »Am allerliebsten von ihr selbst.«

»Du glaubst mir doch nicht«, warf die Frau ein.

»Das muß nicht so bleiben«, meinte Mojeb gegen seine Oberzeugung. Es langweilte ihn, den Gefangenen beim Zubereiten des Abendessens zuzuschauen. Lieber wollte er sich noch mehr von ihren Schwindeleien anhören. »Vielleicht, wenn du mir ein paar Einzelheiten nennen würdest?«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Keloe so entschieden, als könnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen.

»Stell dich nicht so an«, meinte Mojeb. »Wir sind doch unter uns. Ich habe schon eine ganze Menge gehört und gesehen, und deine Helfershelfer werden ja wohl über eure Untaten bescheid wissen.«

»Wir sind nicht ihre Helfershelfer«, empörte sich Natanui. »Mataiu und ich waren nur zufällig in derselben Schenke. Wir haben nichts getan!«

»Welch eine Überraschung«, rief Mojeb mitfühlend und äffte dabei seine Stimme nach. »Doch im Herbst ist das Leben oft ziemlich ungerecht. Deshalb will ich dir glauben.«

»Es ist nicht Herbst«, widersprach Omaru.

Mojeb zwinkerte ihm zu und blickte Keloe erwartungsvoll an. »Alle wissen es doch längst. Was kann es schaden, darüber zu reden?«

»Darum geht es gar nicht«, fuhr sie ihn an. »Ich will nur nicht abermals bestraft werden. Einmal Hochverrat reicht mir.«

Mojeb stutzte: »Wenn du mir erzählst, was du ... was ihr verbrochen habt, dann begehst du Hochverrat?« Er fühlte sich seltsam, als alle um ihn herum todernst nickten.

»Ihr habt etwas gesagt, was ihr nicht sagen durftet?«

Abermals wurde genickt.

»Es wird nicht gleich ein Aufruf zum Königsmord gewesen sein«, grübelte Mojeb. »Sonst wäre man anders mit euch verfahren. Habt ihr vielleicht behauptet, der König hure sich durch sämtliche Betten Ikarillas?«

Keloe blickte ihn vorwurfsvoll an, Tiugugu hustete, und auf dem von den Gezeiten ausgewaschenen Gesicht Omarus erschien ein Lächeln. Mojeb verlor deswegen fair einen Augenblick den Faden. Er hätte nie erwartet, daß der Mann mit der tiefen Stimme zu solchen Gefühlsregungen fähig sein könne. Eigentlich paßte das Lächeln überhaupt nicht zu diesem Gesicht.

Mojeb riet weiter: »Oder vielleicht, daß er ein Drecksack, Hundsfott und Klötenbrezler sei?«

Das schien auch nicht die richtige Antwort zu sein.

»Der König hat viel gesehen«, gab ihm Tiugugu einen Hinweis.

»Er reist gern?« riet Mojeb.

Der kleine Mann schüttelte verneinend den Kopf.

»Er besitzt ein Fernrohr?«

Dieses Mal zuckte Tiugugu die Schultern und hob hilflos die Arme.

»Im Lauf der Zeit«, flüsterte Keloe. »Im Lauf der Zeit.«

»Im Lauf der Zeit hat der König viel gesehen?« murmelte Mojeb nachdenklich. »Wer nicht? Ich auch ... Er ist alt!«

Abermals nickten fünf Köpfe.

»So alt, daß er vielleicht gar nicht mehr sterben wird«, murmelte Omaru.

Nun verstand Mojeb alles. »Ihr sprachet darüber, ob er wohl bald sterben und endlich ein Nachfolger den Thron besteigen werde?«

Er wußte sofort, daß er richtig geraten hatte. Kopfschüttelnd faßte er zusammen, was er erfahren hatte: »Es ist also verboten, darüber zu tratschen, ob der König vielleicht morgen oder nächste Woche sterben könnte.« Schallend lachte er: »Einen solchen Unsinn habe ich lange nicht mehr gehört!«

»Läßt du uns jetzt gehen?« erkundigte sich Keloe eifrig.

»Gewiß nicht«, belehrte sie Mojeb. »Ich habe die Gesetze nicht erlassen, und als Rechtsgelehrter tauge ich schon gar nicht. Ich bewache Gefangene. Dafür wurde ich entlohnt. Ich würde auch Bäume strengstens bewachen, wenn euer König verböte, daß sie ihr Laub abwürfen. Jedenfalls, solange er dafür bezahlte. Gesetz ist Gesetz. Ich maße mir kein Urteil an, ob es unsinnig ist oder nicht. Das ist sowieso überall anders. Was hier verboten ist, ist woanders Pflicht. Wollte man alles abschaffen, was irgend jemand irgendwo unsinnig erscheint, dann gäbe es überhaupt keine Gesetze mehr. Ich könnte gut damit leben. Ihr vielleicht weniger. Ich Fände schnell eine neue Arbeit. Diese mache ich bloß, weil ich ... dringende Angelegenheiten ... zu erledigen hatte.«

»Unsinn«, widersprach Tiugugu. »Jemanden umzubringen wird bestimmt überall verboten sein.«

In gespieltem Entsetzen schlug sich Mojeb die Hand auf die Brust: »Huh! Das wollen wir doch nicht hoffen! Denn sonst müßte ich mir wirklich Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen.« Er kicherte und winkte dann seufzend ab. Diese Trauerklöße! Da war Hopfen und Malz verloren.

»Es ist ganz einfach«, sprach er weiter. »Wenn wir gegessen haben, werde ich euch für die Nacht einschließen, und morgen ziehen wir weiter. Irgendwo muß es einen Kerker geben, wo man euch aufnehmen kann.«

Das Traumbeben

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